Wehrmedizinische Monatsschrift

FLUGMEDIZIN UND ZAHNGESUNDHEIT

Juvenile Knochenzyste in der Mandibula bei einem Jetpiloten-Anwärter – Fallbericht

Claudia Lorenz a

a Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe, Fachgruppe II3 – Klinische Flugmedizin, Fürstenfeldbruck

 

 

 

Zusammenfassung

Solitäre Knochenzysten sind nicht-neoplastische ossäre Läsionen, die zu etwa 1 % die Maxilla oder Mandibula betreffen. Die Zysten innerhalb des Kiefers sind in der Regel symptomlos und werden daher meist als Zufallsbefund im Rahmen von dentalen radiologischen Untersuchungen entdeckt.

Die Kasuistik dokumentiert eine juvenile Knochenzyste im linken Ramus mandibulae eines 18-jährigen Kampfjetpiloten-Bewerbers. Die Diagnose wurde durch ­Magnetresonanztomografie (MRT) gestellt und mittels Digitaler Volumentomografie gesichert. Nach chirurgischer Kürettage und Einbringen von Knochenersatzmaterialien zeigte sich drei Monate postoperativ eine partielle Reossifikation. Der Patient war beschwerdefrei und konnte sein Bewerbungsverfahren fortsetzen.

Der Fall zeigt, dass solitäre Knochenzysten im Bereich der Mandibula zwar primär eine Wehrfliegerverwendungsfähigkeit ausschließen, diese jedoch nach operativer Sanierung wiederhergestellt werden kann.

Schlüsselworte: Knochenzyste, Kiefergelenk, Knochen­ersatz, Wehrfliegerverwendungsfähigkeit

Keywords: bone cyst, mandibular joint, bone substitution, fitness to fly

Hintergrund

Bei der einfachen oder juvenilen Knochenzyste handelt es sich um eine epithelialisierte, mit seröser Flüssigkeit gefüllte Höhle innerhalb von knöchernen Strukturen, deren Prädilektionsstelle vorwiegend in der Schulter oder Hüfte liegt. In 80 % der Fälle erfolgt die Diagnose im ersten oder zweiten Lebensjahrzehnt bei bislang unbekannter Ätiologie. Vor allem in Phasen des Körperwachstums zeigt die osteolytische Veränderung eine Tendenz zur Progredienz, wodurch wiederum Spontanfrakturen begünstigt werden.

Wir stellen den Fall eines jungen Mannes vor, bei dem im Rahmen der Untersuchung auf Wehrfliegerverwendungsfähigkeit (WFV) im MRT des Schädels1 als Zufallsbefund eine juvenile Knochenzyste im linken Ramus mandibulae. Neben der Vorstellung der erfolgreichen Behandlung in diesem Fall wird die flugmedizinsche Relevanz von ­Knochenzysten im Mund- und Kieferbereich erörtert.

Fallbericht

Anamnese und klinischer Befund

Ein 18-jähriger Luftfahrzeugführeranwärter (Jet) stellte sich im Rahmen der Untersuchung auf WFV im Fachbereich Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde des Zentrums für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe (ZentrLuRMedLw) vor.

Der zahnärztliche Befund ergab ein konservierend versorgtes, insgesamt unauffälliges Gebiss. Die oberen Weisheitszähne (18 und 28) waren vorhanden, die unteren (38 und 48) waren zwei Jahre zuvor extrahiert worden. Der Proband hatte nach eigenen Angaben weder Schmerzen noch Kaubeschwerden oder Taubheits­gefühle.

Bildgebende Verfahren

Bei der MRT-Untersuchung wurde im linken Ramus mandibulae des Corpus mandibulae anterior eine osteolytische Veränderung mit einer Ausdehnung von etwa 16 x 15 x 10 mm identifiziert (Abbildung 1).

Abb. 1: MRT-Befund bei WFV-Untersuchung:
(A): In der sagittalen Schichtung zeigt sich im aufsteigenden Ast des linken Kieferwinkels ein osteolytischer Prozess.
(B) Im Seitenvergleich (transversale Schichtung) wird das Ausmaß der Wucherung im Corpus mandibulae deutlich.

Um den Verlauf beurteilen zu können, wurden Röntgenbilder der letzten zehn Jahre herangezogen. Eine im Alter von 11 Jahren durchgeführte Panoramaschichtaufnahme (PSA) ließ keinerlei Osteolyse im linken Kieferwinkel erkennen. In einer im Alter von 14 Jahren angefertigten Aufnahme stellte sich jedoch im linken Kieferwinkel mesial des Canalis mandibulae eine osteolytische Veränderung mit einer Größe von etwa 6 x 5 mm dar (Abbildung 2).

Abb. 2: Panoramaschichtaufnahmen des Probanden: (A) Im Alter von 11 Jahren zeigt der linke Kieferwinkel einen Normalbefund bei aktuellem Wechselbebiss. (B) Die Aufnahme mit 14 Jahren (Verlaufskontrolle einer kieferorthopädischen Behandlung mit multiplen Artefakten durch Entwicklungsfehler). Im linken Ramus mandibulae ist die osteolytische Veränderung mesial des Canalis mandibulae erkennbar.2

Zur exakteren Beurteilung der knöchernen Strukturen wurde dem Probanden die Durchführung einer digitalen Volumentomographie (DVT) des linken Kiefers angeraten. Die DVT-Bilder bestätigten einen scharf begrenzten osteolytischen Prozess mit zum Teil betroffener Spongiosa (Abbildung 3) bei unveränderter Größe im Vergleich zur MRT-Bildgebung zu Beginn des Monats.

Abb. 3: Digitale Volumentomographie des linken Kieferwinkels: Das gelbe Kreuz markiert die Knochenzyste anterior des Canalis mandibulae. Nach lateral ist die Spongiosa signifikant ausgedünnt.2

Diagnose

Der klinische Befund zusammen mit den Bildgebungen erhärtete den Verdacht einer progredienten solitären Knochenzyste. Bei bereits ausgedünnter Spongiosa bestand zudem akute Frakturgefahr.

Flugmedizinische Bewertung

Es erfolgte ein interdisziplinäres Konsil zwischen den Dezernaten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Radiologie und Orthopädie sowie dem Leiter der Fachgruppe II 3 (Klinische Flugmedizin) des ZentrLuRMedLw. Im Ergebnis wurde die WFV aufgrund der signifikanten flugmedizinischen Relevanz gemäß Bereichsvorschrift A1-831/0-4008, Nr. 289 wegen eines ausgedehnten osteolytischen Prozesses im Kieferbereich vorübergehend nicht erteilt. Dezernat II 3 i (Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde) empfahl die histologische Abklärung des Befundes und die zeitnahe chirurgische Sanierung inklusive Insertion eines Spongiosablocks. Dem Probanden wurde die Option eröffnet, sich nach abschließender Einheilung nach mindestens drei Monaten unter Vorlage der postoperativen Röntgenbilder sowie des Operationsberichts erneut auf WFV untersuchen zu lassen.

Therapie

Einige Wochen nach der Untersuchung erfolgte komplikationslos die operative Exkochleation der Knochenzyste inklusive Insertion alloplastischen Materials in einer Praxis für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie. Eine histologische Untersuchung erfolgte nicht.

Nachuntersuchung und Beurteilung

Die drei Monate postoperativ angefertigte radiologische Aufnahme zeigte eine noch nicht vollständig abgeschlossene Reossifikation, was einem physiologischen Verlauf entsprach (Abbildung 4). Die Füllung des Knochenhohlraums mit Hilfe von Knochenersatzmaterialien wurde als suffiziente und zielführende Maßnahme zur Sicherung der Knochenstabilität eingestuft, sodass die Wehrfliegerverwendungsfähigkeit nun gegeben war. Aufgrund der Gefahr eines Lokalrezidivs sind regelmäßige klinische Kontrollen für die nächsten fünf Jahre sowie – vor Beginn der fliegerischen Ausbildung – eine erneute radiologische Bildgebung indiziert. 2

Abb. 4: - Panoramaschichtaufnahme drei Monate postoperativ: Es zeigt sich ein adultes dentales Gebiss bei fehlenden unteren Weisheitszähnen. Im linken Kieferwinkel ist – bei Zustand nach Entfernung der Knochenzyste und Insertion alloplastischen Materials – die Reossifikation partiell abgeschlossen.2

Diskussion

Epidemiologisch sind männliche Patienten von einer solitären Knochenzyste mit einer Disposition von 1,4 : 1 häufiger betroffen als weibliche. Die Möglichkeit der Spontanremission ist bis zum 20. Lebensjahr gegeben und kann bei Symptomfreiheit und gleichbleibender Größe bis dahin abgewartet werden. Bei rascher Progredienz ist die chirurgische Therapie jedoch zu priorisieren. Intraoperativ gestaltet sich die Materialentnahme zur histologischen Abklärung oftmals als schwierig, da die Zysten teilweise ungefüllt sind. Wenn bei der Operation das Epithel der Zystenwand nicht sorgfältig und vollständig entfernt wird, begünstigt dies die Entstehung von Rezidiven.

Flugmedizinische Relevanz

Das Risiko von Frakturen beim Fliegen ist im Zusammenhang mit Erschütterungen und Vibrationen bei bereits ausgedünntem Knochen zweifellos erhöht. Beim Fliegen in High-Performance-Aircraft (Jet) kommen insbesondere bei Luftkampf-Manövern beschleunigungsbedingte Belastungsspitzen mit Pressatmung und Bruxismus hinzu, die das Frakturrisiko zusätzlich erhöhen.

Bei fortschreitender Größenzunahme von osteolytischen Prozessen in der Nähe von neuronalen und arteriellen Strukturen besteht zudem die Gefahr von Hypästhesien des N. alveolaris inferior, N. lingualis sowie des N. facialis und einer Minderperfusion der A. alveolaris inferior. Dies kann zum einen Taubheitsgefühle im Bereich der Zähne, Zunge und des Gesichts hervorrufen und somit die Kommunikation durch Mikrofone im Flugbetrieb erschweren. Zum anderen können Durchblutungsstörungen des Unterkiefers ipsilaterale dentale Schmerzen erzeugen, die mit zunehmender Höhe oder schnellem Abstieg unerträglich werden und die Konzentrations­fähigkeit massiv beeinträchtigen könnten.

Die genannten Punkte führten im Ergebnis richtlinienkonform zur Untauglichkeit für fliegerische Verwendungen. Ein Antrag auf Sondergenehmigung hätte aufgrund der im Vergleich zur zivilen Luftfahrt höheren Anforderungen an die Belastbarkeit in der Militärfliegerei keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Die operative Behandlung war somit aus flugmedizinischer zahnärztlicher Sicht die einzige zielführende Maßnahme, um dem Bewerber die Option einer fliegerischen Verwendung offen zu halten und ihn für die von ihm angestrebte Verwendung zu gewinnen.

Fazit

Mit Hilfe von komplexen Untersuchungsmethoden, die am Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe zur Anwendung kommen, ist es möglich, fliegerische Beeinträchtigungen und potenzielle Risiken bei einem Probanden zu identifizieren und ein individuelles Eignungsprofil für jeden Bewerber zu erstellen. Dies kann nur im Rahmen einer intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit gelingen, an der alle am ZentrLuRMedLw vorhandenen Fachbereiche beteiligt sind.

Im hier vorgestellten Fall stehen die Chancen gut, dass der ehemalige „Patient“ seine fliegerische Ausbildung in Kürze beginnen kann.

Literatur

  1. Erlemann R: MRI morphology of bone tumors and tumor-like lesions. Der Radiologe 2010; 50(1): 61-82. mehr lesen
  2. Freyschmidt J: Skeletterkrankungen. Klinisch-radiologische Diagnose und Differenzialdiagnose. Berlin – Heidelberg – New York: Springer 2008 (3. Auflage).
  3. Hipfl C, Schwabe P; Märdian S; Melcher I; Schaser KD: Benign cystic bone lesions. Der Unfallchirurg 2014; 117(10): 892-904. mehr lesen
  4. Müller-Koelbl I, Foernzler A, Brauer HU: Solitäre Knochenzyste und überzähliger Zahn, lokalisiert mit digitaler Volumentomografie – Ein Fallbericht. ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2010; 119(11): 564-568. mehr lesen
  5. Sagheb K; Walter C: Multiple solitäre Knochenzysten des Unterkiefers - Differenzialdiagnosen der Pseudozysten des Kieferknochens. zm online 2012; 2/2012: 44-46. mehr lesen
  6. Weber M, Hillmann A: Bone cysts - -differential diagnosis and therapeutic approach. Der Orthopäde 2018; 47(7): 607-618. mehr lesen

Manuskriptdaten

Zitierweise

Lorenz C: Juvenile Knochenzyste in der Mandibula bei einem Jetpiloten-­Anwärter – Fallbericht. WMM 2019; 63(12): 425-427

 

Verfasserin

Oberstabsarzt Claudia Lorenz

Zentrum für Luft und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe

Fachgruppe II 3 – Klinische Flugmedizin

Straße der Luftwaffe 322, 82256 Fürstenfeldbruck

E-Mail: claudia2 lorenz@bundeswehr.org


1 Bei Erstbewerben für den fliegerischen Dienst erfolgen im Rahmen der Untersuchung auf WFV MRT-Untersuchungen des Schädels (z. B. Erkennen von Zysten, Aneurysmen und anderen Strukturveränderungen, die die WFV ausschließen) und der Wirbelsäule (Erkennen von Formveränderungen z. B. der Bandscheiben, die bei hohen Belastungen symptomatisch werden können).

2 Angaben zur Bildquelle liegen dem Verfasser vor.