Wehrmedizinische Monatsschrift

Auswirkungen des Terroranschlags 2016 in Berlin auf die ­Einsatzkräfte und Ableitungen für Vor- und Nachsorgemaßnahmen

Ulrich Wesemanna, Antje Bühlera, Manuel Mahnkea, b, Sarah Polkc, Béatrice Gähler-Schwabd, Gerd Willmunda

a Psychotraumazentrum, Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Deutschland

b Feuer- und Rettungswache Wedding, Freiwillige Feuerwehr, Berlin, Deutschland

c Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, Deutschland

d Bern University of Applied Sciences, Schweiz


Hintergrund

Terroranschläge und Amokläufe sind auch in den Industrienationen keine Ausnahmeerscheinungen. Die psychischen Reaktionen von exponierten Einsatzkräften auf einen Terroranschlag sind bisher nur selten untersucht worden. Um die tatsächlichen Auswirkungen dieser Ereignisse bestimmen zu können, wäre ein generelles Screening bereits zu Ausbildungsbeginn notwendig.

Unter dem Ansatz der „Psychological Fitness“ planen die deutschen Streitkräfte ein regelmäßiges Screening. Hier sollen vor allem Resilienzfaktoren identifiziert werden, die dann direkt in Vor- und Nachbereitungen für Auslandseinsätze einfließen. Mit CHARLY gibt es bereits ein computergestütztes zielgruppenspezifisches Präventionsprogramm zur Einsatzvorbereitung. Es handelt sich dabei um ein blended learning Programm, das seine spezifisch präventive Wirkung gegen Posttraumatische Belastungsstörungen und zur Antistigmatisierung psychischer Störungen nachweisen konnte. Die Bandbreite psychischer Reaktionen auf ein traumatisches Ereignis ist jedoch weitaus größer, so dass ein einseitiges, nur auf eine Störung ausgerichtetes Programm, weder für zivile noch militärische Einsatzkräfte als ausreichend erscheint.

Um diese Bandbreite zu erfassen, wurde nach dem Terroranschlag in Berlin Breitscheidplatz eine Pilotstudie durchgeführt. Es zeigten sich bei weiblichen Einsatz­kräften höheres Stresserleben und mehr paranoide Gedanken, höhere Feindseligkeit und Aggression der Polizeiangehörigen sowie geringere Lebensqualität der Feuerwehrkräfte in Umwelt und körperlichem Wohlbefinden. In der jetzigen Studie soll getestet werden, ob sich die Ergebnisse replizieren lassen und welchen Verlauf es über zwei Jahre gibt.

Abb. 1: Zahlreiche Kerzen auf der Treppe der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin zeugen auch heute noch von dem Attentat im Jahre 2016; sie zeigen auch, dass die Erinnerung an das Ereignis bei vielen Menschen noch wach ist und nachwirkt – so auch bei den damals eingesetzten Rettungs- und Polizeikräften.

Methode

Eingeschlossen wurden Einsatzkräfte, die beim Terroranschlag in Berlin Breitscheidplatz eingesetzt waren. Als Vergleichsgruppe wurden Einsatzkräfte der gleichen Einheiten eingeschlossen, die nicht bei dem Einsatz beteiligt waren. Die erste Erhebung fand 3 bis 4 Monate nach dem Terroranschlag statt, die zweite 18 bis 21 Monate später. Insgesamt nahmen N = 120 Einsatzkräfte teil, davon 60 der Einsatz- und 60 der Vergleichsgruppe. Die Erhebung bestand aus einem Fragebogenpaket mit einem biographischen Teil, dem Stressmodul des Patient Health Questionnaire (PHQ-D), dem WHO Quality of Life Fragebogen (WHOQOL-BREF) zur Erfassung der Lebensqualität sowie dem Brief Symptom Inventory (BSI) zur Erhebung paranoiden Denkens.

Mittels Regressionsanalysen wurde getestet, ob sich die in der Vorstudie gefundenen Ergebnisse replizieren lassen. Die Verlaufsmessung wurde per ANOVA mit Messwiederholung durchgeführt.

Ergebnisse

In der exponierten weiblichen Gruppe gab es einen signifikanten Einfluss von Geschlecht auf Stress und auf paranoides Denken. Weibliches Geschlecht war dabei jeweils mit höheren Werten assoziiert. Die exponierten Polizeikräfte zeigten höhere Feindseligkeit und Aggression. Die Zugehörigkeit zur Feuerwehr der EG hatte einen signifikant negativen Einfluss auf die umweltbezogene Lebensqualität. Der Einfluss von „Feuerwehr“ auf physische Lebensqualität ließ sich hingegen nicht replizieren. Bis auf den Zusammenhang von Stress und weiblichen Geschlecht waren alle Ergebnisse auch noch 2 Jahre nach dem Anschlag signifikant.

Bei den exponierten weiblichen Einsatzkräften gab es einen Geschlecht- und Zeit-Interaktionseffekt beim paranoiden Denken. Paranoides Denken nahm hier im Vergleich zu den anderen Studienteilnehmergruppen signifikant weiter zu.

Schlussfolgerungen

Abb. 2: Die 7 Phasen des CISD (unten) zeigen deutlich den emotionalen Tiefpunkt („Reaction“) bei den Beteiligten, der durch den Übergang zur „Symptoms“ Phase schlagartig überwunden wird. Dies entspricht der Aufrechterhaltung und langfristigen Verstärkung der Symptomatik, wie dies bei der oberen Graphik in der Kurve „Vermeidung“ der negativen Verstärkung dargestellt ist.

Der Zusammenhang von Stress und Geschlecht bei kritischen Ereignissen ist in internationalen Studien weitgehend konsistent, der Einfluss von weiblichem Geschlecht auf paranoides Denken nach Terroranschlägen oder Katastrophen findet sich jedoch seither nicht in anderen Studien. Belästigungen von Frauen sind in von Männern dominierten Berufen häufiger, was die Anfälligkeit für paranoide Gedanken erhöhen könnte. Die Theorie des „Tokenism“ sagt Geschlechterstereotype und Belästigung in Organisationen voraus, in denen Frauen unterrepräsentiert sind. Diese Theorie scheint für Einsatzkräfte und Militär von besonderer Relevanz zu sein.

Ebenfalls neu ist der berufsgruppenspezifische Einfluss von „Polizei“ auf Feindseligkeit und Aggression nach einem Terroranschlag. Aufgrund des unterschiedlichen Einsatzspektrums ist es nachvollziehbar, dass Polizistinnen und Polizisten im Vergleich zu Professionen, die sich nicht mit Tätern sondern Opfern beschäftigen, aggressiver reagieren. Dennoch sollte sich dies nach diesem zeitlichen Abstand relativiert haben. Eventuell lassen sich aus dem Ergebnis bessere Trainingsmöglichkeiten ableiten.

Der Berufsstatus Feuerwehr hatte einen negativen Einfluss auf die umweltbezogene Lebensqualität. Dies wird darauf zurückgeführt, dass Feuerwehrleute nach einem vorsätzlich herbeigeführten Großschadensereignis stärker auf diese Aspekte fokussiert sind.

Die Ergebnisse legen nahe, dass die Einsatznachbereitung nicht optimal verläuft. Ein Großteil dieser Problematik wird auf die nicht mehr zeitgemäße Krisenintervention des Critical Incident Stress Management (CISM) zurückgeführt. Hier wurden deutlich negative Effekte gefunden. Diese schädliche Wirkung wird bereits in der Konzeption des CISM gesehen. Als Gründe wurde unter anderem „negative Verstärkung“ bei dem Critical Incident Stress Debriefing genannt. Ebenfalls kommen, obwohl dies explizit ausgeschlossen wird, unzulässiger Weise psychotherapeutische Verfahren wie „Expositionen in Sensu“ zum Einsatz. Diese Maßnahmen werden im Gros von nicht dafür qualifiziertem Personal ohne Approbation durchgeführt.

Aufgrund dieser Mängel in Einsatzvor- und nachbereitung liegt das weiterführende Ziel darin, die spezifischen Belastungen in sich anschließenden Untersuchungen systematisch für die Berufsgruppen und Geschlechter zu erheben und mit Belastungen nicht vorsätzlich herbeigeführter Kalamitäten zu vergleichen. Beim Militär wären dies entsprechend Unfälle im Inland beziehungsweise Anschläge oder Kampfhandlungen im Auslandseinsatz. Dafür wurde bereits ein Ethikvotum eingeholt und mit der Datenerhebung im zivilen Bereich begonnen. Langfristig sollen aus den Ergebnissen möglichst spezifische Präventions-, Interventions- und gesundheitsfördernde Maßnahmen abgeleitet und implementiert werden. Gerade hier scheint die Notwendigkeit aufgrund der Ergebnisse noch sehr hoch zu sein. Die Einführung zeitgemäßer Kriseninterventionsmaßnahmen und die spezifischere Einsatzvorbereitung der Truppengattungen werden dabei vorrangig betrachtet.

Manuskriptdaten

Zitierweise

Wesemann U, Bühler A, Mahnke M, Polk Sc, Gähler-Schwab B, Willmund G: Auswirkungen des Terroranschlags 2016 in Berlin auf die Einsatzkräfte und Ableitungen für Vor- und Nachsorgemaßnahmen (Vortrags-Abstract).WMM 2020; 64(1): 46-47.

Für die Verfasser

Dr. Ulrich Wesemann,

Psychotraumazentrum Bundeswehrkrankenhaus Berlin

Scharnhorststr. 13, 10115 Berlin

E-Mail: uw@ptzbw.org

Vortrag beim 50. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. in Leipzig, 11. Oktober 2019