WIRBELSÄULE IM FOKUs
Wehrfliegerverwendungsfähigkeit (JET)
nach Wirbelsäulentrauma – ein Fallbericht
Torsten M. Pippiga
a Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe, Fürstenfeldbruck
Einleitung
Militärische Luftfahrzeugführer (LFF) müssen für ihre Verwendung die volle Gebrauchsfähigkeit von Rumpf und Extremitäten besitzen und können und dürfen bei akuten und chronischen Erkrankungen oder Verletzungsfolgen nicht im militärischen Flugdienst eingesetzt werden. Besonders JET-LFF sind erheblichen physischen Belastungen ausgesetzt. Nicht nur die Belastungen – v. a. Einwirken von Beschleunigungskräften (+ Gz, G-onset) – im Flugdienst sind bei der flugmedizinischen Beurteilung zu berücksichtigen, auch der sichere Gebrauch der Rettungssysteme (Schleudersitz, Fallschirm) ist zu beachten.
Deshalb stehen bei Piloten in modernen Luftfahrzeugen Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule im Zentrum der fachorthopädischen-flugmedizinischen Begutachtung.
Fallbericht
Es wird über einen JET-Einsatzpiloten und späteren Fluglehrer der Lufwaffe berichtet, welcher sich von 1994 bis 2018 in regelmäßiger fliegerärztlicher und fachorthopädischer Betreuung befand.
Erstuntersuchung 1994
Im Alter von 18 Jahren erfolgte 1994 die Erstuntersuchung auf Wehrfliegerverwendungsfähigkeit (WFV). Neben der anthropometrischen Vermessung und der fachorthopädischen Untersuchung erfolgte – damals richtlinienkonform – eine Röntgen-Untersuchung der gesamten Wirbelsäule. Der asymptomatische Bewerber wurde als „wehrfliegerverwendungsfähig“ („wfv“) für alle militärischen Luftfahrzeuge (Lfz) beurteilt. Er wurde zum LFF auf dem Luftfahrzeug F-4F Phantom II ausgebildet.
Sonderuntersuchung 2005
Im Alter von 29 Jahren – nach 1 100 Flugstunden ohne Wirbelsäulenbeschwerden – erfolgte 2005 für seine geplante Verwendung als LFF auf dem EF-2000 Eurofighter richtlinienkonform eine fachorthopädische-anthropometrische Sonderuntersuchung und eine MRT-Untersuchung der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule/Becken (HWS, BWS, LWS). Bei dem beschwerdefreien LFF wurden die HWS und BWS als unauffällig beschrieben (= normal), die Zwischenwirbelscheibe LWK5/SWK1 zeigte eine Minderung der Signalintensität (= Chondrose) und eine dorsale Bandscheibenverlagerung/breitbasige Protrusion (= abnormer Befund ohne klinische Relevanz). Die Verwendung als LFF EF-2000 wurde erlaubt. Bis März 2011 gab es keine orthopädischen Probleme bei der Umschulung und später bei der Verwendung als Einsatzpilot.
Erste Erkrankung 2011
Anfang 2011 klagte der LFF ohne erkennbaren Anlass über plötzliche Schmerzen im linken Oberschenkel und beidseits gluteal; er gab keine Rückenschmerzen, keine senso-motorischen Beschwerden oder Defizite im Bereich der unteren Extremitäten an. Im Frühjahr 2011 wurde eine MRT der LWS in einem zivilen Krankenhaus durchgeführt mit dem Befund (Abbildung 1):
„Beurteilung: Großer sequestrierter Bandscheibenvorfall dorsal… wahrscheinlich geht der Sequester von der Bandscheibe LWK5/SWK1 aus.“
Abb. 1: MRT 1T LWS (t2-w), sagittal (a) und axillar (b) mit großem sequestrierten Bandscheibenvorfall dorsal
Zwei anschließende neurochirurgische Untersuchungen ergaben keine absolute OP-Indikation.
Im Mai 2011 erfolgte die Sonderuntersuchung in der damaligen Fachgruppe Orthopädie/Anthropometrie des Flugmedizinischen Institutes der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck. Der LFF war am Untersuchungstag beschwerdefrei, keine Entfaltungsstörung der LWS, keine senso-motorischen Defizite im Bereich der unteren Extremitäten. Mit dem LFF wurde das weitere Procedere besprochen:
„Die WFV ist vorübergehend nicht gegeben, eine REHA-Maßnahme wurde empfohlen (und auch durchgeführt), der weitere Verlauf ist abzuwarten.“
Bei der Zwischenuntersuchung, 3 Monate nach der linksseitig aufgetretenen Ischialgie, war der LFF weiterhin beschwerdefrei. Bei der 6 Monate nach Auftreten der Ischielagie durchgeführten Zwischenuntersuchung auf WFV erfolgte neben der fachorthopädischen Untersuchung eine MRT der LWS. Der „große“ Sequester aus der Bandscheibe LW5/SW1 hatte sich vollständig resorbiert (Abbildung 2).
Abb. 2: MRT 1T LWS (t2-w): der Sequester in Höhe von LW5/SW1 ist vollständig resorbiert.
Der beschwerdefreie LFF wurde wieder als „wfv“ begutachtet und die ersten Flüge auf dem EF-2000 Eurofigther sollten unter engmaschiger Beobachtung des Fliegerarztes durchgeführt werden. Nach dem 5. Flug erfolgte die fliegerärztliche Stellungnahme: „Der LFF ist im Flugdienst völlig beschwerdefrei.“ Bei den folgenden fachorthopädischen Untersuchungen 2012 und 2013 war der LFF weiterhin beschwerdefrei, die MRT-Bilder zeigten keine Progression der Chondrosen der Lumbalsegmente LW4/LW5 und LW5/SW1.
2014 wurde der LFF in die USA als Fluglehrer versetzt.
Wirbelfraktur 2015
Anfang 2015 (im 39. Lebensjahr) stürzte der nun als Fluglehrer tätige LFF in den USA mit dem Motorrad. Er beklagte zunächst keine Wirbelsäulenbeschwerden, entwickelte einige Stunden später gegen Abend dann Steifigkeit der LWS und Hartspann der lumbalen Rückenstrecker, aber ohne senso-motorische Beschwerden im Bereich der unteren Extremitäten.
Noch in der Nacht wurde in einem regionalen Spine Center in Texas eine CT der LWS durchgeführt (Abbildung 3); der Befund lautete:
„Minimally displaced fracture through the anterior aspect of the inferior endplate of L3. No extension to the posterior wall of the vertebral body of the posterior elements.”
Abb. 3: Das seitliche LWS-CT zeigt im Februar 2015 einen unteren Kantenabbruch des 3. Ledenwirbelkörpers.
Nach Rücksprache mit dem Leiter des Fachdezernats II 3e (Orthopädie/Anthropometrie) des Zentrums für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe (ZentrLuRMedLw), dem Fliegerarzt des Verbandes, dem LFF sowie mit den Neurochirurgen in Texas und im Bundeswehrzentralkrankenaus Koblenz wurde eine konservative Behandlung eingeleitet: 12 Wochen Korsett und Röntgen-Kontrollen in der 4., 8. und 12. Woche nach Unfall.
Nach Korsettentwöhnung und Feststellung der Reisetauglichkeit durch den Neurochirurgen in Texas erfolgte im Sommer 2015 die Sonderuntersuchung im ZentrLuRMedLw, Fachdezernat II 3e, mit MRT-Nachuntersuchung der LWS (Abb. 4), deren Ergebnis lautete:
„... im Vergleich zeigt sich die bekannte Vorderkantenabsprengung des LWK 3 in unverändert ventrocranial disloziert dar. Kein Anhalt für eine frische Fraktur oder Frakturausdehnung, keine Frakturheilungsstörung…“
Abb. 4: Das MRT der LWS von Mai 2015 (3 Monate nach dem Unfall) zeigt unverändert die ventrocranial dislozierte Vorderkantenabsprengung des LWK 3 ohne Zeichen einer Frakturausdehnung oder -heilungsstörung. (a: sag t2-w, b: sag t1-w, c: sag stir)
Die körperliche Untersuchung war regelrecht, keine Entfaltungsstörung der LWS, reizfreie und gut trainierte Rumpfmuskulatur, keine senso-motorischen Defizite im Bereich der unteren Extremitäten. Der beschwerdefreie Fluglehrer wurde als „wfv“ beurteilt. Gleichzeitig wurde die zivile Fliegertauglichkeit der Klasse 1 erteilt. Eine Verweisung des LFF an die Genehmigungsbehörde (LBA Braunschweig) war nicht notwendig, da keine funktionellen Folgen der LWS-Verletzung vorlagen. Die ersten Flüge (solo) sollten unter engmaschiger Beobachtung durch den Fliegerarzt des Verbandes durchgeführt werden. Nach dem 5. Flug berichtete der Fliegerarzt in den USA: „Der Fluglehrer ist im Flugbetrieb völlig beschwerdefrei.“
Planmäßiger “Abschluss der fliegerischen Laufbahn
Im Jahre 2016 beendete der LFF seine Tätigkeit als Fluglehrer in den USA (Berufsoffizier mit der besonderen Altersgrenze 41 Jahre, BO41), kehrte nach Deutschland zurück und ist bis heute Simulatorlehrer EF-2000 Eurofigther (zivile Verwendung). Bei den fachorthopädischen Nachuntersuchungen 2016, 2017 und 2018 war der LFF seitens der LWS anhaltend beschwerdefrei. 2018 erfolgte auch eine MRT-Nachuntersuchung der LWS mit gegenüber 2015 weitgehend unverändertem Befund.
Zusammenfassung und Fazit
Der im Fallbericht vorgestellte militärische LFF konnte wegen einer Bandscheibenerkrankung und einer Wirbelsäulenverletzung in seiner fliegerischen Karriere von 1996 bis 2016 für insgesamt 9 Monate nicht als Pilot bzw. Fluglehrer eingesetzt werden. Umfangreiche diagnostische und therapeutische Maßnahmen, aber auch die gutachterlichen Entscheidungen nach sorgfältigem flugmedizinischem Risk-Assessment, haben es ermöglicht, dass er 2016 nach insgesamt 2 765 Flugstunden seine reguläre fliegerische Karriere beenden konnte.
Dieser erfahrene LFF steht der Luftwaffe als ziviler Simulatorlehrer weiterhin zur Verfügung und kann seine persönlichen Erfahrungen – auch mit der flieger- und fachärztlichen Betreuung durch die Angehörigen des fliegerärztlichen Dienstes am ZentrLuRMedLw und in den Verbänden – an junge Pilotinnen und Piloten weitergeben.
Literatur beim Verfasser
Manuskriptdaten
Zitierweise
Pippig TM: Wehrfliegerverwendungsfähigkeit (JET) nach Wirbelsäulentrauma – ein Fallbericht. WMM 2020; 64(5): 191-194.
Verfasser
Oberstarzt Dr. Torsten M. Pippig
Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe
Dezernat II 3e – Orthopädie, Anthropometrie
Straße der Luftwaffe 322, 82256 Fürstenfeldbruck
E-Mail: torstenpippig@bundeswehr.org
Der Fall wurde in dem Beitrag „Pippig T: Über die Lendenwirbelsäule eines Jetpiloten der Bundeswehr. Flug u Reisemed 2020; 27: 8-9.“ bereits einmal vorgestellt.