Wehrmedizinische Monatsschrift

Zur Einsatzrelevanz neurochirurgischer Fachkenntnis vor Ort:
Gefechtsbedingte neurotraumatologische Verletzungsmuster
in Afghanistan 2014 und 2018 (Vortrags-Abstract)

Benjamin Harlass a, Heinrich Weßling a

a Bundeswehrkrankenhaus Westerstede, Klinik XII – Neurochirurgie

 

Hintergrund

Im Rahmen des Mandats Resolute Support 1 (RS) wurde die ehemalige deutsche Role 3-Einrichtung in Masar-e Scharif (Afghanistan) auf eine Role 2e reduziert. Es ist seitdem unter anderem kein Neurochirurg mehr vor Ort; die Versorgung auch komplexester neurotraumatologischer Verletzungsmuster obliegt damit dem jeweiligen Einsatzchirurgen mit gegenüber einer Role 3 reduziertem Materialansatz. Einer der Autoren befand sich im Rahmen des BAT 2 -Pool 2018 für RS in Afghanistan, der andere als Facharzt für Neurochirurgie im Rahmen des ISAF-Einsatzes 2012 und 2014.

Anhand von vier neurotraumatologischen Kasuistiken aus Einsätzen in Afghanistan (ISAF, Role 3) und 2018 (RS, Role 2e) sollen mögliche Auswirkungen des ­Wegfalls der neurochirurgischen Expertise vor Ort für das Outcome in der Patientenversorgung aufgezeigt werden.

Fallbeschreibungen

Fall 1 (2018)

Ein Sergeant der afghanischen Spezialkräfte erlitt im Rahmen eines Einsatzes im August 2018 ein penetrierendes Schädelhirntrauma durch Schrapnell und wurde nach Masar-e Scharif in die deutsche Role 2e-Einrichtung verlegt. Es wurde eine invasive Hirndruckmessung (ICP-Messung) indiziert. Da im Rahmen der Reduktion des Fähigkeitsspektrums keine ICP-Sonden mehr zur Verfügung standen, wurde eine ICP-Messung durch Anlage einer externen Ventrikeldrainage (EVD) improvisiert. Der Patient wurde bei stabilem ICP am nächsten Tag in die amerikanische Role 3 auf die Bagram Air Base verlegt.

Fall 1 (von links nach rechts):
– axiales cCT: nah am Sinus sagittalis superior rechts gelegenes Schrapnell mit traumatischer Subarachnoidalblutung und Hirnödem
– axiales cCT: für das Alter und das traumatische Hirnödem typische Schlitzventrikel
– CT Angio aus Bagram mit orthotoper Lage der eingebrachten EVD rechts fronta

Fall 2 (2014)

Ein afghanischer Polizist erlitt eine Verletzung der Torkula Herophili aufgrund eines IED-Anschlags 2014. Es bestand eine unstillbare venöse Blutung aus dem Hinterkopf. Der Patient wurde fachneurochirurgisch mittels Duraplastik und suboccipitaler Craniektomie versorgt und überlebte die Verletzung ohne Defizite.

Fall 2 (von links nach rechts):
– präoperative Eintrittswunde des Fremdmaterials mit unstillbarer venöser Blutung
– axiales cCT: Knochenfenster; Fremdkörper okzipital gut erkennbar
– postoperative Rekonstruktion der osteoklastischen Craniotomie

Fall 3 ( 2018)

Ein afghanischer Polizist erlitt durch eine SchussverletzungFrakturen der oberen BWS mit Hämatothorax und Myelonverletzung sowie klinisch komplettem Querschnittssyndrom 2018. Eine Versorgung der spinalen Pathologie war aufgrund fehlenden Materials und fehlender fachlicher Expertise nicht möglich. Nach Versorgung des Hämatothoraxs in der Role 2 wurde der Patient zur weiteren Behandlung in die Role 3 auf das Bagram Air Field verlegt.

Fall 3:
– sagittales CT der BWS (links): Schussverletzung mit instabilen Frakturen der BWS
– axiales CT der BWS (rechts): Das Projektil und der zerstörte Brustwirbelkörper sind erkennbar.

Fall 4 (2014)

Ein afghanischer Soldat erlitt eine LWK 1-Fraktur mit resultierender Spinalkanalstenose, Reithosenanästhesie und distal betonter Paraparese nach einem Verkehrsunfall 2014. Der Patient wurde neurochirurgisch mittels ­Laminektomie LWK 1, spinaler Duraplastik einer ventralen Läsion und dorsaler Spondylose BWK 12 auf LWK 1 versorgt.

Fall 4: Präoperative Planung der Schrauben-Stab-Osteosynthese (links), postoperative orthotope Fremdmateriallage (Mitte und rechts).

Diskussion und Fazit

Auch wenn es im Einsatz bei deutschen Soldatinnen und Soldaten insgesamt selten zu neurotraumatologischen Notfällen gekommen ist, sind diese im Falle ihres Auftretens mit gravierenden Konsequenzen für die Lebensqualität der/des Betroffenen verbunden. Oft handelt es sich um komplexe Verletzungen, deren adäquate Versorgung fachärztliche Expertise erfordern würde und die in vielen Fällen zeitkritisch in der Versorgung sind. Mit dem aktuell im Einsatzland in einer ROLE 2e-Einrichtungen vorgehaltenen Ausrüstung sind komplexe neurotraumatologische Verletzungen nicht adäquat zu versorgen.

Im Falle einer steigenden Intensität des Einsatzes ist es aus Sicht der Autoren notwendig, den aktuellen Personal- und Materialansatz im Sinne der sanitätsdienstlichen Maxime zu überprüfen.

Manuskriptdaten

Zitierweise

Harlass B, Weßling H: Zur Einsatzrelevanz neurochirurgischer Fachkenntnis vor Ort: Gefechtsbedingte neurotraumatologische Verletzungsmuster in Afghanistan 2014 und 2018. WMM 2020 (Vortrags-Abstract); 64(6-7): 229-231.

Für die Verfasser

Oberstabsarzt Dr. Benjamin Harlass

Bundeswehrkrankenhaus Westerstede

Klinik XIV – Neurochirurgie

Lange Str. 38, 26655 Westerstede

E-Mail: benjamin.harlass@bwk-westerstede.de

Als Vortrag gehalten bei der 27. ARCHIS (29.-31. Januar 2020) in Papenburg.


 

1 Resolute Support ist eine am 1. Januar 2015 begonnene NATO-Mission zur Ausbildung und Beratung sowie Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte als Folgemission des am 31. Dezember 2014 beendeten Einsatzes der International Security Assistance Force (ISAF)

2 BAT=Beweglicher Arzttrupp