Wehrmedizinische Monatsschrift

IMPLANTATE ZÜGIG VERSORGEN

Kieferorthopädische Zahnbewegung führt zum
Knochenverlust am Implantat – ein Fallbericht

Marcus Schiller a, Ulf Neblung b, Philipp Jehn c, Constantin von See d 1

a Sanitätsversorgungszentrum Seedorf

b Neblung-Dentallabor, Zeven

c Medizinische Hochschule Hannover, Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie

d Danube Private Universität, Krems an der Donau; Österreich

 

Zusammenfassung

Der Einsatz der Kieferorthopädie zur Veränderung der Zahnstellung ist ein etabliertes Verfahren auch bei Soldaten in der Bundeswehr. Unterschiedliche Mechanismen sind für den Umbau der beteiligten Strukturen verantwortlich. Knochenauf- und abbau erfolgen simultan und zeitgleich verändert sich ebenfalls der Faserapparat. Dabei werden kontrollierte Kräfte eingesetzt, um Nebenwirkungen zu vermeiden.

Wirken diese Kräfte in direkter Nachbarschaft zu einem dentalen Implantat ein, stellt sich die Frage, was mit dem Knochen am Implantat passiert. Dieser ist nicht mittels eines Faserapparates an das Implantat angebunden, sondern steht in direktem Kontakt zu diesem. Wenn jetzt Zugkräfte auf den Knochen einwirken, so folgt dieser der Zahnbewegung. Durch orthodontische Zahnbewegung in direkter Nachbarschaft zu einem Implantat kann ein Knochenabbau induziert werden, der eine umfangreiche weitere Behandlung erfordert und in aufwendigen Maßnahmen zur prothetischen Rehabilitation enden kann.

Der in diesem Beitrag vorgestellte Fall macht dieses deutlich.

Schlüsselwörter: Kieferorthopädie; Zahnbewegung; Knochenabbau; Kieferrekonstruktion; Implantat

Keywords: orthodontics; tooth movement; bone degradation; jaw reconstruction; implant

Einleitung

Zur Korrektur von Zahnfehlstellungen werden schon seit mehr als 100 Jahren festsitzende orthodontische Apparaturen verwendet. Es gibt jedoch auch in der Kieferorthopädie Risiken, die mit einer Behandlung einhergehen können.

Ein solches Risiko stellen die Wurzelresorptionen dar. Sie stehen als typische kieferorthopädische Nebenwirkung im Mittelpunkt vieler Diskussionen [1][3][5-10].

Relativ wenig ist darüber bekannt, was passiert, wenn eine orthodontische Zahnbewegung neben einem osseointegriertem Zahnimplantat erfolgt.

Grundsätzlich beruht die Durchführbarkeit einer Stellungskorrektur im Wesentlichen auf der Anpassungs­fähigkeit des Parodontiums auf bestimmte Reize, nämlich auf die Ausübung einer Kraft.

Durch die Ausübung therapeutisch wirksamer Kräfte treten im Desmodont und in den Markgeweben Zirkulationsveränderungen sowie Gewebeab- und Gewebeanbau auf. Es kommt somit zu einer Verschiebung des zellulären Gleichgewichtes [2][4]. Die Zirkulationsveränderungen äußern sich durch eine Hyperämie der Gefäße, eine Veränderung der Gefäßdurchlässigkeit, einen Anstieg der Exsudationsvorgänge sowie eine extravasale ­Flüs­sigkeitsansammlung. Die vermehrte Flüssigkeits­ansamm­­lung im Gewebe führt im Desmodont zu einer Auflockerung bzw. Auflösung der desmodontalen Fasern.

Infolge dieser Auflockerung wird eine Verlagerung des Zahnes ermöglicht, so dass der Parodontalspalt auf der einen Seite erweitert und auf der anderen Seite verengt wird. Hierbei liegt die Verengung in Richtung der angestrebten Zahnbewegung. Im Bereich des verengten Parodontalspaltes, in der sogenannten Druckzone, entstehen durch Erhöhung des Gewebedruckes optimale Bedingungen für einen osteoklastischen Abbau. Im Bereich der Zugzone kommt es zu einer Einwanderung von Osteoblasten. Die Vorgänge, bestehend aus Resorption und Apposition, führen zu einer Remodellation des Knochens.

Die durch kieferorthopädische Kraftapplikation bedingte Flüssigkeitsbewegung im Gewebe, hat eine Änderung des Membranpotentials zur Folge. Das geänderte Membranpotential erhöht die Osteo- und Fibroblastenaktivität und führt zu Wechselwirkungen zwischen Zellmembran und ionischen Makromolekülen. Inwieweit eine direkte oder indirekte Knochenresorption stattfindet ist von der Spannung-/ Druckverteilung im parodontalen Ligament abhängig.

In Kenntnis dieser Mechanismen ist es auch verständlich, was passiert, wenn orthodontische Zahnbewegungen in Nachbarschaft zu dentalen Implantaten durchgeführt werden. Wird ein Zahn in direkter Nachbarschaft zu einem Implantat bewegt, so folgt der Knochen dem Zahn. Dieses kann dazu führen, dass der Knochen am Implantat abgebaut wird.

Der vorgestellte Fall gibt hierfür ein Beispiel.

Fallbeschreibung

Behandlung im Jahre 2012

Der Patient, männlich, Nichtraucher, stellte sich im Jahre 2012 in einer Zahnarztgruppe der Bundeswehr mit einer Zahnlücke Regio 16 vor. Im Vorfeld war durch den zivilen Zahnarzt der Bereich mit einem Knochenersatzmaterial augmentiert worden, welches sich zum Zeitpunkt der Erstvorstellung in einem entzündlichen Prozess befand (Bild 1). Durch den damaligen Behandler erfolgte die Kürettage des Knochenersatzmaterials; die anschließende Wundheilung verlief problemlos.

Abb. 1: Situation bei Erstvorstellung in einer Zahnarztgruppe der Bundeswehr: Deutlich zeigt sich das infizierte Knochenersatzmaterial

Nach abgeschlossener Wundheilung stellte sich der Patient erneut in der Zahnarztgruppe zur weiteren Planung vor. Die intraorale und radiologische Untersuchung 2 ergab eine Lücke Regio 16 mit ausreichendem Knochenangebot bei suffizient konservierend und prothetisch versorgten Restgebiss. Es erfolgte die Planungsphase mit abschließender Insertion eines dentalen Implantates Regio 16. Bei komplikationsfreier Wundheilung wurde das Implantat nach sechs Monaten freigelegt.

Im weiteren Verlauf wurde der Patient versetzt und konnte aus persönlichen Gründen die weitere Versorgung am Implantat 16 nicht durchführen. Im Verlauf von drei Jahren kippte dann der Zahn 17 nach mesial über das Implantat ab.

Kieferorthopädische Behandlung ab 2015

2015 stellte sich der Patient dann bei einer anderen Zahnarztgruppe der Bundeswehr mit der Bitte um prothetische Versorgung des Implantates 16 vor. Aufgrund der starken Kippung von Zahn 17 konnte diesem Wunsch so nicht entsprochen werden.

Es wurde deshalb dann zunächst die kieferorthopädische Aufrichtung des Zahnes 17 mit dem Ziel durchgeführt, das Implantat 16 prothetisch zu versorgen.

Im Anschluss an die kieferorthopädische Aufrichtung von Zahn 17 zeigte sich ein starker Knochenabbau am Implantat, so dass eine Überweisung an den Oralchirurgen im Sanitätsversorgungszentrum Seedorf erfolgte.

Endgültige oralchirurgische Behandlung

Im Sommer 2018 stellte sich der Patient zur Beratung in Seedorf vor. Es zeigte sich ein Implantat Regio 16 mit freiliegenden Gewindegängen distal und einer entzündlichen Gingiva, welches mit einem Gingivaformer versorgt war (Abbildung 2).

Abb. 2: Situation bei der Erstvorstellung beim Oralchirurgen in Seedorf: Sehr deutlich sind die multiplen Plaqueanlagerungen sowie die ersten Gewindegänge zu erkennen.

Dem Patienten wurde mitgeteilt, dass es die Behandlungsoptionen der geführten Knochenregeneration und der Explantation mit anschließender Neuimplantation einerseits sowie der konventionellen Versorgung mit einer Brücke andererseits als Möglichkeiten der weiteren Versorgung gäbe. Er entschied sich für die Explantation des Implantates 16, die drei Monate später mit zeitgleicher Defektauffüllung mittels eines Knochenersatzmateriales (Bio-Oss, Fa. Geistlich, Baden-Baden) erfolgte.

Intraoperativ wurde durch eine zirkuläre Schnittführung und Mobilisation der Gingiva ein Mukoperiostlappen präpariert, das Implantat dargestellt (Abbildung 3) und mittels Zange vorsichtig unter größtmöglicher Schonung des Knochens entfernt.

Abb. 3: Situation nach dem Abklappen der Gingiva von vestibulär: Sehr gut sind die Gewindegänge des Implantats zu sehen.

Nach Kürettage der Alveole und Spülung mit steriler Kochsalzlösung wurde der Defekt mittels eines Knochenersatzmaterials (Bio-Oss, Fa. Geistlich, Baden-Baden) aufgefüllt und anschließend mit einer resorbierbaren Membran (Bio-Gide, Fa. Geistlich, Baden-Baden) ab­gedeckt (Abbildung 4). Der Wundverschluss erfolgte mittels 3-0 Vicryl (Fa.Johnson und Johnson Medical; Hamburg).

Abb. 4: Zustand nach Explantation und Auffüllen mit einem Knochenersatzmaterial und Abdecken mit einer resorbierbaren Membran

Drei Monate später erfolgte die Implantation. Dazu wurde nach Infiltration von 3 ml UDS forte (Articain®, Fa. Sanofi-Aventis; Frankfurt) erneut ein Mukoperiostlappen gebildet. Es zeigt sich eine gute knöcherne Durchbauung, sodass ein dentales Implantat mit 4,1 mm Durchmesser und 8 mm Länge (BLT, Fa. Straumann, Freiburg) eingebracht werden konnte. Das postoperative Röntgenbild zeigt das dentale Implantat in Position (Abbildung 5).

Abb. 5: Postoperatives Röntgenbild mit dem Implantat in Situ

Nach einer Phase der Osseointegration von weiteren drei Monaten, wurde das Implantat mittels Rolllappen eröffnet und mit einem Gingivaformer (Fa. Straumann, Freiburg) versehen. Nach einem Monat wurde die Situation mit Impregum (Fa. 3M Espe, Neuss) abgeformt und die vollverblendete Krone (Atlantis; Fa. Dentsply Sirona; Bensheim) auf dem Implantat okklusal verschraubt eingesetzt (Abbildung 6).

Abb. 6: Abschluss der Versorgung mit eingesetzter Krone

Diskussion

Die Versorgung von dentalen Implantaten mit der geplanten Suprakonstruktion ist das Ziel der Implantation. Implantate im Seitenzahngebiet werden allgemein nicht mit einem Provisorium versehen und in der Regel erfolgt die definitive Versorgung auch zeitnah. Dennoch sollte eine mögliche Kippung der Nachbarzähne über das Implantat in die Lücke berücksichtigt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn absehbar ist, dass die anschließende Versorgung erst später erfolgen kann, weil der Patient z. B. verhindert ist.

Ist der Zahn über das Implantat gekippt, muss ein großer Aufwand betrieben werden, um dennoch eine anschließende prothetische Versorgung durchzuführen. Im vorgestellten Fall bedeutete dies die kieferorthopädische Aufrichtung des abgekippten Zahns, die Explantation mit anschließender Augmentation und die erneute Implantation.

Ob und ab wann ein Zahn kippt ist schwer vorhersagbar. Eine Stabilisierung mittels provisorischer Krone oder ­Lückenhalter sollte deshalb immer dann erfolgen, wenn die definitive Versorgung später als sechs Monate nach Implantatinsertion erfolgt, um einer Veränderung der aktuellen Situation vorzubeugen.

Kernsätze

Literatur

  1. Acar A, Canyürek U, Kocaaga M, Erverdi N: Continuous vs. discontinuous force application and root resorption. Angle Orthod 1999; 69(2): 159-164. mehr lesen
  2. Alhashimi N, Frithiof L, Brudvik P, Bakhiet M: Orthodontic tooth movement and de novo synthesis of proinflammatory cytokines. Am J Orthod Dentofacial Orthop 2001; 119(3): 307-312. mehr lesen
  3. Casa MA, Faltin R.M, Faltin K, Sander FG, Arana-Chavez VE: Root resorption in upper first premolars after application of continuous torque moment. J Orofac Orthop 2001; 62(4): 285-295. mehr lesen
  4. Diedrich P, Rudzki-Janson I, Wehrbein H, Fritz U: Effects of orthodontic bands on marginal periodontal tissues. A histologic study on two human specimens. J Orofac Orthop 2001; 62(2): 146-156. mehr lesen
  5. Faltin RM, Arana-Chavez VE, Faltin K, Sander FG, Wichelhaus A: Root resorption in upper first premolars after applikation of continuous intrusive forces. Intra-individual study. J Orofac Orthop 1998; 59(4): 208-219. mehr lesen
  6. Hotz R: Wurzelresorptionen an bleibenden Zähnen. [Root resorption in permanent teeth]. Fortschr Kieferorthop 1967; 28: 217-224.
  7. Owman-Moll P, Kurol J, Lundgren D: Effects of doubled orthodontic force magnitude on tooth movement and root resorptions. An inter-individual study in adolescents. Eur J Orthod 1996; 18: 141-150. mehr lesen
  8. Owman-Moll P, Kurol J: The early reparative process of orthodontically induced root resorption in adolescents-location and type of tissue. Eur J Orthod 20 (1998), 727-732 mehr lesen
  9. Parker RJ, Harris EF: Directions of orthodontic tooth movements associated with external apical root sorption of the maxillary central incisor. Am J Orthod Dentofacial Orthop 1998; 114(6): 677-683. mehr lesen
  10. Sameshima GT, Sinclair PM: Predicting and preventing root resorption : Part 1. Diagnostic factors. Am J Orthod Dentofacial Orthop 2001; 119(5): 511-515. mehr lesen

Manuskriptdaten

Zitierweise

Schiller M, Neblung U, Jehn P, von See C: Kieferorthopädische Zahnbewegung führt zum Knochenverlust am Implantat – ein Fallbericht. WMM2020; 64(10-11): 403-406.

Für die Verfasser

Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Marcus Schiller

Sanitätsversorgungszentrum Seedorf

Oralchirurgie

Twistenberg 120, 27404 Seedorf

E-Mail: marcusschiller@bundeswehr.org

1 Der Co-Autor hatte den vorgestellten Patienten im Jahre 2012 als damaliger Truppenzahnarzt behandelt und das erste Implantat eingesetzt (siehe Fallvorstellung).

2 Röntgenaufnahmen aus dem Jahre 2012 sind nicht mehr vorhanden.