Wehrmedizinische Monatsschrift

Wie viel Substanzkonsum verträgt die Bundeswehr?
(Vortrags-Abstract)

Frank J. Reuther a

a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik VI – Psychiatrie und Psychotherapie

 

Hintergrund

Der Konsum berauschender Substanzen ist so alt wie die Menschheit selbst. Dabei wird das mesokortikolimbische dopaminerge Belohnungssystem des Gehirns dadurch manipuliert, dass die Ausschüttung von Dopamin nicht durch Verhaltenserfolg getriggert wird, sondern einfach chemisch erfolgt. Der Erfolg der Belohnung tritt also ohne jede Leistung ein, sieht man einmal von der Zufuhr der entsprechenden Substanz ab. Dabei spielte früher auch die soziale Stellung der Konsumenten eine Rolle. Bei den Inkas war z. B. der Konsum von Kokablättern Priestern und Adeligen vorbehalten.

Der Konsum von Rauschmitteln wird bis heute vor allem nach sozialen Kriterien bewertet, wobei Alkohol, illegale Betäubungsmittel und missbräuchlich eingenommene Medikamente unterschiedlich bewertet werden. Die medizinische Bedeutung wird dabei eher der sozialen Auffassung angepasst.

Sonderrolle des Alkohols

Bei uns genießt der Alkohol eine soziale Sonderrolle, weil sein Konsum bei uns über viele Jahrhunderte sozial nicht stigmatisiert war. Dies rührt wohl auch aus seiner Bedeutung als genießbare Flüssigkeit im Mittelalter her. Auch der Drogenkonsum hat letztlich nur wegen seiner Gebräuchlichkeit einen gesellschaftlichen Wandel erfahren. So werden die Stimmen, die für eine Legalisierung von Cannabis (Erwerb, Handel, Anbau) sprechen, immer mehr.

Substanzkonsum in Streitkräften

Als große, gut organisierte, alte und gesellschaftlich bedeutsame Organisation vollzieht das Militär – bei uns die Bundeswehr – gesellschaftliche Prozesse meist deutlich zeitlich versetzt nach. Als ganz aktuelles und durch eine von der Bundeswehr in Auftrag gegebene Studie belegtes Beispiel kann hier die Entkriminalisierung homosexueller Handlungen unter Männern genannt werden. Diese erfolgte in Deutschland 1994. Bei der Bundeswehr ist dieses seit 2000 nicht mehr laufbahn- und disziplinar relevant. Was den Konsum von berauschenden Substanzen betrifft, dürften neben der Bewertung der tatsächlichen Wehrdiensttauglichkeit auch berechtigte Forderungen an die Personalgewinnung eine Rolle spielen.

Herausforderung für die Wehrpsychiatrie

Die Wehrpsychiatrie sollte sich immer bewusst sein, dass bei der Beurteilung von Bewerberinnen und Bewerbern sowie Soldatinnen und Soldaten immer auch Dinge eine Rolle spielen können, die nicht ausschließlich medizinischer Natur sind. Als Ärztin und Arzt in einem hochorganisierten und hochverrechtlichten System ist deshalb immer auch auf einen ärztlich-pragmatischen Einzelfallansatz zu achten. „Summum ius summa iniuria“ kann gänzlich nur bei direkter Gesetzesanwendung hingenommen werden. Bei Verwaltungsvorschriften handelt es sich letztlich um untergesetzliche, die Gerichte nicht bindende Regelungen, die lediglich die Verwaltung im Inneren binden.

Im Einzelfall sollte darauf geachtet werden, dass es unter formell richtiger Anwendung der Verwaltungsvorschriften (hier Zentralvorschrift A1-831/0-4000 1 ) nicht dazu kommt, dass taugliche Probanden als untauglich beurteilt werden und umgekehrt. Hierzu ist der Wehrpsychiater fachlich in der Lage. Er kann die Verwaltungsvorschriften auch ergebnisorientiert auslegend anwenden, ohne sie formell grob zu missachten.

Die Gesundheitsnummer (GNr) 15 der Zentralvorschrift ist einschlägig. Hier ist eine gute und nachvollziehbar anwendbare Verallgemeinerung getroffen worden. In der Überschrift ist mit „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen und/oder Arzneimittel“ der Alkohol explizit gar nicht enthalten, wohl aber implizit als psychotrope Substanz. Generell zu hinterfragen ist die unterschiedliche Bewertung von Dienenden und Ungedienten. Als pragmatischer Ansatz ist dies wohl noch tragbar. Die zeitliche Stufung mit einheitlich 6, 12 und 24 Monaten nach nachgewiesener Beendigung des Substanzkonsums ist praxistauglich. Als einziger zuverlässiger Kontrollparameter sollte bei Alkohol die Bestimmung des Ethylglucuronid im Urin ergänzt werden. Die gewünschte Bestätigungsuntersuchung (gas- und flüssigkeitschromatografische Massenspektroskopie (GC-MS bzw. LC-MS)) erfolgt praktisch kaum, was alle Untersuchungen forensisch nicht sicher verwertbar macht.

Der Wegfall der Unterscheidung von weichen und harten Drogen lässt zu Recht auch früheren Heroin- und Kokainkonsumenten eine Chance. Bei Kiffen ohne Abhängigkeit und Entwöhnungsbehandlung kann die GNr 15 nach zwei Jahren ganz gestrichen werden. Damit erweist sich die Vorschrift als sehr praxistauglich und auf dem Stand des aktuellen medizinischen Wissens.

Klare Abgrenzung zum Disziplinarrecht

In der Praxis wird immer wieder von Vorgesetzten der Anspruch erhoben, bei nichtabhängigem exzessivem Alkoholkonsum mit disziplinar zu würdigendem Fehlverhalten oder bei nichtabhängigem Drogenkonsum zur Vermeidung von Disziplinarentscheidungen für die Soldaten negative wehrpsychiatrische Entscheidungen einzuholen. Hier muss eine ganz klare Abgrenzung erfolgen. Die Zentralvorschrift ist hier weiterentwickelt als manche Vorstellungen in der Truppe. Die Wehrpsychiatrie sollte hier auch unbedingt aufklärend wirken. Eine GNr VI(sechs)/15 als Grundlage einer Entscheidung zur Entlassung eines Soldaten gemäß Soldatengesetz § 55 Abs. 2 ist erst nach mehrfachen Entwöhnungsbehandlungen oder bei fortgesetztem Konsum bei eindeutiger Abhängigkeit ohne Abstinenzwillen und ohne Therapiebereitschaft zu vergeben.

Fazit

Die Regelungen der Zentralvorschrift A1-831/0-4000 zur gesundheitlichen Bewertung von Substanzkonsum stellen klar, dass bei der wehrpsychiatrischen Begutachtung neben den Wünschen der „Bedarfsträger“ vor allem der Mensch im Vordergrund steht und die Bundeswehr zumindest genau so viel Substanzkonsum verträgt wie die Zivilgesellschaft.

Verfasser

Oberfeldarzt Dr. med. Frank J. Reuther

Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Klinik VI – Psychiatrie und Psychotherapie

Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm

E-Mail: frank2reuther@bundeswehr.org

Vortrag beim Workshop „Militärpsychiatrie/Psychotraumatologie“ im Rahmen des 51. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. in Rostock-Warnemünde (23. Oktober 2020).


1 Die Zentralvorschrift A1-831/0-4000 (Vorläufer war die Zentrale Dienstvorschrift ZDV 46/1) regelt den Untersuchungsgang im Rahmen wehrmedizinischer Begutachtungen (z. B. bei Bewerbern für Freiwilligendienst, Grundwehrdienstleistenden oder bei Statusänderungen und/oder Dienstzeitverlängerungen). Im Anhang der Vorschrift werden insgesamt 83 tauglichkeitsrelevante Merkmale aufgeführt (Gesundheitsnummern), bei denen das Ausmaß gesundheitlicher Einschränkungen mit einer Gradation zwischen II (Einschränkung für bestimmte militärische Verwendungen) und VI (zur Untauglichkeit führende Beeinträchtigung) bewertet wird.