Wehrmedizinische Monatsschrift

MEDIZINISCHER A-SCHUTZ

Wie gelangen Strahlenopfer ohne
Eigen- und Fremdgefährdung ins Krankenhaus?

Workshop Medizinischer A-Schutz am Bundeswehrkrankenhaus Ulm (Rettungskette Role 2–4)

Michael Grunerta, Matthias Port b, Helmut Birkenmaier c, Burkhard Klemenz d

a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Abteilung XV – Nuklearmedizin

b Institut für Radiobiologie der Bundeswehr, München

c Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik X – Anästhesie, Intensiv-, Notfallmedizin und Schmerztherapie

 

Einleitung und Hintergrund

Das medizinische Management von Strahlenunfällen hat zum Ziel, die Gesundheit der strahlenexponierten Patienten wiederherzustellen und zu erhalten.

Für eine adäquate medizinische Versorgung – sei es im zivilen Umfeld („Dirty Bomb“) oder in einem militärischen Konflikt (Role 2–4) – ist deshalb die enge Zusammenarbeit von präklinischen und klinischen Experten eine zwingende Voraussetzung.

Vor diesem Hintergrund und den aktuellen Vorgaben für die Gesundheitsversorgung im Fähigkeitsprofil der Bundeswehr 2031+ (FP 2031+) fand im November 2020 ein virtueller, fächer- und dienststellen-übergreifender Workshop zur Vorbereitung einer Notfallübung am Bundeswehrkrankenhaus (BwKrhs) Ulm statt. Teilnehmende waren

Abb. 1: Strahlendosimetrie bei einem Unfallopfer im Rahmen einer Übung des InstRadBioBw

Hintergrund

Die zunehmende terroristische Bedrohung und der potenzielle Einsatz von radioaktivem Material in militärischen Konflikten, auch unter den Bedingungen der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV), stellen sowohl im präklinischen als auch im klinischen Bereich große Herausforderungen an den Sanitätsdienst.

Der klinische Sachverstand im Umgang mit radioaktiv (durch A-Waffen-Einsatz oder Radionuklide (RN)) kontaminierten und verletzten Patienten ist in allen relevanten Fachdisziplinen an den BwKrhs Ulm und Koblenz vorhanden. Dazu zählen die Notfall- und Intensivmedizin, Unfall- und Viszeralchirurgie, Hämatologie/Onkologie, Dermatologie, Transfusionsmedizin und Nuklearmedizin.

Mindestens ebenso wichtig ist aber die Expertise zur Identifizierung des radioaktiven Materials und der ersten Diagnostik unmittelbar nach einem Strahlenunfall. Hier stehen dem Sanitätsdienst mit dem InstRadBioBw und der Task Force ABC der Abteilung F an der SanAkBw in München hochkompetente Ansprechpartner zur Verfügung, die national und international, im zivilen wie militärischen Bereich, ein sehr hohes Renommee besitzen. Von diesen werden in regelmäßigen Übungen die neuesten Forschungserkenntnisse auf ihre praktische Umsetzbarkeit geprüft und auch auf NATO-Ebene koordiniert 1 .

Fragestellung

Ob aber die Rettungskette von Strahlenunfall-Patienten an der Schnittstelle zwischen Präklinik und Klinik funktioniert, ist bisher noch nicht in einer gemeinsamen Übung an einem BwKrhs getestet worden.

Dies war der Anlass zur Planung einer Notfall-Übung auf der Basis eines zunächst kleineren RN-Szenarios am BwKrhs Ulm; hierbei soll das Zusammenspiel der präklinischen Versorgungs- und Dekontaminations-Komponente an der Schnittstelle zur Klinik geübt werden.

Aufgrund der Komplexität eines solchen Szenarios mit gleichzeitig polytraumatisierten und kontaminierten Patienten ist eine strukturierte Vorbereitung aller Beteiligten sinnvoll und notwendig. Ein erster Schritt hierbei war am 11. November 2020 ein digitaler Workshop zur Planung einer Notfallübung mit dem Thema:

„Wie gelangen Strahlenopfer ohne Eigen- und Fremdgefährdung in das Bundeswehrkrankenhaus Ulm?“

Workshop

IST-Analyse der Fähigkeiten

Die Teilnehmenden des Kernteams stellten als Diskussionsgrundlage zunächst Gesichtspunkte des Workshop-Themas aus ihrer fachspezifischen Perspektive vor.

In den Fachvorträgen wurde von allen Experten die Herangehensweise in einer RN-Lage mit kontaminierten Strahlenunfall-Patienten, die im BwKrhs Ulm eintreffen, auf Grundlage der vorhandenen personellen und materiellen Kapazitäten, aber auch der Defizite, herausgestellt.

Die unterschiedlichen Blickwinkel und Schwerpunkte brachten für alle Teilnehmenden einen deutlichen Zugewinn an Wissen und beleuchteten teilweise bisher nicht beachtete Aspekte bei der Patientenversorgung.

Erfahrungen aus der Nuklearmedizin nutzen

Durch den permanenten Umgang mit offenen radioaktiven Stoffen in der klinischen Routine verfügt das Personal in der Abteilung Nuklearmedizin über eine hohe Expertise auch beim Medizinischen A-Schutz.

So muss z. B. bei der Herstellung von radioaktiven Arzneimitteln in der PET-Radiopharmazie im Reinraum unter Vollschutz gearbeitet werden. Solche extremen Arbeitsbedingungen sind unter Umständen bei der Versorgung von kontaminierten Patienten von Nutzen, weil sie in der täglichen Praxis regelmäßig zum Einsatz kommen („train as you fight“).

Multidisziplinäres Handeln

Der Abbau von zivilen Behandlungskapazitäten im nuklearen Notfallschutz im Gefolge des Ausstiegs aus der kommerziellen Nutzung der Kernenergie führt zwangsläufig zu einem Ressourcenmangel für die Behandlung für Strahlenunfall-Patienten. Hier kommt auf den Sanitätsdienst eine wesentliche Aufgabe zu, für die er eigene Behandlungskapazitäten schaffen muss, um beim Medizinischen A-Schutz autark und handlungsfähig zu bleiben.

Im FPBw 2031+ ist deshalb vorgesehen, in den Abteilungen für Nuklearmedizin an den Bw(Z)Krhs Koblenz und Ulm jeweils 10 interdisziplinär nutzbare „Dekorporations-Betten“ mit intensiv-medizinischem (ICU) Standard ­einzurichten: Diese Betten dienen der medizinischen Versorgung von Patienten im Grundbetrieb und Strahlenunfall-Opfern in militärischen Konflikten (LV/BV).

Nur im BwKrhs Ulm sind zwei große, separierte Dekontaminationstrakte in einer zurzeit nicht betriebenen erdversenkten Anlage vorhanden. Für die mittel- bis langfristige Planung der Patientenversorgung bei chemischen, biologischen sowie radiologischen und nuklearen (CBRN)Bedrohungslagen wird die Ertüchtigung und Inbetriebnahme dieser Funktionalitäten von großem Nutzen und wahrscheinlich kostengünstiger als ein entsprechender Neubau sein. Als Übergangsmaßnahme sind aber zeitnah zu realisierende Lösungen erforderlich.

Schutz vor Kontamination

Für die Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Notfallmedizin und Schmerztherapie und insbesondere die Zentrale Interdisziplinäre Notfallaufnahme (ZINA) steht die Erarbeitung eines praktikablen Konzepts für den Umgang mit CBRN-exponierten Patienten am BwKrhs Ulm im Vordergrund.

Es ist schon jetzt evident, dass weder ausreichendes Material (u. a. Schutzausstattung, Dosis- Messgeräte), noch Personal oder Infrastruktur vorhanden sind. Die Aufnahme von unerkannt strahlenexponierten Patienten in der ZINA kann deshalb u. U. dazu führen, dass eine Kontamination des gesamten Krankenhauses erfolgt, denn die von den Strahlenunfall-Patienten angegebenen Beschwerden, die im etablierten Manchester-Triage-System der Notfallaufnahme dokumentiert werden, sind nicht spezifiziert für ein radioaktives Bedrohungsszenario. Deshalb muss ein erhöhtes Bewusstsein für solche Szenarien geschaffen werden, wenn z. B. viele Patienten mit gleichen Symptomen und gleicher räumlicher Herkunft in der ZINA erscheinen.

Die Notfallmedizin kann auf Erfahrungen anderer Krankenhäuser in CRBN-Szenarien zurückgreifen; exemplarisch wurden beim Sarin-Giftgasanschlag in Tokio 1995 etwa 25 % des Klinik-Personals kontaminiert. Konsequenterweise müssten u. U. ganze Klinikabschnitte geschlossen/aufgegeben werden mit katastrophalen Konsequenzen für die medizinische Versorgung in einem RN- und evtl. MANV-Szenario (Massenanfall von Verwundeten). Um dieses zu verhindern, gibt es von Seiten der Notfallmedizin im BwKrhs Ulm bereits konkrete Überlegungen zur kurzfristigen Einrichtung von Ausweichräumen (Ambulanz-Op).

An das Personal der ZINA werden höchste körperliche und psychische Anforderungen gestellt; hier können teilweise Erkenntnisse aus konventionellen Übungen bei einem MANV-Szenario genutzt werden. Hinzu kommt aber in einem RN-Szenario der Eigenschutz des ZINA-Personals bei der Dekontamination und Erstbehandlung von kontaminierten Schwerverletzten, der die Arbeit zusätzlich erschwert.

Belastung des Personals

Neben der Notwendigkeit einer großen Anzahl von qualifiziertem ärztlichen und insbesondere nicht-ärztlichen Personal darf nicht unbeachtet bleiben, dass es in einem RN-Szenario große Ängste vor der „unsichtbaren Bedrohung“ Radioaktivität geben kann. Aus Katastropheneinsätzen ist bekannt, dass die Anzahl des Personals, das bei Alarmierung nicht erscheint, bis zu 30–40 % beträgt.

Viele offene Fragen

Weitere offene Fragen aus notfallmedizinischer Sicht sind z. B.:

Nicht alles ist planbar

Innerhalb des BwKrhs Ulm können bestimmte Verfahren und Abläufe geplant und geregelt werden, z. B. die Alarmorganisation, die Erstellung von Dekontaminationsmaßnahmen, Verfahren bei MANV-Lagen und nicht zuletzt die Schulung des vorhandenen Personals.

Nicht planbar sind allerdings Art und Ausmaß des Schadensereignisses und auch die eigene Durchhaltefähigkeit. Abhängig von der aktuellen Lage ist möglicherweise eine Abwendung von der personenbezogenen Individualmedizin zu populationszentrierten Triage-Szenarien notwendig.

Beitrag des InstRadBioBw

Das InstRadBioBw berichtete über die Auswirkungen von Radioaktivität auf den Menschen, die dank einer umfangreichen Datenbasis aus Strahlenunfällen gut untersucht sind. Die Befürchtungen der Notfallmedizin bezüglich einer Eigengefährdung bei der Behandlung von RN-exponierten Patienten konnten insofern ausgeräumt werden, als bei Behandelnden von Strahlenopfern bisher keine akuten Schäden beobachtet wurden; zudem ist Strahlung sehr gut und einfach messbar.

Das Fähigkeitsprofil des InstRadBioBw reicht von der Diagnostik über die Beratung bis zur Therapieeinleitung und -steuerung. Dies wird schon aktuell im Einsatz durch stationäre „reach back“-Fähigkeiten und durch die Task Force ABC als mobile Komponente gewährleistet. Die bereits etablierte Teamstruktur – bestehend aus dem Team Arzt/Radiobiologe mit Kenntnissen in der Notfallmedizin und Task Force Spezialtraining sowie hochqualifiziertem medizinischen Assistenzpersonal – ist in der Lage, Strahlenschäden zu diagnostizieren, eine radioaktive Inkorporation abzuschätzen, ggf. eine Dekor­porationstherapie einzuleiten und eine kompetente ­medizinische Beratung durchzuführen. Das technische Assistenzpersonal bedient dabei die komplexen Messgeräte, mit deren Hilfe die Analyse der inkorporierten Strahler und die externe Kontamination inklusive der Identifikation der Strahler/Radionuklide möglich ist.

Diese präklinische Expertise ist eine wichtige Unterstützung für die Notfallmedizin bzw. das Personal der ZINA, weil vor der Aufnahme in die Klinik eine Dosimetrie und die Dokumentation von hinweisenden und kritischen Prodromalsymptomen erfolgen kann. Hierzu dienen eigenentwickelte Software-Module (u. a. H-Modul), mit deren Hilfe die Gefährdung kontaminierter Patienten frühzeitig abgeschätzt bzw. vor Eintreffen in der Klinik die präklinische Dekorporationstherapie mit spezifischen Antidoten eingeleitet werden kann.

Fazit und erste Erkenntnisse

Der digitale Workshop wurde von allen Teilnehmenden als sehr informativ und konstruktiv empfunden. Die spezifischen fachlichen Kompetenzen boten unterschiedliche Perspektiven, Zugänge und Herangehensweisen an das Thema „Strahlenunfall“ mit seinen vielfältigen Pro­blemfeldern, die zu einem intensiven Austausch anregten. Erste konstruktive Überlegungen wurden diskutiert, u. a. die kurzfristige Einrichtung einer behelfsmäßigen Dekontamination in der vorgelagerten Fahrzeughalle der Notfallaufnahme.

Es muss sichergestellt werden, dass im BwKrhs Ulm eine Vor-Ort-Kompetenz vorhanden und rund um die Uhr ­erreichbar ist (24/7-Telefon-Bereitschaft mit Ansprechpartnern aus der Notfallmedizin, Nuklearmedizin, Unfallchirurgie).

Unabhängig davon ist qualifiziertes Betreiberpersonal für außerklinische Maßnahmen notwendig, das innerhalb kurzer Zeit vor Ort sein kann und bis zum Eintreffen der Experten aus dem InstRadBioBw wichtige Unterstützungsleistungen sowie auch die Dekontamination sicherstellt. Eine Kontamination der Klinik ist unter allen Umständen zu vermeiden.

Die Abteilung Nuklearmedizin des BwKrhs Ulm konnte zusagen, die Defizite bei den Dosis-Messgeräten durch eigene Geräte kurzfristig und überbrückend auszugleichen.

Das InstRadBioBw hält eine engere Anbindung an die Klinik für erforderlich geboten und sieht in der Übung einen essenziellen Schritt zu einer kontinuierlichen Zusammenarbeit, die von der Task Force ABC durch die Ausbildung von Personal unterstützt werden kann.

Alle angesprochenen Problemfelder werden in die Planung der beabsichtigten Notfallübung einbezogen – eine gute Ausgangsbasis für die nächsten Schritte. Ziel ist es, gemeinsam gewappnet zu sein und die gebündelte fachliche Expertise synergistisch im Medizinischen A-Schutz zu nutzen.

Nur gemeinsam können die Forderungen für die Gesundheitsversorgung im FPBw 2031+ zur Bewältigung von RN-Szenarien bestmöglich erfüllt werden. Mittelfristig sollen die Ergebnisse aus RN-Szenarien zu Standardisierungen führen und auch auf B- und C-Lagen über­tragen werden. Denn ein gut gerüsteter und autark ­handlungsfähiger Sanitätsdienst kann zu einer Krisenbewältigung in besonderem Maße beitragen.

Nächste Schritte

Dem „digitalen Start“ folgte im April 2021 die Besichtigung der lokalen Gegebenheiten am BwKrhs Ulm. Auf der Grundlage der dabei erzielten Ergebnisse ist im Laufe des Jahres 2021 die Durchführung einer konkreten Notfallübung geplant.

Für die Verfasser

Oberfeldarzt Dr. Michael Grunert

Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Abteilung XV – Nuklearmedizin

Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm

E-Mail: michaelgrunert@bundeswehr.org


1 Klemenz B: Triage bei Strahlenunfall – NATO-Workshop 2019 „StTARS“ aus klinischer Perspektive. WMM 2019; 63(12): 431–432.