Neuro-Enhancement in der Wehrmacht am Beispiel von Pervitin – Sachstand und Quellenlage 1
Use of Pervitin as an Exemple for Neuro Enhancement in the Wehrmacht – Current State of Research and Source Situation
Volker Hartmanna
a Sanitätsakademie der Bundeswehr, München
Zusammenfassung
Das Thema Neuroenhancement oder auch Leistungsoptimierung durch chemische Substanzen führt uns nicht nur tief in die Geschichte militärischer Sanitätsdienste, sondern hat genauso aktuelle Bezüge in unsere heutige Gesellschaft und in kontrovers diskutierte aktuelle Forschungsfelder. Stichworte sind nicht nur die massenhafte missbräuchliche Einnahme von Mode- und Designerdrogen in Vergnügungsstätten, die Einnahme psychotroper Substanzen bei Leistungsdruck in der Arbeitswelt [11][S.66–67], sondern auch der Einsatz von Psychostimulantien in modernen Armeen im Rahmen von Methoden des Human Performance Enhancement. Hinzu kommt in letzter Zeit ein gewisses zum Teil ins voyeuristisch-sensationelle gesteigerte Interesse an bestimmten Entwicklungen im NS-Unrechtsregime bzw. an der Person des Diktators Adolf Hitlers in den Medien [22;19;20]. Ebenso gibt es immer wieder Anfragen aus dem Kreise von Kolleginnen und Studierenden nach der Quellenlage. Die wesentlichen Fakten zum Thema sind seit Anfang der neunziger Jahre bekannt, die weiteren Zusammenhänge sind ebenso wissenschaftlich untersucht [29;13;18]. Im Folgenden soll – ohne spekulatorische Aspekte – der aktuelle Forschungsstand und die Quellensituation zum Gebrauch von Amphetamin und weitergehenden Drogenkombinationen in der Wehrmacht aufgeführt werden.
Schlüsselwörter: Pervitin, Amphetamin, Psychostimulantien, Human Performance Enhancement, Drogengebrauch in der Wehrmacht, D IX, Menschenversuche an KZ-Häftlingen
Summary
The topic of neuroenhancement or performance optimisation through chemical substances not only takes us deep into the history of military medical services, but also has current references to today’s society and controversial current fields of research. Keywords are not only the mass abuse of fashion and designer drugs in entertainment venues, the use of psychotropic substances under pressure to perform in the world of work, but also the use of psychostimulants in modern armies in the context of methods of human performance enhancement. In addition, there has recently been a certain interest in certain developments in the Nazi injustice regime and in the person of the dictator Adolf Hitler in the media, which has increased to the point of voyeurism and sensationalism. Likewise, there are repeated enquiries from colleagues and students about the source situation. The essential facts on the subject have been known since the beginning of the 1990s, and the further connections have also been scientifically investigated. In the following – without speculative aspects – the current state of research and the source situation on the use of amphetamine and further drug combinations in the Wehrmacht will be listed.
Keywords: Pervitin, amphetamine, psychostimulants, human performance enhancement, drug use in the Wehrmacht, D IX, human experiments on concentration camp prisoners
Die Entdeckung von Pervitin
Das Amphetamin-Derivat Pervitin (Metamphetamin) wurde im Jahre 1938 in den Berliner Temmler-Werken durch den Chemiker, Pharmakologen und Arzt Dr.med. Fritz Kurt Hauschild (1908–1974) erstmals synthetisiert. Die Substanz hatte eine ausgesprochene zentralerregende und euphorisierende Wirkung, die nicht nur in der Ärzteschaft eine große Resonanz hervorrief, sondern zunächst frei in den Apotheken für den Publikumsverkehr vertrieben wurde. Die 30 Tabletten-Packung zu je 3 mg kostete damals 1.85 Reichsmark und garantierte „eine zauberhaft anmutende Wirkung, die aus einem schlafmüden Menschen binnen einer guten Viertelstunde einen völlig frischen Arbeiter macht, dem die Einfälle nur so zuströmen und der keinen Hunger bekommt“ [26][S.4]. In der sich in einem Aufbruch ins Extreme befindlichen Leistungsgesellschaft wie der des Dritten Reichs hatte ein solches Präparat eine ungeheure Wirkung auf weite Bevölkerungsschichten. Das Aufputschmittel wurde so relativ kritiklos eingenommen. Eine Schokoladenfirma verarbeitete aufgrund der großen Nachfrage Metamphetamin in höherer Dosierung in Pralinen.
Abb. 1: Pervitin-Röhrchen (Foto mit freundlicher Genehmigung des ZInstSanDstBw München)
Wissenschaftliche Expertisen und Folgerungen
Natürlich fand Pervitin schon kurz nach der Einführung auch in der medizinischen Welt eine große Beachtung. Bis Anfang 1941 wurden bereits über 30 wissenschaftliche Untersuchungen oder Versuchsberichte publiziert, besonders intensiv wurde die Substanz im Kaiser-Wilhelms-Institut für Arbeitsphysiologie Dortmund-Münster weiter erforscht. Metamphetamin rief beim Menschen durchaus uneinheitliche Wirkungen hervor, die sich im Einzelfall nicht vorhersagen ließen. Es erzeugte keineswegs eine aktive Erhöhung des Leistungsvermögens im Organismus, sondern wirkte über eine periphere und zentrale Freisetzung der Hormone Adrenalin und Noradrenalin. Die Einnahme des Mittels verursachte gerade bei bis an die Grenzen des Leistungsvermögens beanspruchten Individuen insofern eine gefährliche Situation, da es die subjektiven Grenzen der Erschöpfung hinausschob und zu einem Angriff auf die absoluten Leistungsreserven führte. Außerdem traten bei chronischer Anwendung des Pervitins die klassischen Phänomene einer Medikamentensucht wie körperliche Entzugserscheinungen auf.
Im Januar 1941 verfasste der in Lindau ansässige Nervenarzt Dr. Ernst Speer im Deutschen Ärzteblatt ein Übersichtsreferat [26][S.4], in dem er zu der indikationslosen Pervitingabe in sehr kritischer Weise Stellung nahm. Er stand beispielsweise auch dem Einsatz des Mittels für militärische Zwecke sehr skeptisch gegenüber und verwies auf die wissenschaftlichen Untersuchungen, ...
„... in denen Personenkreise nachdrücklichst gewarnt werden, die Höchstleistungen vollziehen und denen deshalb eine relativ geringe Leistungsreserve übrig bleibt. Diese Leistungsreserve darf unter Pervitinwirkung keinesfalls angegriffen werden“ [26][S.19].
Darüber hinaus sah der Verfasser die medizinische Anwendung des Pervitins bei Gesunden und Kranken nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt. Somit waren der deutschen Ärzteschaft zu Beginn des Jahres 1941 alle wesentlichen medizinischen Fakten zu Pervitin bekannt. Für den zivilen Sektor zog die Reichsgesundheitsführung daraus ihre Konsequenzen. Zunächst wurde Pervitin rezeptpflichtig, schließlich musste der Reichsgesundheitsführer und Chef der Reichsärztekammer, Dr. Leonardo Conti (1900–1945), Pervitin am 12. Juni 1941 unter das Opiumgesetz stellen, um dem zunehmenden Suchtgeschehen in der Gesellschaft Einhalt zu gebieten. Diese limitierende Maßnahme fand in der Heeressanitätsinspektion nicht nur Zustimmung.
Pervitin im Heer
Die stimulierende und müdigkeitshemmende Wirkung der Substanz übte von Anfang an eine große Faszination auch auf militärische Kreise aus. Bereits im September 1938 und später im Frühjahr 1939 hatte im Auftrag der Heeres-Sanitätsinspektion Oberfeldarzt Prof. Dr. Otto Ranke (1899–1959), der Leiter des Wehrphysiologischen Instituts der Militärärztlichen Akademie in Berlin, an 90 Sanitätsfähnrichen unter zweifelhaften Kautelen Pervitinversuche durchgeführt. Erstmals beschrieben wurde diese Experimente und die Auswirkungen auf Beschaffung und Einsatz der Substanz in das Heer von Frank Unger 1991 in seiner Dissertation über das Allgemeine und Wehrphysiologische Institut der Militärärztlichen Akademie und folgenden Aufsätzen [29;30;31].
Die Versuche mussten schließlich abgebrochen werden, weil die angehenden Militärärzte sich die Mittel zur Examensvorbereitung illegal beschafft hatten. Ranke arbeitete zu dieser Zeit eng mit dem renommierten Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologe in Dortmund zusammen, das seinerseits mit den Temmler-Werken in engem Erfahrungsaustausch über Pervitin stand. Zu Kriegsbeginn auch zum „Beratenden Wehrphysiologen der Heeressanitätsinspektion“ ernannt, gelang es ihm allerdings bis September 1939 nicht, eine zentrale Regelung für die Beschaffung und den Gebrauch des Stimulans in der Wehrmacht zu erreichen. Die Truppe beschaffte sich das Mittel dezentral, zudem konnte man es zu diesem Zeitpunkt auch noch in zivilen Apotheken relativ problemlos erwerben. Ausgabe und Einnahme oblag den Kommandeuren, Truppenärzten oder auch den einzelnen Soldaten eher willkürlich. Im Bundesarchiv/Militärarchiv haben sich verschiedene Berichte über den Gebrauch von Pervitin im Krieg gegen Polen erhalten, die ein widersprüchliches Bild ergeben und aufzeigen, dass es dringend einer Regelung zum Einsatz des Aufputschmittels bedurfte.
Deshalb hatte Ranke im Winter 1939/1940 mehrfach in der Heeressanitätsinspektion über die bisherigen Pervitinerfahrungen unter Berücksichtigung der Ausführungen Contis vorgesprochen. Nach einigen Diskussionen einigte man sich dort auf eine grundsätzliche Policy, die zum einen die offizielle Beschaffung von Pervitin für die Truppe vorsah, zum anderen aber die Verausgabung durch eine Vorschrift klar regelte. Am 13. April 1940 trug hierzu der Chef des Heeressanitätswesens, Generaloberstabsarzt Prof. Dr. Anton Waldmann (1878–1941), beim Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Walther von Brauchitsch (1881–1948) vor und notierte in seinem Tagebuch: „Pervitin-Frage. Erlass über vorsichtige, aber in besonderer Lage notwendige Anwendung“ [32]. Am 17. April wurden die Truppenärzte in einem Erlass offiziell über die Regelung in Kenntnis gesetzt und gleichzeitig als Anlage eine „Anweisung für den Sanitätsoffizier über das Weckmittel Pervitin“ beigefügt [7]. Dort wurde über Wirkungsweise, Dosierung, Anwendungsbereich, Ausgabe, Wirkungszeit, Darreichung, Wirkungsdauer und Gegenanzeigen informiert. Offiziell durfte demnach Pervitin nur auf Anweisung eines Sanitätsoffiziers durch das Sanitätspersonal ausgegeben werden, der Verbrauch war zu kontrollieren.
In der Folge wurde Pervitin offiziell in die Wehrmacht eingeführt. Bis zum Beginn des Feldzugs gegen Frankreich lieferte der Hauptsanitätspark ca. 35 Millionen Tabletten an Heer und Luftwaffe aus [8]. Über die tatsächliche Ausgabe und die Einnahme des Aufputschmittels in der ersten Phase des Vormarschs in Frankreich gibt es allerdings keine gesicherten Erkenntnisse. Verschiedene Autoren messen dem Präparat durch die schnell zum Kanal vorstoßenden deutschen Panzerverbände sogar feldzugentscheidende Bedeutung zu [19;28]. Sie berufen sich auf einige Quellen im Bundesarchiv und verschiedene Aussagen Beteiligter, die unter Pervitineinnahme bei bester Stimmung tagelang marschierten bzw. motorisiert ohne Schlaf durch Nordfrankreich fuhren. Tatsächlich gibt es aber für diese These eines kriegsentscheidenden „metamphetamingesteuerten Blitzkrieges“ [28] keinen definitiven Beweis, da statistische Daten mit Verknüpfungen zu Gefechtssituationen fehlen. Sicherlich kamen trotz der vorgesehenen Beschränkungen zahlreiche Soldaten an Pervitin heran und nahmen das Präparat auch ein. Ebenso wurden einige missbräuchliche Anwendungen notiert, bei einzelnen älteren Stabsoffizieren mussten sogar Todesfälle nach Pervitineinnahme festgestellt werden. Aber Metamphetamin als „Wunderpille der Wehrmacht“ zu bezeichnen, die den Sieg im Krieg gegen Frankreich gebracht habe, verbietet sich, auch auf Grund der bekannten und immer wieder aufgetretenen Nebenwirkungen des Suchtmittels.
Insbesondere in britischen und amerikanischen Publikationen wird verschiedentlich auf die Amphetamineinnahme deutscher Fallschirmjäger im Zuge der verlustreichen Eroberung der Insel Kreta im Mittelmeer im Mai 1941 verwiesen, z. B.[2]. Angeblich habe man auch grün gefärbte Körper toter deutscher Soldaten aufgefunden und daher eine Amphetamineinnahme vermutet. Deutsche Quellen gibt es hierüber nicht.
Bekannt geworden ist z. B. der Metamphetamin-Konsum des damaligen Schützen und späteren Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll (1917–1985), der in seinen Briefen von der Front an die Eltern mehrfach um die Zusendung von Pervitin bat und seine Wirkungen beschrieb [3].
Tatsächlich markiert der Frühsommer 1940 schon den Höhepunkt der Verwendung von Pervitin im Heer. In den Monaten danach wurden, bedingt durch die o.a. Opiumgesetz-Einschränkung, aber auch durch Rohstoffmangel, erheblich weniger Tabletten an die Truppe ausgegeben. Im Krieg gegen Russland nahmen Soldaten durchaus auch Pervitin ein, die Bedeutung sank aber erheblich.
„Für die Wehrmacht erließ der Heeres-Sanitätsinspekteur am 9.9.1941 ein Merkblatt „Ermüdung und ihre Bekämpfung“…, in dem Ranke die Gefährdung durch die Wirkung von Pervitin beschreibt. Das Merkblatt sollte nun, neben den bereits herausgegebenen Anweisungen für die Ausgabe des Mittels, auch seine Benutzung klar regeln.“ [31][S.379]
In dem im September 1943 herausgegebenen Standardwerk über die Militärhygiene zog Ranke als Verfasser des Kapitels „Allgemeines über Leistung und ihre Grenzen“ den Schluss, dass gerade die Gabe von Psychostimulantien bei der Ermüdung durch körperliche Anstrengung gefährlich sei, da dadurch Warnsignale des Körpers nicht mehr wahrgenommen würden und körperliche Schädigung drohe [23]. Im gleichen Lehrbuch nahm auch Flottenarzt Dr. Friedrich Grunske (1899-?) ausführlich zu „Gesundheitliche Gefahren der Genuß- und Reizmittel bei der Ermüdungsbekämpfung und Leistungssteigerung“ Stellung und unterstrich die Notwendigkeit zur besonderen Vorsicht des Sanitätsoffiziers bei der Verordnung von Pervitin, z. B. für höhere Offiziere. Zudem dürfe die Substanz nur in speziellen Fällen von kleinen militärischen Entitäten unter Aufsicht verausgabt werden [12]. Wie Neumann in seiner Arbeit über „Ernährungsphysiologische Humanexperimente“ [17] in der Wehrmacht recherchierte, wurden gegen Ende des Krieges von der Heeres-Sanitätsinspektion zur Schmerzbekämpfung Morphin-Pervitin Kombinationen in Auftrag gegeben, die nunmehr therapeutisch oral und per injektionem mit einem gewissen Erfolg bei Verwundeten eingesetzt worden sind.
Pervitin in der Luftwaffe
Bei den fliegenden Verbänden der Luftwaffe kamen andere Belastungsfaktoren als im Feldheer zum Tragen. Zu diskutieren waren hier weniger physische Erschöpfungszustände, z. B. durch langes Marschieren, sondern Faktoren wie die anhaltende Anspannung der Aufmerksamkeit im Flugbetrieb auch bei Nachtflügen bei gleichzeitiger Monotonie der Tätigkeiten, gleichförmige Motorengeräusche, Vibrationen oder Kälte. Es galt hier Mittel des Neuroenhancements vorzusehen, „deren Wirkung auf einer Steigerung der Antriebsfähigkeit, des Assoziationsvermögens und der zentralen Reizbarkeit“ [16] beruhten. So standen für die Bordverpflegung bei langen Feindflügen über 4 Stunden Dauer Coffein in Form von heißem Kaffee, oder Tee (Coffein, Theobromin und Theophyllin) zu Verfügung sowie Schokolade mit Colaextrakt (Schokocola). Der Einsatz von Amphetaminen mit ihrer zentral analeptischen Wirkung wurde von der Luftwaffe hingegen für bedenklich gehalten, da die langanhaltende medikamentöse Dämpfung des Müdigkeitsgefühls bei plötzlich auftretenden Gefahrensituationen zum unvermittelten Zusammenbruch im Cockpit führen konnte. Außerdem sollte nach Pervitingabe eine längere Ruhephase erfolgen, die bei der Luftwaffe nicht immer einzuhalten war. Diskutiert wurde die Einnahme von Pervitin nur bei lebensbedrohlicher Ermüdung, wie z. B. bei Notlandungen im Gebiet des Gegners oder im Seenotfalle. Deshalb enthielt die Absprungnotausrüstung eine Packung Pervitin, immerhin mit der doppelten Dosierung der „normalen“ Pervitintablette (4 Tabletten zu 0,006 g) Für den Seenotfall wurde Pervitin in einer Kombination mit Dextroenergentafeln in wasserdichter Verpackung hergestellt. Offizielle Berichte über die Pervitineinnahme von fliegenden Besatzungen haben sich kaum erhalten, interessant ist aber die Schilderung des damaligen Kommodores des Jagdgeschwaders 77 und späteren Generalleutnants der Bundesluftwaffe Johannes Steinhoff (1913–1994), der in seinem Jagdflugzeug über dem Mittelmeer nach tagelanger Zermürbung und Erschöpfung während eines Fluges kurzzeitig eingeschlafen war und gleich drei Pervitintafeln zu sich nahm, mit der Folge absoluter Wachheit, Überreizung der Sinne und Herzrasens [27].
Psychostimulantien in der Führung des NS-Staates
Von besonderem Interesse in der Öffentlichkeit ist stets die Einnahme von leistungssteigernden Substanzen bei Protagonisten der Führung des nationalsozialistischen Staates. Vor wenigen Jahren fokussierte sich insbesondere der Autor und Schriftsteller Norman Ohler in seinem sehr gut recherchierten, auch in der Öffentlichkeit weithin beachteten und inzwischen in zahlreichen Übersetzungen vorliegenden Werk „Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“ [19] auf diesen Aspekt in der Geschichte der Verwendung von Aufputschmitteln. Bekannt ist in diesem Zusammenhang z. B. die Morphin-Sucht des Oberbefehlhabers der Luftwaffe, Hermann Göring (1893–1946) oder die Alkoholabhängigkeit des „Generalluftzeugmeisters“ Ernst Udet (1896–1941). Das besondere Augenmerk Ohlers gilt jedoch der Person Adolf Hitlers, seiner Krankengeschichte und der durch seinen Leibarzt Theodor Morell (1886–1948) verabreichten und bis heute kaum zu durchschauenden Fülle von Substanzen zweifelhafter Provenienz. Morell besaß das absolute Vertrauen seines durch verschiedene psychosomatische Leiden, Befindlichkeitsstörungen und auch später durch M. Parkinson geplagten Patienten und führte nahezu täglich – oft jenseits der Schulmedizin, zumindest aber polypragmatisch – orale Gaben oder auch Mischinjektionen durch mit bis zu 90 Substanzen wie Multivitaminen, Brom- und Codein-Derivaten, Barbituraten, Glucose, Strychnin, Spasmolytica, aber auch Protein-Gemischen, Leber- und Nebennierenextrakten oder Sexualhormon-Gaben. Ob unter den Präparaten Morells auch Pervitin gewesen ist, lässt sich nach derzeitigem Stand nicht mit Sicherheit beweisen. Ebenso ist eine wie auch immer geartete Pervitinsucht Hitlers, wie manche Autoren behaupten, eher nicht wahrscheinlich. Der Ansatz Ohlers, anhand der erhaltenen genauen therapeutischen Protokolle Morells zu beweisen, definierte militärische und politische Entscheidungen Hitlers seien Folge des Missbrauchs stimulierender Drogen gewesen, kann ebenso nur als spekulativ betrachtet werden. Wer sich mit dem Krankheitsgeschehen Hitlers befassen möchte, sei an u. a. Literatur verwiesen [10;14;25].
Der Einsatz von Pervitin in der Marine – Anwendung und Grenzen
Auch die Kriegsmarine sah zu Beginn des Krieges die Notwendigkeit auf eine Ausstattung der seegehenden Einheiten mit Pervitin. In den Kriegssanitätsausrüstungen für die großen Schiffe mit Apothekeneinrichtung lassen sich pro Kopf der Besatzung 5 Tabletten Pervitin zu 3 mg nachweisen. Diejenigen Einheiten, die für längere Einsätze im Atlantik vorgesehen waren, erhielten zusätzlich ein Sondersoll an dem Präparat. Beispielsweise wurde ein Schlachtschiff mit 10 000 Tabletten ausgerüstet, eine Zahl, die sich angesichts der Besatzungsstärke von 2 000 Soldaten allerdings relativiert.
Zur Verhinderung eines Missbrauches des Arzneimittels bei der Ermüdungsbekämpfung waren auch in der Marine strenge Reglementierungen in Form von Dienstvorschriften erlassen [24]. Darin forderte der Sanitätschef der Marine:
„Es wird von jedem Marinesanitätsoffizier erwartet, dass er sich nach den in der medizinischen Literatur laufend erscheinenden Erfahrungsberichten über leistungssteigernde Mittel ein eigenes kritisches Urteil zu bilden versucht und dass er bei praktischer Anwendung ... im gesundheitlichen Interesse der von ihm zu betreuenden Soldaten stets größte Vorsicht walten lässt.“ [24][S.4]
In der Vorschrift war festgelegt, dass der Marinesanitätsoffizier das Entscheidungsrecht und die alleinige Verantwortung der Pervitinausgabe besaß, die nur in Sonderfällen vorgenommen werden durfte. Es hieß:
„Der Personenkreis der Pervitin erhält, kann immer nur klein sein, wenn nicht jede Übersicht und jegliches Verantwortungsgefühl des zuständigen Sanitätsoffiziers verloren gehen soll.“ [24][S.40]
Abb. 2: Merkblatt (1940) zur Beurteilung von Genuss- und Reizmitteln in der Marine (Foto: Flottenarzt Dr. Hartmann, München)
Ein solcher kontrollierter Einsatz des Mittels zu einem außergewöhnlichen Anlass fand am 12. Februar 1942 an Bord des Schweren Kreuzers „Prinz Eugen“ statt und ist im Kriegstagebuch dokumentiert [4]. Anlässlich des sogenannten Kanaldurchbruchs einer deutschen Kampfgruppe verabreichte der Schiffsarzt den über Tage infolge heftiger Luft- und Seeangriffe besonders belasteten Schiffsführung und dem Flak – und Artilleriepersonal drei Tabletten Pervitin. Er beobachtete die Wirkungen genau, befragte die Soldaten später und stellte keine Nebenwirkungen fest.
Auf kleineren Überwassereinheiten der Kriegsmarine, die über Monate in permanenten nächtlichen Einsatz gegen einen überlegenen Gegner standen, wie den Schnellbooten, wurde Pervitin anfangs durchaus laxer eingesetzt und von den Soldaten auch häufiger konsumiert. Vor den Feindfahrten erhielten Kommandanten, die ohne Arzt zur See fuhren, von ihren Sanitätsoffizieren auf Wunsch eine Dose mit 30 Tabletten Pervitin, aus der sie die Substanz an Besatzungsangehörige, die danach verlangten, austeilen konnten. Nach kurzer Zeit reduzierte sich jedoch die Begeisterung für das Aufputschmittel, da gerade bei den besonders beanspruchten Brückenbesatzungen die charakteristischen Nebenwirkungen, wie innere Unrast, Überreizung, Verminderung des Konzentrationsvermögens und Fehlbeobachtungen auftraten. Diese Sinnestäuschungen waren für Nachteinsätze fatal, hinzu kamen hartnäckige Schlafstörungen bei dem ohnehin von chronischer Übermüdung heimgesuchten Funktionspersonal. In einer Flottille erwarb sich ausgerechnet ein Sanitätsoffizier eine Pervitinsucht und musste als Flottillenarzt abgelöst werden. Sehr schnell kam man deshalb auf den Booten von einem generellen Pervitinkonsum ab. Aufgrund der Nebenwirkungen des Pervitins wurde an Bord eher auf die Coffein-haltige Schokolade Schokakola der Firma Hildebrandt zurückgegriffen. Die 100-Gramm-Packung enthielt zwischen 0,1275 und 0,2 g Coffein und konnte nach Vorschlag der Schiffsärzte bei langanhaltenden Gefechtszuständen verausgabt werden.
Auf Unterseebooten, die eigentlich auch während der Geleitzugschlachten viele Stunden auf das Größte belastet waren, lässt sich übrigens ein Pervitingebrauch nicht nachweisen, offensichtlich waren hier die geschilderten Nebenwirkungen doch abschreckender.
Der Einsatz von leistungssteigernden Präparaten bei den Kleinkampfverbänden der Kriegsmarine
Eine völlig neue Lage bei der Verwendung von Aufputschmitteln entwickelte sich für die Kriegsmarine im Frühjahr 1944. Das Heft des Handelns war endgültig auf die westeuropäischen Gegner übergegangen, der U-Bootkrieg im Atlantik verloren und die Invasion Europas stand kurz bevor.
In dieser Situation setzte man in der Kriegsmarine auf die Entwicklung neuartiger Seekriegsmittel, um durch Ausnutzung des Überraschungsmoments mit asymmetrischen Kampfmethoden Erfolge zu erzielen. Diese neuen Waffen wurden im Sammelbegriff „Kleinkampfmittel“ genannt. Sie sollten je nach Erfordernissen und Möglichkeiten auf verschiedenen Kriegsschauplätzen überraschend eingesetzt werden und vor allem gegnerische Invasionsflotten bekämpfen. Es handelte sich hier im Wesentlichen um verschiedene Einmanntorpedos, Zweimann-Tauchboote, Klein-U-Boote sowie Überwassersprengboote, aber auch besonders trainierte Meereskämpfer-Kommandos, die Sabotageaufträge im Hinterland des Feindes ausführen sollten. Das Personal bestand nur aus Freiwilligen, zum großen Teil junge Offiziere der U-Bootwaffe, die hoch motiviert waren, neueste Ausrüstung und beste Verpflegung erhielten. Hinzu kamen als militärische Führer verdiente Offiziere, vor allem ehemalige U-Bootkommandanten.
Offiziell aufgestellt wurde das Kommando der Kleinkampfverbände am 20. April 1944, zum Admiral der Kleinkampfverbände (K-Verbände) wurde Konteradmiral Hellmuth Heye (1895–1970) ernannt, der gleichzeitig Frontbefehlshaber und zuständig für die Aufstellung der Verbände gewesen ist und dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine direkt unterstellt wurde. Dem Kommando der K-Verbände wurde ein Verbandsarzt zugeordnet, der alle medizinischen Fragen zu bearbeiten hatte. Durch Zufall haben sich zwei medizinische Kriegstagebücher der beiden Dienstposteninhaber erhalten, die Auskunft über die Verwendung von Aufputschmitteln geben [6][33]. Marinestabsarzt Dr. Armin Wandel (1913–1994) war der erste Verbandsarzt, er führte Durchschläge seiner gesamten Kriegstagebücher. Wandel wurde später in der Bundesmarine Flottenarzt und Leiter des Schiffahrtmedizinischen Instituts der Marine in Kiel.
Er reiste am 16. März 1944 nach Kiel durch und traf sich dort mit Admiral Heye und einem weiteren Sanitätsoffizier der Marine, Marinestabsarzt Prof. Dr. Gerhard Orzechowski (1902–1977), Pharmakologe beim Sanitätsamt des Marineoberkommando Ostsee in Kiel und Professor für Pharmakologie an der Kieler Universität.
An diesem 16. März 1944 befanden sich die Kleinkampfmittel im vollen Aufbau, ein Einsatz gegen den Feind hatte noch nicht stattgefunden. Man plante einen Überraschungsschlag mit 60 Einmanntorpedos im Golf von Gaeta in Italien gegen amerikanische Landungsschiffe. Anlässlich der Zusammenkunft in Kiel stellte Heye die Forderung nach einem ...
„... Medikament, das den Soldaten, der sich über die normale Zeit hinaus als Einzelkämpfer im Einsatz befindet und nicht in der Lage ist, zu schlafen, wach und einsatzfähig hält. Gleichzeitig soll das Medikament das Selbstgefühl des Soldaten heben und seine Kraftreserven mobilisieren“ [33].
Wandel schreibt weiter, von Prof. Orzechowski wird das Wort geprägt, „den Mann zum Raubtier“ zu machen. Das Medikament sollte sehr schnell beschafft werden, um für den bevorstehenden Kampfeinsatz in Italien zur Verfügung zu stehen. Orzechowski schlug daraufhin eine Kombination vier verschiedener Mittel vor, nämlich Metamphetamin, das stark analgetisch wirkende Morphiumderivat Dicodid (Oxycodon), etwa 7fach stärker analgetisch wirkend als Morphium,das erheblich suchterzeugende Hustenmittel und Codeinabkömmling Eukodal (Hydrocodon) und schließlich reines Cocain, das seit langem bekannte zentralerregende Anästhetikum. Es handelte sich hier somit um einen Cocktail sehr starker zentral erregender und euphorisierender Rauschmittel mit erheblicher psychischer und physischer Wirkung und bei regelmäßiger Einnahme durchaus großem Abhängigkeitspotential. Die Substanzen fielen bereits damals unter das Betäubungsmittelgesetz. Cocain in Pulverform herzustellen war gesetzlich untersagt.
Die Droge D IX
Orzechowski stellte insgesamt 10 Varianten mit wechselnder Dosierung zusammen. Bereits einen Tag später, am 17. März, wurden in der Lazarettapotheke des Marinelazaretts Kiel je fünf Tabletten der 10 Dosierungen hergestellt. Am 18. März fanden in einem Ausbildungslager der K-Verbände an der Ostsee Tests an 50 Soldaten statt. Dabei stellte man fest, dass die abends eingenommene Dosis IX die höchste Wirksamkeit hinsichtlich der Wachsamkeit hatte und die Marinesoldaten, die Fragebögen ausfüllten, die Nacht ohne unliebsame Nebenwirkungen überstanden. D IX setzte sich aus 5 mg Eukodal, 5 mg Cocain und 3 mg Metamphetamin zusammen. Wenige Tage später trug Wandel die Ergebnisse dem Sanitätschef der Kriegsmarine, Admiralstabsarzt Dr. Emil Greul (1895–1993), vor, erhielt dort hinsichtlich der Nutzung des Cocains Rückendeckung und berichtete auch Admiral Heye. Daraufhin wurde D IX für den Einsatz der Einmanntorpedofahrer festgelegt und 500 Tabletten in Kiel angefordert.
Am Abmarschtag der Truppe nach Italien, dem 30. März 1944, erhielt die Marine seltenen, aber interessanten Besuch von der SS. Denn der als Mussolini-Befreier bekannte SS-Sturmbannführer Otto Skorzeny (1908–1975), ein Spezialist für Kommandounternehmen, besuchte die Kleinkampfmittel und ließ sich Waffen vorführen. Wandel schreibt darüber hinaus, dass Skorzeny 1 000 Tabl. D IX zur Verfügung gestellt wurden, um sie bei seinen SS-Männern in besonderem Einsatz durchzuprobieren. Mit dem 30. März 1944 endet Wandels Kriegstagebuch infolge Versetzung.
Über den tatsächlichen Einsatz von D IX in den K-Verbänden liegen kaum zuverlässige Berichte vor. Nach aller Wahrscheinlichkeit führten die Kombinationspräparate gerade in psychisch und physisch schwierigen Gefechtssituationen zu erheblichen Nebenwirkungen und wurden wohl kaum eingenommen. Tatsache ist aber, dass die Soldaten, die mit ihren technisch nicht ausgereiften Systemen unter härtesten Bedingungen von entfernten Basen aus gegen alliierte Flottenverbände operieren mussten, in großem Maßstab Stimulantien von den betreuenden Sanitätsoffizieren erhielten. Wie der Nachfolger von Wandel später berichtete, sah man dabei die Einnahme des „bewährten“ Pervitins für einen Einsatz bis zu 2 Tagen als genügend an. Wie auch aus vielen persönlichen Berichten von Angehörigen der K-Verbände bekannt, war die Gabe von Metamphetamin bei den Einsätzen die Regel, berichtet wird sogar über eine Einnahme von 15 bis 20 Tabletten täglich, was zu schwersten Nebenwirkungen und bis zu sieben Tagen Schlafentzug führte.
Nachfolger Wandels als Verbandsarzt der K-Verbände wurde Marinestabsarzt Dr. Hans-Joachim Richert. Von ihm hat sich im Bundesarchiv/Militärarchiv ein K.T.B. erhalten, das allerdings erst am 1. September 1944 beginnt und am 30. November desselben Jahres endet [6]. Die im K.T.B. verzeichneten und u. a. Ereignisse wurden erstmals 1994 durch den Verfasser ausgewertet und publiziert 13]. Vor und nach diesen Daten gibt es keine offiziellen Aufzeichnungen mehr.
Der Seehund
Die Kriegslage hatte sich mittlerweile für die deutsche Seite weiter verschlechtert, die Alliierten waren in der Normandie gelandet und konnten nicht zurückgeschlagen werden.
Wichert schreibt in seinem K.T.B:
„Die Lage zwingt dazu, jeden waffenfähigen Mann zum Kampfeinsatz zu bringen. Verlangt wird die erforderliche Härte und Festigkeit. Überlastungen und Verluste sind möglich. Sie können das ärztliche Gewissen nicht belasten, die Lage fordert jeden Einsatz.“[6][S.5][Eintragvom11.Oktober1944]
In diesem Spätjahr 1944 klammerte sich die Marine an den Einsatz eines neuen revolutionären Kleinkampfmittels. Man hatte ein überaus tauchfähiges Zwei-Mann Unterseeboot entwickelt, mit dem man in die Themsemündung und an die Strände in der Normandie operieren und mit zwei verfügbaren Torpedos alliierte Schiffe anzugreifen gedachte. Dieses neuartige U-Boot erhielt den Namen „Seehund“. Im Seehund saßen die beiden Piloten sehr beengt in gepolsterten Stühlen hintereinander. Die Rückenlehnen des vorderen Sitzes konnten ungelegt werden, sodass eine Person zeitweise zu liegen vermochte. Die Lufterneuerung basierte auf dem Injektorverfahren, für die Erwärmung konservierter Lebensmittel war ein heizbarer Topf vorgesehen. Dem hinten sitzenden und die Maschinenanlage bedienenden Leitenden Ingenieur stand nur sehr wenig Bewegungsfreiheit zur Verfügung, während der vorne befindliche Kommandant immerhin im Turm sitzen oder stehen konnte. Dr. Richert, der das Projekt von Anfang an betreute, bemerkte schon früh, dass ein „Aushalten für 4 Tage in diesem Kampfmittel ... schwierig und ohne Reizmittel nicht immer möglich sein [wird]“ [6][S.5][Eintragvom11.Oktober1944]. Für diese Systeme bedurfte es somit eines viel weitergehenden wachhaltenden und leistungssteigernden Präparates, da die zweiköpfige Crew bis zu vier Tage und vier Nächte ununterbrochen im Einsatz stehen sollte. Richert schreibt in seinem Kriegstagebuch:
„Die militärische Führung steht auf dem Standpunkt, daß in diesem Krieg, wenn es erforderlich ist, auch Schädigungen durch stark wirkende Medikamente in Kauf genommen werden müssen, sofern sie die Durchführung von Einsätzen ermöglichen“ [6][S.5]. 2
Am 11. Oktober 1944 traf er sich im Hauptquartier der K-Verbände in Timmendorfer Strand mit dem schon bekannten Prof. Orzechowski und besprach mit ihm die Möglichkeit von Versuchen mit neuen Kombinationen von Rauschmitteln. Anlässlich eines Besuchs des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz (1891–1980) neun Tage später, am 20. Oktober, hielt Richert Vortrag und berichtete ihm von der Notwendigkeit und Erprobung neuartiger wachhaltender Substanzen für eine Einsatzdauer von 96 Stunden.
Abb. 3: Klein-U-Boot Seehund – mit einer Zweimann-Besatzung für mehrtägige Einsätze vorgesehen und eingesetzt. (Musee national de la Marine, Brest, France)
Sachsenhausen
Die Ereignisse der kommenden vier Wochen sind unklar und finden kein Korrelat im Kriegstagebuch. Jedenfalls fährt Richert gemäß seinem Eintrag im K.T.B am 16. November in das Konzentrationslager Sachsenhausen, um dort eine Testung von Drogen gemäß der Besprechung mit Prof. Orzechowski vom 11. Oktober vorzunehmen. Er schreibt:
„Dieser erste Versuch dient der Klarstellung über Verträglichkeit und Wirkung von hohen Dosen Cocain in Pillenform und Kaugummi, hohen Dosen Pervitin in Kaugummiform und kleineren Dosen Cocainum hydrochloricum und basicum in Kaugummiform“ [6][Eintragvom16.November1944].
Das Versuchsprotokoll ist als Anlage zum K.T.B. vollständig erhalten; es wird übrigens mit keinem Wort erwähnt, dass es sich bei den Probanden um Häftlinge handelte. Die Dosen der angewandten Drogen überstiegen diejenigen, die im März im Rahmen der D IX-Tests bei Soldaten verwendet wurden um das 7–20fache. Den zwischen 18 und 43 Jahre alten Testpersonen in gutem Ernährungszustand verabreichte man in 2 Gruppen über 4 Tage die Substanzen. Die Teilnehmer brachten es in diesen 4 Tagen dann auf durchschnittlich 2–3 Stunden Schlaf – und das auch nur mit viel Mühe nach einem 90 km Gepäckmarsch. Die Kaugummiversion des Cocains infolge Resorption über die Mundschleimhaut schien gewisse Vorteile zu bieten. Das Resümee dieser Untersuchungen:
„Eindrucksvoll ist die Verringerung des Schlafes. Bei dieser Arzneiwirkung sind Veranlagung und Wille weitgehend ausgeschaltet. ... Die Versuchspersonen wurden offensichtlich in einen ihrer Veranlagung widersprechenden Zustand durch die Arzneimittelwirkung gezwungen“ [6].
Als Schlussfolgerung des Versuchs formulierte Richert, dass das Ziel, Menschen vier Tage und Nächte ohne oder nur mit geringer Schlafmöglichkeit wach und leistungsfähig zu halten, bei Anwendung der Mittel im Bereich der Möglichkeit liege. In weiteren Versuchen müsse dies bestätigt werden und gleichzeitig sei es dann notwendig, auch die Konzentrationsfähigkeit zu prüfen. Mit diesen Ausführungen enden das Versuchsprotokoll Richerts und auch das erhaltene Kriegstagebuch. In ihrem Buch „Medizin und Verbrechen“ [15] über das Krankenrevier des Konzentrationslagers Sachsenhausen führen die Autoren Astrid Ley und Günter Morsch die Versuche weiter aus und berichten, dass die Häftlinge dem sogenannten Schuhläuferkommando angehörten. Die bis zu 170 Häftlinge des Kommandos hatten die zusätzliche Aufgabe, Schuhe und Sohlen der Lederersatzstoffindustrie zu prüfen. Von morgens bis abends waren bei jedem Wetter teils mit Sandsäcken beladen lange Strecken auf einem speziellen 700 m langen Parcours mit unterschiedlichem Untergrund zurückzulegen. Diese Trageversuche wurden somit mit den Pervitin-Kokain-Versuchen kombiniert. Bisher konnte nur eines der Opfer identifiziert werden:
„Der 1924 geborene Berliner Günther Lehmann. … Im Juli 1944 wurde der eben 20 Jahre alt gewordene Lehmann in das Strafkommando ‚Schuhläufer‘ eingewiesen, weil er offenbar versucht hatte, die geringen Essensrationen im Lager etwas zu ergänzen. Im November wurde er als Versuchsperson missbraucht: In Richerts Bericht ist er als Nummer 3 der ersten Gruppe genannt. Dem Bericht zufolge erhielt der ‚trainierte Marschierer‘ am ersten Versuchstag 75 mg Kokain und lief daraufhin 14 Stunden lang ‚mit 25 Pfund schwerem Tornister‘ auf der Teststrecke im Kreis. Während des viertätigen Versuchs schlief er lediglich fünf Stunden“ [15][S.367–368]
In der heutigen Gedenkstätte Sachsenhausen erinnert im ehemaligen Krankentrakt des Lagers ein Faksimile des Versuchsprotokolls an die Opfer.
Ob es zu weiteren Versuchen im Konzentrationslager Sachsenhausen gekommen ist, ließ sich bisher nicht eruieren, auch nicht im Rahmen von Symposien, Archivrecherchen oder der Auswertung der einschlägigen Literatur. Auch die näheren Umstände dieser durch die Marine in Sachsenhausen durchgeführten Versuche sind völlig unklar. Nicht aufgeklärt werden konnte, wer den Antrag auf Versuche in einem Konzentrationslager stellte, wer ihn genehmigte und wer offiziell die Verantwortung hatte. Abgesehen von einer über Tage andauernden Durchführung von Menschenversuchen durch Marineangehörige war normalerweise bereits der Besuch eines Konzentrationslagers durch Wehrmachtangehörige nur durch höchste Stellen der SS zu genehmigen. Der Sanitätschef der Kriegsmarine, Admiraloberstabsarzt Dr. Emil Greul (1895–1993) hat stets bestritten, von den Ereignissen gewusst zu haben. 3
Ob die in Sachsenhausen getesteten Substanzen für die Besatzungen der Seehunde jemals produziert und ausgegeben wurden, lässt sich ebenfalls nicht mehr feststellen. Tatsächlich erhielten die Seehund-Fahrer, die ab Januar 1945 an die Front geschickt wurden, in großem Maßstab Stimulantien, auch Kaugummis, wie aus den Erinnerungen Überlebender bekannt ist. Es sind Berichte von 5–7-tägigen Fahrten ohne Schlaf erhalten, die Soldaten haben teilweise bis 20 Tabletten Stimulantien am Tag zu sich genommen. Im Bericht eines Seehund-Fahrers heißt es:
„Wir fühlten uns irgendwie überglücklich und fast gewichtslos, die beleuchteten Armaturen im Boot (Kompaß und Uhr) schienen Form und Größe verändern, alles erschien in unwahrscheinlicheren Farben und dazu hörten wir phantastische Musik“ [1].
Es muss davon ausgegangen werden, dass durch solche stärksten Stimulantien bei der technischen Komplexität und in den schweren Kampfsituationen zahlreiche Unglücks- oder Todesfälle von Besatzungsangehörigen bereits bei der Ausbildung als auch dann bei den Einsätzen verursacht wurden.
Abb. 4: Häftlingsbaracke des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen (Foto: Flottenarzt Dr. Hartmann, München)
Schlussbemerkung
Dieser letzte Einsatz von zweifelhaften Drogen in der Kriegsmarine mit allen seinen Zusammenhängen bildet den Schluss- und Höhepunkt einer seit 1938 anhaltenden unheilvollen Entwicklung. Die Gefahren der Gabe von Metamphetamin waren allen Beteiligten früh bekannt und in jedermann zugänglichen Vorschriften formuliert. Trotzdem kamen solche zentralen Stimulantien zum Einsatz und wurden in immer höheren Dosierungen und diversen Zusammensetzungen bis hin zu verbrecherischen Menschenversuchen in Konzentrationslagern getestet. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass leistungssteigernde Medikamente (Benzedrine) auch in anderen Marinen, z. B. der Royal Navy, verwendet wurden. Es stellt sich aber auch vor dem Hintergrund aktueller militärischer Bestrebungen im Rahmen von pharmakologischem Human Performance Enhancement die ethisch relevante Frage, wieweit Sanitätsdienste heute gehen dürfen, um bei den Soldaten die Leistungsfähigkeit in kritischen Situationen aufrecht zu halten bzw. Schmerz, Müdigkeit und Vigilanzverlust entgegenzutreten.
Literatur und Quellen
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- BArch Freiburg RM 61 II/121, Verbandsarzt beim B.S.N.: Besondere Hinweise, April 1940-Februar 1945.
- BArch Freiburg, RM 103–10/6. Ärztliches Kriegs-Tagebuch des Kommandos der K-Verbände für die Zeit vom 1. September 1944 bis 30. November 1944. Geführt von Marinestabsarzt Dr. Richert. Einschließlich Eintrag GKdoS „Arzneimittelversuch zur Hebung der Leistungsfähigkeit und Wachhaltung vom 17.-20.11.44.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Hartmann V: Neuro-Enhancement in der Wehrmacht am Beispiel von Pervitin – Sachstand und Quellenlage. WMM 2021; 65(11): e1.
Verfasser
Flottenarzt Dr. Volker Hartmann
Sanitätsakademie der Bundeswehr
Neuherbergstr. 11, 80937 München
E-Mail: volkerhartmann@bundeswehr.org
Manuscript data
Citation:
Hartmann V: Use of Pervitin as an Exemple for Neuro Enhancement in the Wehrmacht – Current State of Research and Source Situation. WMM 2021; 65(11): e1.
Author
Captain (Navy MC) Dr. Volker Hartmann
Bundeswehr Medical Academy
Neuherbergstr. 11, D-80937 Munich
E-Mail: volkerhartmann@bundeswehr.org
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags beim 9. Wehrmedizinhistorischen Symposiums der Gesellschaft für Geschichte der Wehrmedizin e. V. in Zusammenarbeit mit der Sanitätsakademie der Bundeswehr und dem Arbeitskreis Geschichte und Ethik der Wehrmedizin der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. am 17.11.2017. Vgl. auch schriftliche Fassung des Vortrags: HARTMANN (2017): Volker Hartmann, Neuro-Enhancement am Beispiel von Pervitin in der Wehrmacht. In: Militärpsychiatrie im Spiegel der Geschichte, Referatebände – Band 9, Im Auftrag der Gesellschaft für Geschichte der Wehrmedizin e. V. , hrsg. von Ralf Vollmuth, Erhard Grunwald und André Müllerschön, Bonn 2019, S. 97–116.
2 Dieser bemerkenswerte Einlass im K.T.B. kann auch als Verantwortungsübertragung an die Führung und Distanzierung gewertet werden. Er bezieht sich auf eine Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW 829/44), der auch bei anderen Verbänden zitiert wird [5].
3 Persönliche Nachricht Hartmut Nöldeke v. 1993