Wehrmedizinische Monatsschrift

„Der Deutsche Militärarzt 1936–1944“:
Psychiatrie und Psychotherapie im Spannungsfeld zwischen ­wissenschaftlicher Fachgesellschaft, Nationalsozialistischer Ideologie und Zweitem Weltkrieg

Kurze Zusammenfassung einer Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Zahnheilkunde in der Medizinischen Hochschule Hannover

Friederike Csötönyia

Hintergrund

Die Zeitschrift „Der Deutsche Militärarzt“ war in den Jahren 1936–1944 das zentrale, von Wissenschaftlern, Ärzten und der deutschen militärärztlichen Gesellschaft genutzte Publikationsorgan zur Veröffentlichung von Mitteilungen, wissenschaftlichen Beiträgen sowie Veranstaltungsberichten. Autoren dieser Fachzeitschrift waren führende Sanitätsoffiziere der Wehrmacht und anderer Organisationen des Nationalsozialismus, also eine politisch geprägte Autorenschaft.

Ziel der dieser Dissertation zugrunde liegenden Literaturrecherche war es, die wissenschaftlichen Publikationen aus „Der Deutsche Militärarzt“ aus den Bänden 1936–1944 daraufhin zu untersuchen, inwieweit die medizinischen Disziplinen Psychiatrie und Neurologie einen Schwerpunkt in den wehrmedizinischen Publikationen darstellten, ob die nationalsozialistische Ideologie Einfluss auf die wissenschaftlichen Aussagen ausübte und inwieweit sich Beeinflussungen auf Therapiemaßnahmen zeigten. Weiterhin wurde anhand der Sterbetafeln erörtert, ob deren im Kriegsverlauf steigende Anzahl Folgen in Form einer zunehmenden verbrämenden ideologischen Prägung der Artikel aufzeigt.

Ergebnisse

Die zerstörerischen Auswirkungen von Maschinenwaffen riefen nach Beginn des Ersten Weltkrieges massenhaft seelische Traumatisierungen hervor [5]. Plötzlicher Stimmverlust, allgemeiner Körpertremor, Lähmungen und Zittern stellten einige Symptome der Kriegsneurosen dar, die nach heutiger Einschätzung den dissoziativen Störungen zuzuordnen sind [6]. Zur Eingrenzung des Phänomens der „Kriegsneurose“ und als wirkungsvollen Beitrag für den geplanten siegreichen Ausgang des ­Krieges entwickelten die Militärpsychiater Therapiemethoden wie die „Kaufmann-Kur“ oder die „Mucksche Kehlkopftherapie“. Auf dem 1916 abgehaltenen kriegspsychiatrischen Kongress in München wurde die „aktive Kriegsneurotikertherapie“ – u. A. mit dem Einsatz von Elek­troschocks – als entscheidende Wende für das Behandlungskonzept der Kriegsneurose beschlossen [4]. Die ökonomische Deutung war bestimmend, denn ein Zusammenhang zwischen der zivilen Form der Rentenhysterie nach Arbeitsunfällen und der Kriegshysterie wurde angenommen [3].

Nach Beendigung des Krieges kam es unter den „Kriegsneurotikern“ zur Besserung der Symptome, sodass ihnen eine bewusste Zweckreaktion zur frühzeitigen Rückkehr in die Heimat unterstellt wurde. Auch für die 1918 stattgefundene Novemberrevolution wurden in konservativen Kreisen die Kriegszitterer in großen Teilen verantwortlich gemacht, wodurch die ideologische Verachtung gegenüber der „Kriegsneurose“ im aufkommenden Nationalsozialismus zunahm [2].

Abb. 1: Der Deutsche Militärarzt, Heft 9, September 1944

Bei den deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg fand ein Symptomwandel statt: dissoziative Störungen kamen nur ganz vereinzelt vor, somatoforme und psychosomatische Erkrankungen traten deutlich häufiger auf [6]. Vor allem gastrointestinale Symptome wie Übelkeit oder Oberbauchbeschwerden überwogen und führten im Verlauf des Krieges zur Rekrutierung von Sonderformationen wie den sogenannten „Magenbataillonen“. Die Einstellung der Führung und die Akzeptanz unter den Militärpsychiatern sank nun mit zunehmenden (scheinbaren) Wissen um die Genese der Erkrankungen deutlich. Eine Willensschwäche oder gar charakterliche Minderwertigkeit des Betroffenen wurde angenommen [6]. Im Rahmen wissenschaftlicher Tagungen während des Zweiten Weltkrieges wurden die Sanitätsoffiziere der Wehrmacht über derartige Erkrankungen unterrichtet und fachliche Richtlinien für die Therapie vorgegeben. Die Fachzeitschrift „Der Deutsche Militärarzt“ berichtete ­hierüber und diente als Meinungsbildner [1].

Heutige Erkenntnisse der Psychotraumatologie können helfen, die Gründe des Wandels von den dissoziativen Störungen des Ersten Weltkrieges zu den somatoformen Störungen des Zweiten Weltkrieges zu erklären. Beide Krankheitsbilder treten als traumatische Erlebnisverarbeitung im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung auf.

Fazit

Zusammenfassend konnte anhand der Ergebnisse der Untersuchung ein überwiegender Einfluss nationalsozialistischer Ideologie auf die wissenschaftlichen Publikationen deutscher Psychiater, Neurologen und Sanitätsoffiziere im Vergleich zur internationalen Literatur während des Nationalsozialismus belegt werden.

Literatur (Auswahl)

  1. Berger G: Die beratenden Psychiater des deutsche Heeres 1939–1945. Frankfurt/M, Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften1998.
  2. Gaupp R: Die psychischen und nervösen Erkrankungen des Heeres im Weltkrieg. Der Deutsche Militärarzt 1940; 5: 358–368.
  3. Michl S, Plamper J: Soldatische Angst im Ersten Weltkrieg. Die Kariere eines Gefühls in der Kriegspsychiatrie Deutschlands, Frankreichs und Russlands. Gesch Ges 2009; 35: 209–248. mehr lesen
  4. Rauh P (2014): Zwischen fachärztlichem Diskurs und therapeutischem Alltag - Die Militärpsychiatrie im Ersten Weltkrieg. WMM 2014; 58(7): 251–255. mehr lesen
  5. Riedesser P, Verderber A: Maschinengewehre hinter der Front. Frankfurt M. Fischer Taschenbuch Verlag 1996.
  6. Zimmermann P, Hahne HH, Biesold KH, Lanczik M: Psychogene Störungen bei deutschen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Fortschr Neurol Psychiatr 2005: 73: 91–101. mehr lesen

Die vollständige Dissertation steht unter

https://mhh-publikationsserver.gbv.de/receive/mhh_mods_00001965
zum Download zur Verfügung.

Verfasserin

Oberfeldarzt Friederike Csötönyi

Sanitätsversorgungszentrum Augustdorf

Oralchirurgische Ambulanz

Stapelager Str. 200, 32832 Augustdorf

E-Mail: friederikecsoetoenyi@bundeswehr.org