Wehrmedizinische Monatsschrift

Messung der Arbeitsgedächtnisleistung im Rahmen von Verlaufsuntersuchungen: Lerneffekte am Beispiel der Digit Span Backward (Poster-Abstract)

Alexander Witzkia, Karsten Sönnichsena, Ursa Nagler-Nitzschnera, Dieter Leyka,b

a Institut für Präventivmedizin der Bundeswehr, Andernach/Koblenz

b Deutsche Sporthochschule Köln

 

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Hintergrund

Das Arbeitsgedächtnis wird täglich bei zahlreichen Aufgaben benötigt und ist für kognitive Funktionen essenziell (Lernen, Urteilen usw.). Die valide Messung der Arbeitsgedächtnisleistung ist eine Voraussetzung, um z. B. Erkrankungen, Erfolg bzw. Nebenwirkungen von Therapien oder Wirkungen von Gehirntrainings bewerten zu können. Beispielweise können Narkosen, über den gewünschten Effekt während einer Operation hinaus, längerfristige Auswirkungen auf die mentale Leistungsfähigkeit haben [1]. Zu deren Untersuchung und ihrer Dauer eignet sich die Digit Span Backward. Dieses Testverfahren erfasst das Arbeitsgedächtnis als zentralen Indikator mentaler Leistungsfähigkeit [3].

Veränderungen mentaler Leistungsfähigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg werden mit Verlaufsuntersuchungen ermittelt. Mit derartigen Studiendesigns kann beispielsweise die Auswirkung von Rehabilitationsmaßnahmen auf mentale oder auch körperliche Leistungsfähigkeit bestimmt werden. Aufgrund der notwendigen Messwiederholungen bei Verlaufsuntersuchungen werden Messinstrumente benötigt, die eine zuverlässige Messung der zugrundeliegenden Eigenschaft ermöglichen. Insbesondere darf allein die Tatsache einer wiederholten Messung nicht zu einer Verbesserung der Leistung führen. Derartige Lern- oder Übungseffekte würden zur Verzerrung von Verlaufsuntersuchungen führen. Diese Anforderung kann bei der Erfassung von mentaler Leistungsfähigkeit eine Herausforderung sein, da sich die Untersuchungsteilnehmenden an zurückliegende Messungen und ihre Antworten erinnern können. Daher müssen Messinstrumente und die einzelnen Aufgaben so konzipiert werden, dass Lerneffekte idealerweise nicht auftreten bzw. kontrolliert werden können. Der Nachweis muss für jedes neu entwickelte Instrument im Rahmen der Testevaluation erfolgen.

Ziel der vorliegenden Studie war die Evaluation des Einflusses wiederholter Messungen auf die Arbeitsgedächtnisleistung, gemessen mit einer speziell für den Einsatz im Bundeswehrzentralkrankenhaus (BwZKrhs) Koblenz implementierten Version der Digit Span Backward.

Methode

In der Digit Span Backward werden 3–8 einstellige Zahlen auf einem Tablet-PC hintereinander dargeboten. Aufgabe der Untersuchungsteilnehmenden ist es, die Ziffern im Anschluss in der umgekehrten Reihenfolge wiederzugeben. Die Eingabe erfolgt über den Touchscreen. Die einzelnen Aufgaben (Ziffernfolgen) werden automatisch für jede Testung neu generiert.

Studiendesign und Untersuchungsteilnehmende

Die Messungen fanden für alle Untersuchungsteilnehmenden an fünf aufeinanderfolgenden Tagen zu einer ähnlichen Tageszeit statt. 35 Personen wurden vor der ersten Testung über die Studie aufgeklärt und gaben ihre Einwilligung. Nach Abschluss der Testung erfolgte eine standardisierte Befragung zum Testablauf (Fragen nach Störungen, Konzentrationsproblemen, Strategiewechseln usw.). Die Daten von drei Personen mussten von der Auswertung ausgeschlossen werden, da sie nur an einer Testung teilnahmen (2 Personen) bzw. bei einem Termin einen Strategiewechsel angaben, der die Testleistung potenziell beeinflussen konnte (1 Person). Die 32 Teilnehmenden waren je zur Hälfte Frauen und Männer und hatten ein durchschnittliches Alter von 36,9 ± 10,8 Jahren.

Statistik

Zur Ermittlung der Zuverlässigkeit der Digit Span Backward (Retest-Reliabilität) wurden Pearson Korrelationen zwischen den Testzeitpunkten berechnet. Leistungsunterschiede wurden mittels t-Tests für verbundene Stichproben für jeweils aufeinanderfolgende Testzeitpunkte (Tag1 mit Tag2, Tag2 mit Tag3 etc.) analysiert und die zugehörigen Durchschnittsdifferenz-Effektstärken bei Messwiederholungen (Cohen’s dz) berechnet. Als Streuungsmaße werden Standardabweichung im Text und Standardfehler in der Abbildung angegeben.

Ergebnisse

Analysen ergaben eine Retest-Reliabilität über alle Testzeitpunkte von r = 0,75 - 0,85. Wie in Abbildung 1 dargestellt, konnte eine signifikante Verbesserung der Leistung nur für die ersten beiden Testzeitpunkte nachgewiesen werden (t1,2 = 4,49, p < .001, dz = 0,79; t2,3 = 1,68, p = .31, dz = 0,30, t3,4 = 0,60, p = .56, dz = 0,11; t4,5 = 1,14, p = .52, dz = 0,20).

Abb. 1: Durchschnittliche Anzahl und Standardfehler der richtig wiedergegebenen Ziffern in der Digit Span Backward zu den 5 Testzeitpunkten
Abkürzungen: M = Mittelwert, SE = Standardfehler; *** p < .001, n.s. = nicht signifikant.

Diskussion

Die Digit Span Backward ist ein zuverlässiges Verfahren zur Messung der mentalen Leistungsfähigkeit. Die gefundenen Reliabilitätswerte entsprechen den in der Literatur berichteten Werten [2].

Die vorliegende Studie enthält, entgegen der Standardvorgehensweise kognitionspsychologischer Studien, keine Trainingsphase, in der die Studienteilnehmenden mit den Tests vertraut gemacht werden und diese in Übungsdurchgängen kennenlernen und trainieren können. Entsprechend wäre dies ein Kritikpunkt am Studiendesign. Im vorliegenden Fall ist es allerdings notwendiger Teil des Studiendesigns, da es ein Indikator für den erforderlichen Trainingsumfang ist. In diesem Design kann die erste Testung mit der üblichen Trainingsphase gleichgesetzt werden. Die signifikante Verbesserung zwischen den ersten beiden Messungen kann folglich durch die mangelnde Vertrautheit mit dem Verfahren erklärt werden – alle Studienteilnehmenden hatten keine Vorerfahrungen mit der Digit Span Backward. Dieser Effekt kann also eher als Übungseffekt (im Sinne der Verbesserung bei der Problemexposition mit einem neuen Testverfahren) denn als Lerneffekt (im Sinne der Verbesserung der Arbeitsgedächtnisleistung) interpretiert werden.

Fazit

Insgesamt sind die Ergebnisse ein Beispiel dafür, dass selbst bei etablierten, reliablen und validen Verfahren, die stabile Eigenschaften messen, Leistungsverbesserungen auftreten können. Dies zeigt die Notwendigkeit einer Methodenevaluation vor einer derartigen Nutzung und sollte gerade im Rahmen der Verlaufsdiagnostik berücksichtigt werden.

Bezogen auf die getestete Version der Digit Span Backward kann konstatiert werden, dass sie für vergleichende Längsschnittstudien eingesetzt werden kann, wenn vor der ersten Messung eine Trainingsphase eingeplant wird. Somit steht ein Testverfahren zur Verlaufsmessung von mentaler Leistungsfähigkeit zur Verfügung, das sowohl im klinischen (z. B. Auswirkungen von Narkosen) als auch im beruflichen Kontext (z. B. Auswirkungen von Ermüdung, Stress, Hitze) eingesetzt werden kann.

Literatur

  1. Caza N, Taha R, Qi Y, Blaise G: The effects of surgery and anesthesia on memory and cognition. In W. S. Sossin, J.-C. Lacaille, V. F. Castellucci, & S. Belleville (Eds.), Progress in brain research: Essence of memory 2008; 169: 409–422. mehr lesen
  2. Conway ARA, Kane MJ, Bunting M F, Hambrick DZ, Wilhelm O, Engle RW: Working memory span tasks. A methodological review and user’s guide. Psychonomic Bulletin and Review 2005; 12(5): 769–786. mehr lesen
  3. Oberauer K, Süß HM, Schulze R, Wilhelm O, Wittmann WW: (2000). Working memory capacity – Facets of a cognitive ability construct. Personality and Individual Differences 2000; 29(6): 1017–1045. mehr lesen

 

Für die Verfasser

Dr. Alexander Witzki

Institut für Präventivmedizin der Bundeswehr

E-Mail: InstPraevMedBwA3@bundeswehr.org

Posterpräsentation beim 52. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. am 15. Oktober 2021 in Koblenz