Wehrmedizinische Monatsschrift

ORIGINALARBEIT

Human Enhancement – alter Wein in neuen Schläuchen oder tatsächlich eine Herausforderung für die Wehrmedizin?

Human Enhancement – old wine in new bottles or really a challenge for military medicine?

Oliver M. Erleya, Annika Verginb, Christian Haggenmillerc, Stefan Sammitoa

a Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe, Köln
b Planungsamt der der Bundeswehr, Berlin
c Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg

Zusammenfassung

Human Enhancement (HE) bzw. Human Performance Enhancement (HPE) ist gelebte Praxis in multinatio­nalen militärischen Einsätzen. Vornehmlich kulturell begründete Dissonanzen zwischen den unterschied­lichen NATO-Partnernationen bei den Verfahrensweisen im Umgang mit diesem Thema führen zu Verun­sicherungen bei den deutschen Kontingentanteilen, den Einsatzsoldatinnen und -soldaten ebenso wie bei truppendienstlichem Führungs- und sanitätsdienstlichem Betreuungspersonal. Das Fehlen einer trennscharfen Begriffsabgrenzung zwischen (medizinisch indizierter) Therapie, Human Performance Degradation (HPD), HE, Human Performance Optimization (HPO) und HPE erschwert eine zielführende Auseinandersetzung im nationalen wie internationalen militärischen und vor allem wehrmedizinischen Kontext zusätzlich.

Ziel des Beitrags ist es, eine praktikable Begriffsdefinition zu erarbeiten und Möglichkeiten und Risiken von Maßnahmen des HE zu betrachten.

Dazu erfolgte eine Literaturrecherche, die auch in internationalen Datenbanken nicht verfügbare militärische und zivile Publikationen einschloss.

Als Ergebnis ist festzustellen, dass es dringend interdisziplinärer sanitätsdienstlicher Aktivitäten bedarf, um geeignete bzw. relevante HE-Maßnahmen zu identifizieren, wissenschaftsbasierte Beratungsleistungen für politische und militärische Entscheidungsträger zu ­erbringen, sowie einen medizinisch und medizinethisch fundierten Diskurs zu befördern.

Schlüsselwörter: Therapie, Human Performance Degra­dation, Human Enhancement, Human Performance Optimization, Human Performance Enhancement, Ethik

Summary

Human Enhancement (HE) or Human Performance Enhancement (HPE) is daily reality in multinational ­military operations. In particular, culturally based discrepancies among different NATO nations with respect to the procedures relating to this issue lead to uncertainty among German contingent elements, soldiers deployed, administrative command personnel and ­military medical personnel. The lack of a clearly distinct definition distinguishing between (medically indicated) therapy, Human Performance Degradation(HPD), HE, Human Performance Optimization (HPO) and HPE makes it rather difficult to deal with this subject expe­diently in a national as well as an international military and especially military medical context.

This article aims to develop a feasible definition and will take a look at the possibilities and risks of HE measures.

For this reason, a literature research was conducted, including also military and civilian publications not available in international public databases.

As result can be stated that there is an urgent need for interdisciplinary military medical activities to identify suitable and relevant measures, to provide science-­based counselling to political and military decision-­makers, and to further a well-informed medical and medical ethical discourse.

Keywords: therapy, human performance degradation, human enhancement, human performance optimization, human performance enhancement, ethics

Hintergrund

Die Begrifflichkeiten Human Enhancement (HE) bzw. Human Performance Enhancement (HPE) stehen in der jüngsten Vergangenheit sowohl national wie international vermehrt im Fokus von Forschungsaktivitäten. So hat sich die „NATO Science and Technology Organisation“ (STO) bereits 2009 [16] mit dieser Thematik beschäftigt, national steht HE im Fokus zahlreicher Aktivitäten zur Zukunftsplanung der Bundeswehr [6], [10], [12] und hat mit der Schwerpunktsetzung in der Dezemberausgabe des Jahres 2018 der Wehrmedizinischen Monatsschrift Eingang in die Wehrmedizin gefunden [15].

Schon heute sind in den multinationalen Einsätzen HE-Maßnahmen geübte Praxis. So wird Modafinil® zur Förderung der Wachheit – zumindest bei einigen Partnernationen [19], [21] – bereits eingesetzt. Und aus dieser Praxis der vornehmlich medikamentösen Leistungssteigerung ergeben sich praxis- und v. a. einsatzrelevante Herausforderungen für die Wehrmedizin. Die ärztliche Kompetenz ist konfrontiert mit Nachfragen sowohl zu Wirkungen, Nebenwirkungen und Fragen einer möglichen Verordnung als auch zu ethischen Fragen wie Verbot oder Gebot solcher Maßnahmen unter dem Aspekt der Fürsorge. Auch truppendienstliche Vorgesetzte stehen vor solchen Fragen und suchen Rat beim Sanitätsdienst.

Aber was ist HE genau? Ist es unter Umständen nur eine „Überschrift“, um an die immer knapperen (finanziellen) Ressourcen zur Auftragserfüllung zu gelangen, stellt es gar eine (moralisch) nur schwer zu überschreitende Linie der Leistungssteigerung dar oder ist es tatsächlich eine Chance für die Streitkräfte zu einer effektiveren Auftragserfüllung – bei zeitgleicher Herausforderung für Vorgesetzte und Sanitätsdienst hinsichtlich des richtigen Umganges und der Nutzen-Risiko-Abwägung?

Der vorliegende Artikel soll zunächst eine trennscharfe Abgrenzung der unterschiedlichen in diesem Themenbereich benutzen Begrifflichkeiten ermöglichen und ­Sicherheit im Umgang mit der Thematik geben. Anschließend sollen die Möglichkeiten und Risiken von Maß­nahmen des HE beispielhaft erläutert werden.

Material und Methodik

Es erfolgte zunächst eingehende Suche innerhalb des militärischen Bereiches, u. a. in NATO-Dokumenten, wie auch eine Literaturrecherche in der frei verfügbaren wissenschaftlichen Literatur. Hierzu wurde eine in PubMed durchgeführte Datenbankabfrage mit dem Suchdatum 13.02.2018 für die Schlagwörter „human“, „enhancement“ und „ethics“ mit dem Zusatz „military“ durchgeführt. Dabei konnten 20 Publikationen identifiziert werden. Die Literatur wurde für den vorliegenden Artikel ausgewertet und die wesentliche Aspekte im Sinne einer selektiven Literaturrecherche zusammengefasst.

Versuch einer Begriffsbestimmung

In der wissenschaftlichen Literatur existiert eine Vielzahl von unterschiedlichen Definitionen und Begrifflichkeiten, welche sich mit der Thematik „Human Performance“, „Human Enhancement“ bzw. „Human Performance ­Enhancement“ beschäftigen [2], [3], [4], [5], [7], [9], [13], [16], [17].

Diese sind jedoch in ihrer Betrachtungsweise zumeist unscharf. Der englische Ausdruck „enhancement“ ist mit „Erweiterung“ oder „Verbesserung“ zu übersetzen. Mit Bezug auf den Menschen wurde daraus der Begriff des HE geschaffen. Das Institute for Ethics and Emerging Technologies (IEET) als eine der international renommiertesten Institutionen auf diesem Gebiet versteht ­darunter Maßnahmen, die unter Nutzung von Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und/oder Kognitionswissenschaften versuchen, die menschliche Leistung zu verbessern [11]. HE sind nach diesem Defini­tionsversuch natürliche oder künstliche Maßnahmen, die mit oder ohne zeitliche Befristung bestehende Limitierungen des menschlichen Organismus ausgleichen oder überwinden [9], [11], [13]. Hierzu werden aktuell reproduktive Techniken sowie leistungssteigernde Verfahren oder Operationen gezählt. Zukünftige Themenfelder liegen im genetischen Engineering und bei neuralen Implantationen, spekulative Ansätze betrachten die Möglichkeiten des Gedankentransfers [11].

Dieser Versuch einer Definition bleibt aber in drei Aspekten unscharf. Er

• bleibt unbestimmt in der Zielsetzung,

• unterscheidet nicht zwischen Maßnahmen, die individuelle, physiologisch und/oder psychologisch erreichbare Grenzen respektieren oder darüber hinausgehen und

• trennt nicht zwischen medizinisch indizierten und nicht-indizierten Maßnahmen.

Diese Unschärfen begünstigen die Nutzung des Begriffs in sehr unterschiedlichen Konnotationen: von Hautpflege­produkten mit sogenannten anti-aging-Effekt bis hin zu programmierter Evolution. Damit leisten sie Missverständnissen und Fehlinterpretationen Vorschub und ­erschweren den lösungsorientierten ethischen Diskurs.

In den letzten Jahren haben sich daher weitere Begriffe etabliert. So wird teilweise der Begriff „Human Performance“ (HP) genutzt. Die Übersetzung mit „menschlicher Leistung“ greift dabei jedoch zu kurz. Im Crew Ressource Management Training der Luftfahrt beispielsweise wird „HP“ vornehmlich aus Sicht der Unfallursache betrachtet [8]. Der Ausdruck „Human Augmentation“, zu übersetzen mit „Erweiterung“ oder „Vergrößerung“, fokussiert demgegenüber weniger auf Defizite, sondern auf die Entwicklung, Verbesserung und den Ausbau bereits vorhandener menschlicher ­Fähigkeiten bis hin zu dem Bild eines “super-human”. Seit einigen Jahren wird auch die Bezeichnung „HPO“ [3] im Sinne der Optimierung menschlicher Leistung unter Berücksichtigung von Körper, Geist und – bei einigen Verfassern – der Seele genutzt und damit Maßnahmen bezeichnet, die menschliche Leistung bis zur jeweils individuellen biologischen Grenze verbessern wollen. Selbstverständlich wird in den diversen Veröffentlichungen, insbesondere im militärischen Umfeld, auch der Bereich der negativen Beeinflussung als Human Performance Degradation (HPD) betrachtet.

Gerade die Vielzahl der „Definitionen“ und die teilweisen Überlappungen in der Zielsetzung von Maßnahmen der jeweiligen Themenbereiche machen eine allgemeine und klar strukturierte Definition der einzelnen Begrifflichkeiten notwendig. Vor dem Hintergrund einer wehrmedizinischen Betrachtung sollte eine Definition der Begrifflichkeiten den Menschen, also das „humanum“ in den Vordergrund stellen. Orientiert an der aktuellen und der physiologisch möglichen maximalen Leistungsfähigkeit eines Individuums lassen sich die Begrifflichkeiten „Therapie“, „HPD“, „HPO“ und „HPE“ trennscharf definieren [6]. Ein grafisches Modell zur Erläuterung ist in der ­Abbildung 1 dargestellt.

Abb. 1: Grafisches Modell zur Definitionsabgrenzung von HPD, Therapie/Rehabilitation, HPO und HPE in Relation zu defizitärer, mittlerer und maximaler individueller Leistung (modifiziert nach [4])

Therapie bezeichnet Maßnahmen, die darauf abzielen, die Auswirkungen von Behinderungen, Krankheiten und Verletzungen zu reduzieren und optimalerweise vollständig zu negieren. Ziel ist es, eine Heilung zu ermöglichen oder zu beschleunigen, Symptome zu lindern oder zu beseitigen und körperliche oder psychische Funktionen wiederherzustellen.

Rehabilitation sind in diesem Zusammenhang nach § 1 SGB IX Maßnahmen zur Wiedereingliederung einer kranken, körperlich oder geistig behinderten oder von Behinderung bedrohten Person in das berufliche und ­gesellschaftliche Leben [20]. Therapie und Rehabilitation zielen also auf die Wiedererlangung eines eingebüßten individuellen Leistungsvermögens respektive weitgehende Wiederermöglichung sozialer Teilhabe bei weiterhin bestehenden Defiziten ab.

HPD bezeichnet belastungsassoziierte, beispielsweise durch langdauernde anstrengende Arbeiten hervorgerufene, Leistungseinbußen. Dieses trifft im militärischen Umfeld aber auch für Maßnahmen zu, welche darauf abzielen, die Leistungsfähigkeit gegnerischer Kräfte ­gezielt zu reduzieren [14, 16, 17].

HPO beschreibt dagegen all jene Maßnahmen, die ­darauf abzielen, die Leistungsfähigkeit des Individuums unter Beachtung des maximalen individuellen Potenzials zu entwickeln/zu erhalten, wenn sie durch diverse Stressfaktoren nachlässt bzw. droht nachzulassen.

HPE fasst all jene Maßnahmen zusammen, die darauf abzielen, die Leistungsfähigkeit in einer Art und Weise zu erweitern, die über das individuell maximale Potenzial, seien es beispielhaft das physische und/oder psychische Potential, aber auch sensorische oder kognitive Fähigkeiten, hinausgeht (Stichwort: „superhuman capabilities“). Dies umfasst auch Maßnahmen, die dazu dienen, neue Eigenschaften zu erschließen (z. B. neue sensorische Fähigkeiten durch Implan­tate).

Diese Definitionen bieten den Vorteil einer klaren ­Abgrenzung zwischen der primären Prävention und dem salutogenetischen Ansatz im Umgang mit Angehörigen der Bundeswehr einerseits und den Ideen der Entwicklung von „superhuman capabilities“ andererseits. Gleichzeitig werden die kontinuierlichen Weiterentwicklungen, denen HPO und HPE unterliegen, aufgenommen und die hinsichtlich ihrer Folgenabschätzungen notwendigen ethischen, soziokulturellen und juristischen Bewertungen reflektiert.

Betrachtung zu möglichen Maßnahmen

Viele Maßnahmen als Zusammenschau von Therapie, HPD, HPO und HPE nach oben angegebener Definition haben ihren Ausgang in dem Versuch, krankheitsbedingte Defizite der menschlichen Leistung kompensierbar zu machen, wie zum Beispiel Prothesen und Exoskelette. Gerade in hoch belastenden Tätigkeiten – und der soldatische Beruf gehört fraglos dazu – stellt sich aber auch die Frage, inwieweit solche Entwicklungen die Tätigkeit erleichtern, die Ergebnisqualität verbessern und die individuelle Beanspruchung reduzieren können. Im militärischen Kontext kommt dazu, dass der „Bessere“ fraglos höhere Überlebenschancen hat. Mit Blick auf Auftragserfüllung und Fürsorge finden im soldatischen Umfeld daher naturgemäß alle denkbaren Maßnahmen hohe Beachtung [2], [4], [5], [7].

Abb. 2: Die hohe Sitzposition des Piloten im Eurofighter ermöglicht eine gute Rundumsicht, verlangt aber Dreh- und Nickbewegungen des Kopfes - auch unter hohen g-Belastungen. Informationen werden akustisch und visuell bereitgestellt. Dem Piloten stehen ein Head-up-Display, drei Head-down-Displays, ein Warning Panel und ein Helmet Mounted Symbology System zur Verfügung. Die Performance des Gesamtsystems ist damit unmittelbar von den körperlichen (insbesondere Belastung der HWS, Seh- und Hörvermögen) und auch psychischen Leistungsfähigkeiten (Signalerkennung und –verarbeitung, Multitasking) abhängig. Aufgabe von HPO ist es u.a., hierfür spezifische Trainingsverfahren zu entwickeln. (© Eurofighter)

Innerhalb der Bundeswehr hat das Dezernat Zukunftsanalysen des Planungsamtes eine Studie beauftragt und ausgewertet [14]. Danach werden Maßnahmen in vier große Bereiche mit einzelnen Unterbereichen untergliedert (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Gliederung möglicher Maßnahmen des Human Enhancement (nach [14])

Untergliederung von Human Enhancement Maßnahmen

Biochemische Ansätze

• Pharmakologische Leistungssteigerung

• Ernährungsbasierte Leistungssteigerung

• Genetische Leistungssteigerung (im Sinne des Gendopings)

Nicht-invasive Ansätze

• Transcranielle Stimulation

• Exoskelette

• Augmented Reality

• Silent Speech Interface-Systemen

Invasive Methoden

Verfahren des Biomonitoring


Darüber hinaus werden auch Maßnahmen betrachtet, die das Gegenteil einer wie auch immer gearteten Verbesserung gezielt bei einem möglichen Gegner erreichen sollen (sog. HPD).

Möglichkeiten und Risiken von Maßnahmen des HE

Bereits im Jahre 2009 veranstaltete die NATO Science and Technology Organization (STO) ein Symposium zum Thema „Human Performance Enhancement for NATO Military Operations“ [16]. Die seinerzeit festgestellte und insbesondere moralisch begründete Dissonanz zwischen den NATO- Partnernationen besteht seither jedoch fort [20]. Gleichzeitig sind die Soldaten in multinationalen Einsätzen mit den von Nation zu Nation unterschied­lichen Vorgehensweisen konfrontiert.

Beispiel: Modafinil®

Am Beispiel des Modafinil® sollen exemplarisch die ­unter­schiedlichen Sichtweisen verbündeter Streitkräfte, die entsprechenden Handlungsanweisungen für die ­jeweiligen Soldaten und die daraus entstehenden Risiken und Fragestellungen gezeigt werden.

In den US-amerikanischen Streitkräften ist breit akzeptiert, Modafinil® zur Förderung der Wachheit zu konsumieren [16]. Der Zugang zu dem – auch in Deutschland verschreibungspflichtigen – Medikament ist klar geregelt und für den Einzelnen relativ einfach möglich. Demgegenüber ist eine Verordnung oder Abgabe dieses Stoffes an Kontingentangehörige der Bundeswehr nicht vorgesehen. Auf der einen Seite ein einfacher Zugang, auf der anderen Seite Restriktion – das führt zwangsläufig zur Verunsicherung und der Frage:

Wieso haben bestimmte Personen innerhalb desselben Einsatzes – bei unter Umständen vergleichbaren Aufgaben – mit der Begründung der Sicherstellung von Auftragserfüllung und Fürsorge Zugang zu einer Maßnahme, während anderen mit der identischen Argumentation der Zugang verwehrt wird?

Im günstigen Fall werden Disziplinarvorgesetzte und ­Sanitätspersonal mit Nachfragen konfrontiert. Im ungünstigen Fall wird dem Beispiel der Kameraden aus anderen Nationen ohne weitere Auseinandersetzung zu Wirkungen und Nebenwirkungen oder ethischen Aspekten ­gefolgt.

So erhöht Modafinil® offensichtlich die Wachheit. Aber ist der Faktor Wachheit der tatsächlich zu betrachtende Endpunkt für eine Nutzen-Risiko-Analyse? Sind es in einer hochtechnisierten Armee nicht vielmehr kognitive oder koordinative Leistungsaspekte, die über die Auftragserfüllung und das Überleben des Einzelnen entscheiden? Solange aber diese Aspekte nicht klar definiert sind und – in Anbetracht der oft unzureichenden Kenntnisse auf Seiten potenzieller Anwender zu den Phänomenen von Schlaf und Wachheit – ist zu fragen, welchen positiven Effekt durch eine über die natür­lichen Grenzen hinweg verlängerte Wachheit hat und welche Risiken dadurch evtl. akzeptiert werden müssen.

Die Situation erinnert an die Doping-Situation im Sport. Im Hochleistungssport können – unter Inkaufnahme von teilweise unvorhersehbaren Risiken trotz ärztlicher ­Betreuung – Leistungssteigerungen über die individuellen biologisch determinierten Grenzen hinaus erreicht werden. Dem folgend finden sich im Breitensport Nachahmer, die sich ohne ärztliche Betreuung nicht selten weit vor dem Erreichen individueller Leistungsgrenzen und v. a. ohne umfängliche Kenntnisse über mögliche Risiken in Gefahr begeben [17]. Dabei ist es viel zu kurz gegriffen, schuldhaftes Verhalten nur bei einigen Wenigen zu suchen. BETTE weist in Bezug auf den Sport vielmehr auf die Verantwortung vieler beteiligter Konstellationsak­teure hin [1].

Gerade vor dem Hintergrund, dass es eine Vielzahl von bisher nicht umgesetzten einfachen Maßnahmen gibt, die zu einer unter Umständen erheblichen Verbesserung der menschlichen Leistung bei gleichzeitiger Respektierung individueller, physiologisch und/oder psychologisch erreichbarer Grenzen führen könnten (z. B. Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit mittels hauptamt­licher Sportausbilder, individuell gesteuerte Trainingsprogramme für physische wie psychische Fitness, verstärkte Anstrengungen zur Reduzierung von Stress und Suchtverhalten, um nur einige wenige zu nennen), ist die oben dargestellte unreflektierte Eigeneinnahme von Modafinil® ohne eindeutige Regeln sehr bedenklich. Hier werden also Maßnahmen des HPE (mit den damit einhergehenden Risiken) genutzt, bevor Maßnahmen des HPO voll ausgeschöpft sind.

In der Bundeswehr könnte die Situation aufgrund der übersichtlicheren strukturellen Voraussetzungen besser handhabbar sein. Dazu bedarf es aber einer beständig aktuell gehaltenen Policy und daraus abgeleiteten ­bedarfsgerechten Maßnahmen.

Fazit

Das Erreichen einer möglichst hohen psychophysischen Leistungsfähigkeit von Soldaten muss sowohl im Sinne der Leistungsfähigkeit von Streitkräften als auch im ­Sinne der Prävention Ziel militärischer Planung und Ausbildung sein.

Befürwortern risikoreicher Vorgehensweisen aus Partnernationen kann im Rückgriff auf die oben genannte Definition und die Beispiele des Potenzials zur Optimierung bereits vorhandener Ressourcen argumentativ ebenso klar entgegengetreten werden wie eigenen ­Kameraden, die in Unkenntnis oder mit überhöhten ­Erwartungshaltungen falschen Vorbildern folgen. Dennoch ist die notwendige Risikostratifizierung (positive Wirkungen von Maßnahmen des HPE vs. Risiko und Nebenwirkungen) aufgrund des mangelnden physiologischen und psychologischen Erkenntnisstands häufig jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Es bedarf daher breiter, interdisziplinärer und fortdauernder wehrmedizinischer Forschungsaktivitäten, um mit Blick auf militärische Bedürfnisse geeignete von ungeeigneten Maßnahmen zu unterscheiden und entsprechende wissenschaftsbasierte Beratungsleistungen für politische und militärische Entscheidungsträger erbringen zu können.

Kernaussagen

Maßnahmen zur Leistungssteigerung sind gelebte Praxis in militärischen Einsätzen.

Human Performance Optimization (HPO) bezeichnet Maßnahmen, die darauf abzielen, die Leistungsfähigkeit des Individuums unter Beachtung des individuell maximalen Potenzials zu entwickeln bzw. diese zu erhalten, wenn sie durch diverse Stressfaktoren nachlässt bzw. droht nachzulassen.

Human Performance Enhancement (HPE) bezeichnet all jene Maßnahmen, die darauf abzielen, die Leistungsfähigkeit in einer Art und Weise zu erweitern, die über das individuell maximale Potenzial hinausgeht.

Das Bestehen vornehmlich kulturell begründeter Dissonanzen zwischen den unterschiedlichen NATO-Partnernationen führt angesichts unterschiedlicher Handlungsweisungen in multinationalen Einsatzszenarien zu Verunsicherungen bei den deutschen Kontingentanteilen.

Das Fehlen einer trennscharfen Begriffsabgrenzung zwischen Therapie, Human Performance Degradation (HPD), Human Enhancement (HE), HPO und HPE erschwert eine zielführende Auseinandersetzung im wehrmedizinischen Kontext.

Es bedarf interdisziplinärer sanitätsdienstlicher Aktivitäten, geeignete bzw. relevante Maßnahmen zu identifizieren um wissenschaftsbasierte Beratungsleistungen für politische und militärische Entscheidungsträger zu erbringen, sowie einen medizinisch und medizinethisch fundierten Diskurs zu befördern.

Literatur

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  7. Führungsakademie der Bundeswehr: Experten-Workshop Human Performance Optimization and Enhancement (HPO/HPE) vom 9. bis 13. April 2018.
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  9. Hughes J: Citizen cyborg: why democratic societies must respond to the redesigned human of the future. Boulder, USA: Westview 2004.
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  12. Kommando Streitkräftebasis der Bundeswehr: Vorgaben für die Zukunftsentwicklung der SKB 2017, Themenfeld 3 „Human Performance Enhancement“, Kick-Off-Meeting vom 14.12.2017.
  13. Lufthansa Flight Training GmbH: CRM Kabine Human Performance and Limitations. https://www.lufthansa-flight-training.com/crm--human--performance-and-limitations (Letzter Zugriff: 9. September 2018) mehr lesen
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Interessenkonflikte

Erley, Haggenmiller und Sammito sind aktive Sanitätsoffiziere. Vergin ist wissenschaftliche Angestellte im Ressortbereich BMVg. Erley, Vergin, Haggenmiller und ­Sammito erhalten Forschungsmittel aus dem BMVg. Ein Interessenkonflikt besteht nicht.

Manuskriptdaten

Eingereicht: 4. Juli 2018
Nach Überarbeitung angenommen: 5. August 2019

Zitierweise
Erley O, Vergin Ab, Haggenmiller C, Sammito S: Human Enhancement – alter Wein in neuen Schläuchen oder tatsächlich eine Herausforderung für die Wehrmedizin? WMM 2019; 63(10-11): 375-380.

Für die Verfasser
Oberstarzt Dr. Oliver M. Erley, M.A.
Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe
Flughafenstraße 1, D-51147 Köln
E-Mail: olivererley@bundeswehr.org

Manuscript data

Submitted: 4 July 2018
After revision accepted: 5 August 2019

Citation
Erley O, Vergin Ab, Haggenmiller C, Sammito S: Human Enhancement – old wine in new bottles or really a challenge for military medicine? WMM 2019; 63(10-11): 375-380.

For the authors
Colonel (MC) Dr. Oliver M. Erley, M.A.
Air Force Centre of Aerospace Medicine
Flughafenstrasse 1, D-51147 Cologne, Germany
E-Mail: olivererley@bundeswehr.org