Wehrmedizinische Monatsschrift

TRIAGE BEI STRAHLENUNFALL

NATO-Workshop 2019 „StTARS“ aus klinischer Perspektive

Hinter dem Kürzel „StARS“ verbergen sich Software tools for Triage of the Acute Radiation Syndrom. Hierzu wurde vom 9.-11.Oktober 2019 vom französischen Research Institute Biomédicale des Armées (IRBA) und dem Institut für Radiobiologie der Bundeswehr in Verbindung mit der Universität Ulm (InstRadBioBw) ein NATO-Workshop veranstaltet, der die verschiedenen Software-Werkzeuge für eine klinische Triage von Strahlenunfall-Patienten in Theorie und Praxis zum Thema hatte.

Am Veranstaltungsort, dem Sitz des IRBA in Brétigny sur - Orge, südlich von Paris, hatten sich 30 Teilnehmende aus Frankreich, den Niederlanden, den USA, Großbritannien, der Tschechischen Republik, Litauen, Schweden und Deutschland eingefunden. Neben militärischen nahmen auch hochrangige Vertreter ziviler Institutionen verschiedener Nationen teil. Aus den Bundeswehrkrankenhäusern Koblenz und Ulm waren die Nuklearmedizin (Oberfeldarzt Dr. Kaiser, Oberstarzt Dr. Klemenz) und aus Ulm auch die Unfallchirurgie (Oberstabsarzt Dr. Steinbach) vertreten.

Schon im Vorfeld waren in der Konsiliargruppe Nuklearmedizin/Radiobiologie Schnittstellen bei A- bzw. radio-­nukleären (RN-) Szenaren diskutiert worden, die zur Erarbeitung personeller und materieller Anforderungen unter der Perspektive des Fähigkeitsprofils des Sanitätsdienstes 2020 (FPBw 2020) bzw. unter Landes- und Bündnisverteidigungs-Gesichtspunkten geführt hatten. Im „StTARS“-Workshop wurde nun fächerübergreifend die praktische Umsetzung von Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Triage von möglichen Strahlenunfall­opfern geübt.

Offizielles Tagungsfoto mit den Teilnehmenden am 1. NATO-Workshop „StTARS“ am IRBA in Brétrigny sur l´Orge, Frankreich

Einleitung und Hintergrund

Nach einem theoretischen Überblick zu radioaktiven Bedrohungsszenarien und radiobiologischen Aspekten durch C. Foster (UK) brachte Oberstarzt Prof. Dr. Port (InstRadBioBw) mit einem Übersichtsvortrag zum Akuten Strahlensyndrom (ARS) alle Teilnehmenden auf den aktuellen Stand der Wissenschaft. Über die zukünftigen diagnostischen und therapeutischen Entwicklungen berichteten dann Oberstarzt Prof. Dr. Abend (InstRadBioBw) und Frau Colonel Dr. D. Riccobono (IRBA).

Am zweiten Tag wurden die einzelnen Software-Tools vorgestellt sowie die ersten Fälle erarbeitet und im Plenum diskutiert. Grundlage war ein RED-Szenario (RED = Radiological Exposure Device), d. h. eine externe Bestrahlung durch eine starke Strahlenquelle, die in einem öffentlichen Verkehrsmittel unter einem Sitz versteckt war.

Im Praxisteil des Workshops wurden von den Teilnehmenden 191 Fallstudien praktisch bearbeitet. Das Bild zeigt das „klinische Team“ aus Koblenz und Ulm (von rechts: Oberstarzt Dr. Klemenz, Ulm, Oberfeldarzt Dr. Kaiser, Koblenz und Oberstabsarzt Dr. Steinbach, Ulm).

Praktische Übungen

Am dritten Tag waren dann insgesamt 191 Fälle von den Teilnehmenden in Kleingruppen zu bearbeiten. Dabei lagen für jeden einzelnen potenziell verstrahlten Patienten bestimmte Symptome inklusive deren Beginn und Dauer sowie Blutwerte (Differenzialblutbild) vor. Die in der Übung verwendeten Daten stammten aus der SEARCH Datenbank (System for Evaluation and Archiving of Radiation Accidents based on Case Histories) von realen Strahlenunfallopfern und von modellierten Patientenfällen.

Symptome und Blutbild entscheidend

Wichtige Symptome zur Beurteilung eines akuten Strahlensyndroms sind u. a. Erbrechen (Beginn und Intensität) und als objektives klinisches Hinweiszeichen ein Hauterythem, das für eine Strahlenexposition von mindestens 5 Gray spricht.

Das Blutbild ist für die automatisierte Auswertung in den verschiedenen Software-Tools von großer Bedeutung, insbesondere die Anzahl und der Verlauf der Lymphozyten- und Granulozytenzahlen; dabei sprechen niedrige Lymphozytenzahlen, die schon 24 h nach der Bestrahlung (Tag 1) auftreten und kombiniert sind mit initial hohen Granulozytenzahlen sowie deren Abfall an Tag 2 und 3 für ein ausgeprägtes hämatologisches akutes Strahlensyndrom (H-ARS). Dieses erfordert rasche therapeutische Maßnahmen, z. B. die Gabe von Zytokinen, wie die in den USA für diese Indikation zugelassene Substanz G-CSF (Granulozyten-Kolonie stimulierender Faktor).

Auf der anderen Seite können Patienten ohne Symptome und bei initial normalem Differenzialblutbild in die ambulante Betreuung entlassen werden, da sich die Entwicklung einer akuten Strahlenkrankheit mit hoher Sicherheit ausschließen lässt. Dies schont zum einen wertvolle Ressourcen wie Krankenhausbetten, lässt aber auch eine „Beruhigung“ vieler hoch verängstigter Patienten zu.

Die anschließende Auswertung der Ergebnisse ergab für alle Arbeitsgruppen ein sehr gutes Resultat, verglichen mit der Expertenmeinung: Die korrekte Vorhersage einer notwendigen Hospitalisierung sowie der Ausbildung eines ARS lag bei den neun Teams des Workshops gemittelt bei 93 % bzw. 94 %.

Fazit aus klinischer Sicht

Zusammenfassend war der NATO-Kurs von IRBA und InstRadBioBw sehr gut organisiert und bot ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Praxis. Die verschiedenen Fachdisziplinen (Biologie, Pharmazie, Physik und Medizin) konnten ihre spezifischen Kompetenzen aus den aktuellen Arbeitsfeldern im Plenum einbringen, sich intensiv austauschen und voneinander lernen. Das interdisziplinäre multinationale Konzept ist unbedingt weiter zu empfehlen.

Aus Sicht der klinischen Fächer Nuklearmedizin und Unfallchirurgie schuf der Workshop eine wichtige Ausgangsbasis, um kurzfristig gemeinsam mit dem InstRadBioBw einheitliche Ablaufschemata für RN-Szenarios zu erarbeiten. Diese können dann in praktischen Übungen (Massenanfall mit RN-Szenar) an den Bundeswehrkrankenhäusern in Ulm und Koblenz zusammen mit der Task-Force des InstRadBioBw und den Kliniken für Nuklearmedizin, Anästhesiologie/Notfallmedizin und Unfallchirurgie überprüft und angepasst werden.

Damit ist ein erster wichtiger Schritt zur Erfüllung der Aufgaben im zukünftigen Fähigkeitsprofil 2020 (FPBw2020) getan, der gewährleistet, dass die Bundes­wehrkrankenhäuser im Allgemeinen und die Nuklearmedizin im Besonderen für die Role 4-Aufgaben im Medizinischen A-Schutz unter LV/BV-Gesichtspunkten gerüstet sind.

Oberstarzt Dr. Burkhard Klemenz
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Nuklearmedizin
E-Mail: burkhardklemenz@bundeswehr.org