Wehrmedizinische Monatsschrift

Dekompressive Kraniektomie nach Schädelhirntrauma – führen unterschiedliche Strategien auch zu unterschiedlichen Ergebnissen?

Chris Schulza, René Mathieua, Gregor Freudea, Uwe Max Mauera

a Bundeswehrkrankenhaus Ulm – Klinik für Neurochirurgie

 

Einleitung

Die Wertigkeit der dekompressiven Kraniektomie beim Schädel-Hirn-Trauma (SHT) wird trotz einiger aktueller Studien (z. B. DECRA, Rescue-icp) weiterhin kontrovers diskutiert. Positive klinische Effekte sind – zumindest für Subgruppen – jedoch erkennbar. Neben der Indikation und dem Zeitpunkt der Kraniektomie ist auch die beste Strategie (primäre oder sekundäre Kraniektomie) Gegenstand der Diskussion.

Unter optimalen infrastrukturellen Bedingungen wird in Leitlinien ein etappenweises Vorgehen mit der Dekompressionskraniektomie am Ende einer intensivmedizinischen Therapie bei Versagen von medikamentösen und limitierten operativen Maßnahmen empfohlen (sekundäre Kraniektomie), denn nicht alle schweren SHT bedürfen einer potenziell komplikationsträchtigen Kraniektomie. Das Etappen-Regime soll die Möglichkeit eröffnen, jene Fälle zu identifizieren, die unter konservativen Therapieansätzen allein nicht in den Bereich eines suffizienten intrakraniellen Drucks (ICP) zu bringen sind. Nur diese Fälle werden nach Nutzen-Risiko-Abwägung einer Dekompressionskraniektomie zugeführt.

Bei beschränkten personellen und materiellen Ressourcen, aber z. B. auch unter militärischen Einsatzbedingungen, wird hingegen häufig schon primär (also am Beginn der Behandlungskette) eine Dekompressionskraniektomie vorgenommen. Eine konservative intensivmedizinische Therapie des schweren SHT mit erhöhten ICP-­Werten ist aufwändig sowie zeit-, personal- und kostenintensiv. Uneingeschränkter Zugang zu CT und Operationsbereich ist zu gewährleisten, um eine u. U. notwendig werdende Bildkontrolle und Dekompressionskraniektomie jederzeit sicherstellen zu können. Insbesondere während Transporten kann dies selbstverständlich nicht dargestellt werden.

Welche Strategie (primär oder sekundär) zu den besseren klinischen Ergebnisse führt, ist schwierig vergleichbar und bislang noch nicht abschließend bewertet worden. Es stellt sich die Frage, ob unter Einsatzbedingungen mit der primären Kraniektomie ein zwar ressourcenschonendes, aber eventuell komplikationsträchtigeres Abweichen vom Leitlinien-Vorgehen sinnvoll ist, ohne die Mortalität und das neurologische Ergebnis im Vergleich zum Standard im Heimatland zu verschlechtern.

Methode

Es erfolgte ein systematischer Review bei PubMed ­publizierter Serien (ab dem Jahr 2000) von primären Kraniektomien aus militärischen Einsatzgebieten sowie prospektiver kompetitiver Studien zu primären und ­sekundären Kraniektomien nach zivil erlittenem Schädel-­Hirn-Trauma. Die Literaturauswahl erfolgte nach PRISMA 1 -­Kriterien und Evidenz-Einstufung nach GRADE 2 -­Protokoll. Die Mindestfallzahl betrug n = 20, Ver­gleichsparameter waren die 30-Tages-Mortalität und der GOS 3 nach 3 Monaten postoperativ.

Abb. 1: Die chirurgische Technik zeigte sich im Hinblick auf die Überlebenschancen als nicht so entscheidend wie die rasche Anwendung der Kraniektomie.

Ergebnisse

Beim Vergleich der Ergebnisse nach primärer Dekompressionskraniektomie zivil vs. militärisch (11 Studien, n = 908) zeigen sich zunächst deutliche Vorteile für die militärischen Patienten (30-Tages-Mortalität: 26,3% vs. 31,6%, Rate 3-Monats-GOS < 5: 49,4% vs. 54,8%).

Nach mathematischer Adjustierung von Patientenalter, initialem Glasgow-Coma-Scale (GCS), Traumaschwere (ISS), Traumaart, allgemeinem Gesundheitszustand (ASA) und Zeitintervall zwischen Trauma und der Operation zeigen sich jedoch keine signifikanten Vorteile mehr (30-Tages-Mortalität: 32,9% vs. 29,4%, Rate 3-Monats-GOS <5: 54,3% vs. 51,6%).

Beim Vergleich der Ergebnisse nach primärer Dekompressionskraniektomie militärisch gegen sekundäre Kraniektomie zivil (14 Studien, n = 1 019) zeigen sich – nach gleicher mathematischer Adjustierung wie oben – ebenfalls nur tendenzielle, aber keine signifikanten Unterschiede (30-Tages-Mortalität: 31,4% vs. 34,6%, Rate 3-Monats-GOS <5: 55,8% vs. 46,2%).

Abb. 2: Craniales CT einer 56jährigen Patientin: (A) Präoperativ Subduralhämatom und traumatisches Hirnödem links mit einer Mittellinienverlagerung von ca 1cm -> vitale OP-Indikation; (B) Postoperatives cCT nach Entlastungskraniektomie und Blutungsevakuation mit schwellungsbedingtem Hirnprolaps von ca. 1,5cm; (C) Wiederherstellung der Mittellinienposition; (D) postoperatives cCT mit Volume Rendering zur Darstellung des Kalottendefektes

Diskussion und Fazit

Die aktuellen Daten legen wider Erwarten nahe, dass primäre Kraniektomien unter limitierten Ressourcen im Ergebnis bezüglich der Frühmortalität und des neurologischen Outcomes nicht schlechter einzuschätzen sind als primäre oder abgestufte sekundäre Kraniektomien unter Optimalkonditionen. Die zugrunde liegenden Studien sind aber zumeist von mangelhafter Evidenz und Qualität sowie mit teils erheblichem Bias belastet. Schlussfolgerungen mit hoher Aussagekraft und Verbindlichkeit sind daher weiterhin nicht möglich. Man darf hier auf wertvollere Aussagen aus den laufenden Polytrauma-, SHT- und Einsatz-Registern hoffen.

Literatur

  1. Bell RS, Mossop CM, Dirks MS et al.: Early decompressive craniectomy for severe penetrating and closed head injury during wartime. Neurosurg Focus. 2010 May; 28(5): E1. mehr lesen
  2. Cooper DJ, Rosenfeld JV, Murray L et al.: DECRA Trial Investigators; Australian and New Zealand Intensive Care Society Clinical Trials Group. Decompressive craniectomy in diffuse traumatic brain injury. N Engl J Med. 2011 Apr 21; 364(16): 1493-1502. mehr lesen
  3. Ecker RD, Mulligan LP, Dirks M et al.: Outcomes of 33 patients from the wars in Iraq and Afghanistan undergoing bilateral or bicompartmental craniectomy. J Neurosurg. 2011 Jul; 115(1): 124-129. mehr lesen
  4. Fatima N, Al Rumaihi G, Shuaib A, Saqqur M: The Role of Decompressive Craniectomy in Traumatic Brain Injury: A Systematic Review and Meta-analysis. Asian J Neurosurg. 2019 Apr-Jun; 14(2): 371-381. mehr lesen
  5. Hutchinson PJ, Kolias AG, Timofeev IS et al.: RESCUEicp Trial Collaborators. Trial of Decompressive Craniectomy for Traumatic Intracranial Hypertension. N Engl J Med. 2016 Sep 22; 375(12): 1119-1130. mehr lesen
  6. Hutchinson PJ, Kolias AG, Tajsic T et al.: Consensus statement from the International Consensus Meeting on the Role of Decompressive Craniectomy in the Management of Traumatic Brain Injury: Consensus statement. Acta Neurochir (Wien). 2019 Jul; 161(7): 1261-1274. mehr lesen
  7. Kramer AH, Deis N, Ruddell S et al.: Decompressive Craniectomy in Patients with Traumatic Brain Injury: Are the Usual Indications Congruent with Those Evaluated in Clinical Trials? Neurocrit Care 2016 Aug; 25(1): 10-19. mehr lesen
  8. Ragel BT, Klimo P Jr, Martin JE et al.: Wartime decompressive craniectomy: technique and lessons learned. Neurosurg Focus 2010 May; 28(5): E2. mehr lesen
  9. Shackelford SA, Del Junco DJ, Reade MC et al.: Association of time to craniectomy with survival in patients with severe combat-related brain injury. Neurosurg Focus 2018 Dec 1; 45(6): E2 mehr lesen

Manuskriptdaten

Zitierweise

Schulz S, Mathieu R, Freude G, Mauer UM: Dekompressive Kraniektomie nach Schädelhirntrauma – führen unterschiedliche Strategien auch zu unterschiedlichen Ergebnissen? (Vortrags-Abstract). WMM 2020; 64(1): 36-37.

Verfasser

Flottillenarzt Priv.-Doz. Dr. Chris Schulz

Bundeswehrkrankenhaus Ulm- Klinik für Neurochirurgie

Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm

E-Mail: chrisschulz@bundeswehr.org

Vortrag beim 50. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. am 12. Oktober 2019 in Leipzig


1 PRISMA = Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-­Analyses

2 GRADE = Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation

3 GOS = Glasgow Outcome Scale; der GOS gibt den Grad der Genesung (vo 1 = Tod bis 5 = leichte bis keine Behinderung) an.