Wehrmedizinische Monatsschrift

Translationale Phagen-Forschung

Wiederentdeckte Potenziale wissenschaftsbasiert zur Prävention
und Therapie von Infektionen mit multiresistenten Erregern nutzen

Nina Passoth

 

Die Phagentherapie gewinnt im Zusammenhang mit der stetigen Zunahme antimikrobieller Resistenzen vermehrt an Aufmerksamkeit – sowohl in der zivilen wie auch militärmedizinischen Versorgung. Das Bundeswehrkrankenhaus (BwKrhs) Berlin hatte dies zum Anlass genommen und das erste Phage Meeting Berlin (16.-17. Dezember 2019) ausgerichtet. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Oberstarzt Prof. Dr. Christian Willy, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Septisch-Rekonstruktive Chirurgie, haben sich 67 geladene Teilnehmer aus 17 Nationen (Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Georgien, Italien, Lettland, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Schweiz, Slowenien, UK, Ukraine, USA) zum Thema Reintroduction of Bacteriophages in today’s medicine space ausgetauscht.

Phagentherapie als Behandlungsoption

Primäres Ziel des Treffens war die Präsentation des aktuellen Wissenstands in sieben Kernthemen, um Wege zu einer Routineanwendung entwickeln und zeitnah Kriterien für die Identifikation von Patienten mit erfolgreichem Outcome definieren zu können. „Es wäre schön, wenn die Nähe im Gedankenaustausch zu einem internationalen Netzwerk führen würde, in dem die Möglichkeit zur Klärung verschiedenster offener Fragen gegeben wäre – zum Nutzen für unsere Patienten“, so Prof. Willy in seiner Eröffnung. Weiter führte er aus, dass Kriegsverletzungen regelmäßig mit einer Erregerkontamination einhergehen, bei den Extremitätenverletzungen seien hiervon mehr als 80 % der Wunden betroffen. Nach einer aktuellen Analyse am BwKrhs Berlin zeigten hier behandelte ausländische Soldaten sogar eine Kontamination von ca. 90 % der primär offenen Wunden, in denen sich bei etwa der Hälfte eine Multi- oder gar Panresistenz (VRE, ESBL, MRSA) nachweisen ließ – besonders problematisch, da das sehr häufig diagnostizierte Erregerspektrum trotz aller moderner antimikrobieller Therapie meist nur noch mit Reserveantibiotika erfolgreich behandelt werden kann.

Die aktuelle Bedeutung der Phagentherapie sowie die administrativen, organisatorischen und strukturellen Anforderungen, die für künftige Anwendungen erfüllt sein müssen, lassen sich zwar international diskutieren, bedürfen aber zum Großteil noch der nationalen Anpassung, vor allem an legislative Vorgaben. „Es muss klar sein: Bevor wir die Phagentherapie einer breiteren Gruppe von Patienten zugänglich machen können, müssen wir Gewissheit haben, dass die neue Behandlungsform für medizinische Einrichtungen sicher und handhabbar ist“, so Heiko Rottmann -Großner, Leiter der Unterabteilung 32 „Übertragbare und nicht übertragbare Krankheiten, Gesundheitssicherheit“ im Bundesministerium für Gesundheit. „Derzeit können Phagen in Deutschland nur in Ausnahmefällen und unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden. Vor der Zulassung ist es notwendig, die Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit des Produktes auf der Basis klinischer Studien zu beurteilen. Beim zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ist bisher weder ein Antrag auf Zulassung noch die Genehmigung einer klinischen Prüfung gestellt worden.“

Den Ausführungen von Rottmann-Großner zur Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie „DART 2020“ vorangehend, erinnerte Oberstarzt Prof. Dr. Horst-Peter Becker, Kommandeur und Ärztlicher Direktor des BwKrhs Berlin, in seinem Grußwort an die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in denen Pharmareferenten den Klinikern in enger Folge eine Vielzahl neuer Antibiotika vorgestellt haben. Heute hingegen fehle es an innovativen Antiinfektiva, und die Politik müsse neben der Entwicklung weiterer Antibiotika-Klassen und -Generationen vor allem auch die Forschung zu alternativen Behandlungsformen unterstützen.

Kernfragen der Phagen-Forschung

Sich mit diesen häufig noch experimentellen Therapieoptionen exemplarisch am Beispiel der Phagentherapie auseinanderzusetzen, war Aufgabe aller Teilnehmenden im Vorfeld des Meetings. Mit mehrwöchigem Vorlauf konnten offene Fragen zum Stand von Forschung und Therapie eingereicht werden, die anschließend vom wissenschaftlichen Leiter in 12 Rubriken sortiert an die Referenten zur Beantwortung weitergeleitet wurden. Zu den Ergebnissen sei auf das Programmheft S. 60 ff verwiesen. Dieses steht unter https://pic-mb.de/b7b6td4f zum Download zur Verfügung.

Unter Berücksichtigung der zuvor übermittelten Fragen, widmete sich der erste Veranstaltungstag den Schwerpunktthemen:

Aus dem Blickwinkel der Militärmedizin referierten Major Igor Kolisnyk,Central Military Medical Clinic Centre of Western Region, Ukraine, zum Thema „The use of bacteriophages in the treatment of surgical diseases in conditions of limited effectiveness of antibiotics“ und Flottillenarzt Priv.-Doz. Dr. Joachim Bugert, Institut für Mikrobiologie der Bw, zur „Extension of therapeutic phage host range: identification of depolymerases for the lysis of different K pneu capsule types (siehe hierzu WMM 2020; 64(3-4):134-136).

Die potenzielle Bedeutung der Phagentherapie im militärischen Setting wurde am zweiten Tag in der Session „Research Projects“ weiter ausgeführt. Den hohen Stellenwert in der wehrmedizinischen Forschung erläuterten zwei Vertreter des Walter Reed Army Institute of Research, USA. Colonel (Ret) Nelson L. Michael, MD, PhD, präsentierte einen Vortrag zum „Infectious Diseases Countermeasure Development in Support of Multi Domain Operations: Walter Reed Army Institute of Research Efforts” und Lieutenant Colonel Brett E. ­Swierczewski, PhD, berichtete vom „US Army Bacteriophage Therapeutics Program for the Treatment of Multidrug Resistant Wound and Infections” (WMM 2020;
64(6-7): 240-241). Auf gegenseitige Impulse, die sich an der Schnittstelle von klinischer Forschung und Patientenversorgung ergeben können, wies Dr. Jean-Paul Pirnay, Belgien, hin. Sein Vortrag „Phage therapy research at the Queen Astrid Military Hospital” blickte über 15 Jahre zurück und zeigte anschaulich den langen Prozess bis zur Genehmigung einer magistralen Phagen-Anwendung im Jahr 2016. Ein erster entscheidender legislativer Erfolg in der EU, der im Wesentlichen auf den Bedarf und die intensiven Bemühungen eines Militärkrankenhauses zurückgeht und im besten Fall Strahlkraft auf die Versorgung von Soldaten und zivilen Patienten anderer Nationen ausübt.

Als nächster Themenschwerpunkt folgte „To find the right phage“ und wie ein „Phagogramm“ zu erstellen ist. In der Session „Biofilm & Combination with antibiotic therapy“ sprach Karlis Racenis, MD, vom Military Medicine Research and Study Centre der RSU, Lettland, zum „Bacteriophage use in bacterial biofilm treatment”. Den Abschluss bildete „An important final note from clinical point of view – libraries, phage banks, networking”.

Forschungsprojekte am BwKrhs Berlin
und der Charité

Besondere Erwähnung sollen die beiden deutschen Projekte zur klinischen Phagen-Forschung finden. Oberstabsarzt Marcus Stichling, BwKrhs Berlin, stellte das Projekt „PhagoFlow“ vor, ein unter Leitung des BwKrhs vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschuss mit 2,6 Mio. EUR gefördertes Projekt zur Versorgungsforschung. Dieses untersucht den Einsatz von ­patienten-individualisiert auf Wirksamkeit getesteten Phagenmischungen (Cocktails) gegen von der WHO als ­kritisch bezeichnete Bakterien (sogenannte ESKAPE-­Erreger) als Verursacher von septischen Extre­mi­täten­wunden (2019-2022, www.phagoflow.de). Konsortialpartner sind das Leibniz-Institut DSMZ – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen – sowie das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin.

«Bakteriophagen – mit altbekanntem Wissen zu neuen erfolgsver­sprechenden Therapiemöglichkeiten in der Zukunft!» (M. Stichling)

Ein weiteres Projekt ist „Phage4Cure“, vorgestellt von Univ.-Prof. Dr. Martin Witzenrath, Charité – Universitätsmedizin Berlin, an welchem die o. g. Konsortialpartner ebenfalls beteiligt sind. Ziel ist hier, eine für alle Patienten gleiche und vorkonfektionierte Bakteriophagen-Mischung als zugelassenes Arzneimittel in Form eines inhalativen Therapeutikums gegen pulmonale Pseudomonas-­Infektionen bei Mukoviszidose-Patienten zu etablieren. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt von 2017-2020 mit knapp 4 Mio. Euro ­­(www.phage4cure.de).

Interdisziplinärer Austausch in Task Groups

Zum Abschluss jedes Kongresstages waren die Teilnehmer zur aktiven Mitarbeit in Task Groups aufgefordert und konnten aus insgesamt sechs Themen zwei auswählen.

Gruppe 1 ging der Frage „What is the evidence for the benefit of phage therapy today?“ nach. Wichtig war die Unterscheidung zwischen einer mikrobiologischen und einer klinischen Evidenz. Für die Mikrobiologie entscheidend sind die in vitro Aktivität, in vivo Daten (Tiermodell) und Humandaten. Benötigt werden ein größeres systematisches Verständnis für die Bedingungen, unter welchen Phagen lytisch sind, ein besseres Verständnis für die optimale Zusammenstellung eines Phagen-Cocktails sowie standardisierte, präzise Assays für die klinische Anwendung. Zur Verbesserung der Evidenz werden mehr kontrollierte klinische Studien mit einem starken translationalen Forschungsansatz gefordert, da aktuell nur unkontrollierte klinische Beobachtungen (case series) erfolgen.

Gruppe 2 hatte „The challenge: Which quality standards are required for phage pharmaceutical products?” zu beantworten. An erster Stelle steht die Notwendigkeit der Quantifizierung, Charakterisierung und Einigung auf einen Schwellenwert für potenziell aktivierbare (transduzierende) Prophagen und Endotoxine (Menge an Wirtsprotein, die erlaubt ist). Ferner müssen Kontaminanten innerhalb akzeptabler Standardgrenzen definiert werden, ebenso wie der Gesamtprozess definiert, standardisiert und protokolliert werden muss.

Gruppe 3 fragte sich „How do we finance RCTs, and which indications should be targeted first?”. Als mögliche Finanzierungsquellen werden neben Horizon 2020 auf nationaler Ebene das BMBF, die DFG, das DZIF sowie der Innovationsfonds gesehen. Die Gates Foundation und der Wellcome Trust sind ebenso denkbar wie die Finanzierung über das Militär oder Venture Capital. Als fachspezifische Programme kommen JPIAMR sowie CARB-X in Frage.

Eine Priorisierung der Indikationen fällt aufgrund fehlender Kriterien schwer, empfohlen wird zunächst die Konzentration auf Wundbehandlung nach Knochen- und Gelenkinfektionen sowie Implantat-assoziierte Infektionen.

Gruppe 4 überlegteHow do we soon achieve an implementation of phage therapy into the clinic (phagogram, technique of application, phage/antibiotic-administration, role of different administration regimens and neutralizing antibody production)?” und kam zu dem Ergebnis, dass Bildung (breite Öffentlichkeit wie auch Studenten, Ärzte, Apotheker) eine besonders wichtige Funktion hat. Weiterhin wichtig sind Fallstudien, weil sich bei vielen Indikationen für Phagentherapie eine klinische Studie nicht realisieren lässt. Da es sich um ein Therapie-Konzept handelt, wäre es auch besser, dieses entlang verschiedener Krankheitsfelder auszulegen. Noch wichtiger aber ist, dass sich niemand den EU-GMP-Regeln entziehen kann und daher jedes Zentrum, das Phagen verwendet, eine GMP-Zertifizierung beantragen sollte. Auch die Frage nach Registern gilt es zu bedenken, denn Leitlinien geben Empfehlungen, wie Patienten behandelt werden sollten, Register hingegen, wie Patienten schließlich behandelt wurden. Daher sollte ein Register viele detaillierte Informationen enthalten (Dosierung, Nachbeobachtung etc.) als Orientierungshilfe für nachfolgende Phagentherapien weiterer Patienten. Doch zu allererst stellt sich die Frage, ob wir überhaupt alle relevanten Patienten-, Diagnose- und Therapiedaten kennen, die in das Register aufgenommen werden müssen, um später tatsächlich den Nachweis erbringen zu können, dass die jeweilige Phagentherapie effektiv für den jeweiligen Patienten gewesen war, was als grundsätzliches Problem aller Registerstudien gilt.

Gruppe 5 blickte in die Zukunft mit der Frage „How can phage therapy benefit from the new technological advances, particularly genetic manipulation of phages and machine learning technologies to predict the best phage preparation?”. Modifizierte Bakteriophagen werden als Zukunft der Therapie gesehen. Hauptgründe sind ein potenziell breiteres Spektrum für Cocktails, die die Möglichkeit der Modifikation auf individueller Basis, der Schutz der ‚intellectual property‘, die Attraktivität für Big Pharma sowie akademische Herausforderungen. Kritisch gesehen wird, dass das Konzept initial zunächst mit dem Wildtyp-Phagen bewiesen werden muss. Hinzu kommen regulatorische Probleme und das Phänomen der Angst vor gentechnisch veränderten Organismen (GVO, GMO). Als Empfehlung kann gelten, dass die genetischen Modifikationen zunächst für klar definierte, ansonsten mit herstellungsbedingten Problemen einhergehende Fälle in Frage kommen, ein gemeinsamer Leitfaden „Good Participatory Practice“ (GPP) benötigt wird, die Öffentlichkeit behutsam informiert werden muss und die Forscher ihre kritischsten Fürsprecher sein sollten.

Gruppe 6 wollte wissen „How to establish shared libraries of phages to persue a personalized approach in an efficient way?“. Da die Integration der Phagentherapie in die wissenschaftliche und klinische Forschung aktuell nicht gut strukturiert ist, muss zunächst an diesem Punkt angesetzt werden. Singuläre Zentren erscheinen nicht realisierbar (Finanzierung, rechtliche Zwänge etc.), daher sollten mehrere Exzellenzzentren geschaffen werden (z. B. Belgien, Deutschland, Georgien); dies hätte Vorteile für die Patientenkoordination und die Zugänglichkeit der Behörden. Empfohlen wird, hierzu eine Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen, die ein Konsensuspapier im Sinne einer ‚expert opinion‘ erstellt.

«Our objective is to develop bacteriophage solutions to defeat ­bacterial infections that are important to the US Military.»
(Brett E. Swierczewski)

Beginn der internationalen Netzwerkarbeit

Aus den Arbeitsgruppen wie auch aus dem Plenum heraus wurde durch den hohen fachlichen Input und die intensive Auseinandersetzung bereits am Ende des Meetings ein erstes Netzwerk-Ziel formuliert: die Schaffung eines internationalen Registers für die Phagentherapie (International database on bacteriophagetherapy). Unter Koordination von Dr. Lorenz Leitner, Universitätsklinik Balgrist, Zürich, wird aktuell ein Konsensuspapier erstellt, welches die Minimalanforderungen sowohl an die Phagentherapie als auch an den Dateneintrag festschreibt, Vorlagen für die Dokumentation bereithält und die nötige Infrastruktur für die Arbeit mit der Datenbank definiert.

«Die Vision unseres gemeinsamen prospektiven internationalen Registers ist es, datenbasiert die Sicherheit von Patienten zu maximieren, optimierte Behandlungsmöglichkeiten zu evaluieren, die Planung klinischer Studien zu fokussieren und nicht zuletzt, eine offene Diskussion mit den Behörden zu ermöglichen.» (Dr. L. Leitner)

Als weiteres Kooperationsprojekt, das aus dem Meeting hervorgegangen ist, wird sich das BwKrhs Berlin in internationaler Zusammenarbeit, gemeinsam mit dem Institut für Mikrobiologie der Bw (München), auf die wissenschaftliche Verdichtung des aktuellen klinisch relevanten Phagenwissens und einen erleichterten Austausch von bereits isolierten Bakteriophagen fokussieren.

Einfließen werden die Ergebnisse des Phage Meeting Berlin 2019 zudem auch in die NATO HFM-313 Research Task Group (RTG) „Re-introduction of phage therapy in military medicine“ (www.sto.nato.int), für die Deutschland das Co-Chairmanship auszuüben hat und deren internationale Mitglieder aktive Teilnehmer am Phage Meeting waren.

Verfasser

Nina Passoth – life sciences communications

Wissenschaftskommunikation & Marketing

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