AEROMEDICAL RISK ASSESSMENT
Inzidentelle Befunde im Fachgebiet Neurologie und flugmedizinische Erwägungen bei aktiv fliegendem Personal
Marcus Wischlitzki a
a Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe – Dezernat II 3f Neurologie, Psychiatrie und klinische Flugpsychologie, Fürstenfeldbruck
Zusammenfassung
Im Rahmen der Untersuchung von fliegendem Personal auf Wehrfliegerverwendungsfähigkeit kommt es immer wieder zur inzidentellen Erhebung von (pathologischen) Befunden, deren Krankheitswert zu diskutieren ist. Neben der Nutzen-Risiko-Abwägung in Bezug auf die Behandlungsbedürftigkeit eines solchen inzidentellen Befundes ist aus flugmedizinischer Sicht die Frage nach der weiteren Wehrfliegerverwendungsfähigkeit zu stellen, bei deren Beantwortung zum einen das Risiko einer plötzlichen Handlungsunfähigkeit im Flugdienst (sudden incapacitation) und zum anderen das Risiko einer Verschlimmerung bzw. Krankheitsauslösung durch die fliegerische Tätigkeit in den Fokus zu stellen sind.
Am Fallbeispiel einer zufällig entdeckten Arachnoidalzyste bei einem erfahrenen Luftfahrzeugführer wird die Vorgehensweise des Zentrums für Luft- und Raumfahrtmedizin in solchen Fällen vorgestellt.
Schlüsselworte: Inzidenteller Befund, Arachnoidalzyste, Wehrfliegerverwendungsfähigkeit, Risikobewertung, plötzliche Handlungsunfähigkeit
Keywords: incidental findings, arachnoid cyst, fit for flying duties, risk assessment, sudden incapacitation
Fallbeschreibung
Der 39-jährige Proband, Fluglehrer und erfahrener Kommandant eines Flächenflugzeugs (ca. 3 700 Realflugstunden) stellte sich im September 2017 wegen rezidivierender Kribbelparaesthesien der Finger Dig. III und IV beidseits (re>li), welche vor allem in der Nacht auftraten und für Schlafstörungen sorgten, beim Truppenarzt vor. Dieser veranlasste eine MRT des Schädels und der Halswirbelsäule (HWS).
Die MRT der HWS ergab einen altersentsprechend unauffälligen Befund. In der MRT des Schädels zeigte sich eine Arachnoidalzyste im Bereich des linken Hippocampus mit leichtgradiger Kompression desselbigen von kranial (Abbildung 1).
Abb. 1: cMRT bei einer Arachnoidalzyste: Axiales T2w (A) und koronares T2 FLAIR (B) MRT-Bild zeigen eine links parahippocampale Arachnoidalzyste (roter Pfeil).
Anamnestisch waren keine Schädel-Hirn-Traumata bekannt, die MRT des Schädels bei Erstuntersuchung auf Wehrfliegerverwendungsfähigkeit (WFV) im Juni 1998 war als unauffällig beschrieben worden. Unklare Bewusstseinsverluste oder unwillkürliche motorische Entäußerungen wurden nicht angegeben. Damit handelte es sich bei der Arachnoidalzyste um einen inzidentellen Befund im Rahmen einer Routineabklärung. Da es sich aufgrund der unauffälligen Vorgeschichte mutmaßlich um eine unklare intrakranielle Neubildung handelte, erfolgte im Juni 2018 die Beurteilung des Probanden als „nicht wehrfliegerverwendungsfähig“ (gemäß Zentralvorschrift A1 - 831/0 - 4008 Ziff. 270(3)).
Die Kribbelparaesthesien kamen nach physiotherapeutischen Maßnahmen sowie Anschaffung eines neuen Kopfkissens zum Erliegen. Bis heute ist der Proband diesbezüglich beschwerdefrei.
Weitere Diagnostik und Verlauf
Bereits bei WFV-Untersuchung im Juni 2018 wurde ein EEG mit Hyperventilation (HV) und Flackerlichtstimulation (FS) – als Provokationsmethoden – durchgeführt. Hier zeigte sich ein Normalbefund ohne Hinweis auf eine Hirnfunktionsstörung oder erhöhte zerebrale Erregbarkeit.
Im Rahmen der erweiterten Diagnostik wurde der Proband im August 2018 in den Abteilungen Neurologie und Radiologie des Bundeswehrzentralkrankenhauses (BwZKrhs) Koblenz vorgestellt. Hier erfolgte eine EEG-Serie (EEG an 3 aufeinanderfolgenden Tagen, jeweils mit Hyperventilation und Flackerlichtsimulation), ein Schlafentzugs-EEG sowie eine erneute MRT des Schädels, diesmal mit Kontrastmittelunterstützung. Die EEG-Serie sowie das Schlafentzugs-EEG wurden als im Bereich der Norm befindlich beschrieben. Die MRT des Schädels zeigte einen Status idem im Vergleich zu den Voraufnahmen, außerdem keine Anreicherung von Kontrastmittel, insbesondere im Bereich der Zyste.
In der interdisziplinären Fallkonferenz des BwZKrhs Koblenz wurde aufgrund dieser Ergebnisse die Arachnoidalzyste als Zufallsbefund ohne Krankheitswert eingeordnet.
Der Proband beantragte daher 09/2018 die Erteilung einer fliegerärztlichen Sondergenehmigung.
Diskussion
Definition und Prävalenz
Arachnoidalzysten sind flüssigkeitsgefüllte Hohlräume, welchen eine Differenzierungsstörung der Hirnhäute zugrunde liegt. Häufig werden Arachnoidalzysten als inzidentelle Befunde im Rahmen von CT- und/oder MRT-Untersuchungen des Schädels entdeckt. Es wird von einer Häufigkeit von etwa 1,5 - 3 % mit Präferenz des männlichen Geschlechts ausgegangen [1][2].
Allgemeine und spezielle Erwägungen zum Thema „Arachnoidalzysten“
In zwei großen Studien aus den Jahren 2010 (Kinder) [1] und 2013 (Erwachsene) [2] wurden von AL-HOLOU et al. jeweils große Fallzahlen (n = 11 738 bzw. n = 48 417)untersucht [1]. Bei den Kindern lag die Prävalenz für Arachnoidalzysten bei 2,6 %, bei den Erwachsenen lag sie bei 1,4 %. Es wurde unter anderem festgestellt, dass Arachnoidalzysten nur selten spezifische Symptome verursachen (z. B. intrakranielle Blutung, Hydrozephalus oder Epilepsie), welche einer spezifischen Behandlung oder gar eines chirurgischen Eingriffs bedürfen (2010: 21 von 309 Zysten; 2013: 35 von 696 Zysten). Die meisten sind ohne klinisches Korrelat bzw. haben unspezifische Symptome, wie z. B. Kopfschmerz, kognitive Dysfunktion bzw. Beeinflussung der kognitiven Entwicklung bei Kindern. In der Studie aus 2010 zeigte sich bei einem von 309 Patienten eine posttraumatische Blutung in die Zyste, 2013 kam es bei einem von 661 Patienten zu einer Blutung in die Zyste aufgrund eines Aneurysmas, bei einem zweiten Patienten kam es zu einem Subduralhämatom, welches in Zusammenhang mit der Arachnoidalzyste gesehen wurde.
Therapieoptionen
Eine (neurochirurgische) Therapie wird bei asymptomatischen Arachnoidalzysten derzeit von keiner der Fachgesellschaften empfohlen. Die Therapie einer symptomatischen Arachnoidalzyste ist abhängig vom Beschwerdebild und dem Verlauf.
Letztendlich sind sich die Autoren einig, dass ein Großteil der gefundenen Arachnoidalzysten asymptomatisch bleibt und sich damit um sogenannte „incidental findings“ handelt. Symptome sind meist unspezifisch; eine Progression der Größe bzw. das Auftreten einer spezifischen Symptomatik ist eher unwahrscheinlich.
Flugmedizinische Relevanz und Entscheidungsfindung
Arachnoidalzysten können in flugmedizinischer Hinsicht durch zwei Gruppen von Symptomen relevant werden.
- Symptome können durch die Zyste selbst entstehen. Dabei fungieren insbesondere supratentoriell gelegene Arachnoidalzysten als epileptogener Fokus. Suprasellär oder infratentoriell gelegene Arachnoidalzysten können auch durch eine raumfordernde Wirkung symptomatisch werden. Von besonderer Bedeutung sind das erhöhte Risiko einer bereits bei sogenannten Bagatelltraumata des Kopfes beschriebenen Einblutung in die Zyste oder einer subduralen Blutung mit dann sekundären Komplikationen (z. B. epileptische Anfälle).
- Es wird vermutet, dass Arachnoidalzysten häufig mit Entwicklungsanomalien (DD: Verdrängung) der angrenzenden Hirnsubstanz einhergehen, welche ihrerseits wiederum symptomatisch werden können. Unter anderem sind Gedächtnis-, Konzentrations- und Persönlichkeitsstörungen in ursächlichen Zusammenhang mit dem Vorliegen von Arachnoidalzysten gebracht worden.
Verlässliche Prädiktoren für eine komplikationsfreie individuelle Prognose existieren nicht.
Im vorgestellten Fall hätte aufgrund der Lage der Arachnoidalzyste im Bereich des Hippocampus der linken Hemisphäre, mit geringer Kompression desselben, möglicherweise mit einem erhöhten Risiko einer plötzlich eintretenden Handlungsunfähigkeit (sudden incapacitation) in Form eines sogenannten Temporallappenanfalls zu rechnen sein können. Jedoch gab es zum Zeitpunkt der Beantragung der Ausnahmegenehmigung keinen Hinweis auf das Vorliegen relevanter neurologischer, kognitiver oder psychopathologischer Störungen. Auch rezidivierende Kopfschmerzen wurden verneint. Das Risiko für eine sudden incapacitation ist nach aktuelleren Literaturangaben [2] mit unter 1 % angegeben.
Im vorliegenden Fall wurde durch den Fachabteilungsleiter II des ZentrLuRMed Lw daher dem Antrag des Probanden auf Erteilung einer Sondergenehmigung mit Einschränkungen und Auflagen stattgegeben:
- Einschränkungen: Einsatz nur in Luftfahrzeugen mit Doppelsteuer und mit zweitem Luftfahrzeugführer mit Musterberechtigung, kein Strahlflugzeug mit Schleudersitz
- Auflagen: cMRT- und EEG-Kontrollen nach Maßgabe des ZentrLuRMed Lw
Interdisziplinäre flugmedizinische Bewertung von inzidentell diagnostizierten Arachnoidalzysten:
Bei Erstbewerbern für den fliegerischen Dienst macht die Diagnose einer Arachnoidalzyste/Hirnzyste nach Zentralvorschrift A1 - 831/0 - 4008 Ziff. 270(3) untauglich. Sie können jedoch im Rahmen eines Sondergenehmigungsverfahrens, in Abhängigkeit von Lage, Größe und Gesamtbild, eine eingeschränkte Tauglichkeit erlangen.
Im „Normalfall“ bedeutet dieses „keinen Einsatz auf strahlgetriebenen Luftfahrzeugen mit Schleudersitz“ sowie ggf. „Einsatz nur in Luftfahrzeugen mit Doppelsteuer und mit zweitem Luftfahrzeugführer mit Musterberechtigung“. Da eine solche Konstellation im Regelfall auf Transportluftfahrzeuge beschränkt ist, besteht auch im Fall einer sudden incapacitation ein hinreichender „Sicherheitspuffer“.
Dieses Vorgehen wurde in einer interdisziplinären Konferenz 06/2018, deren Teilnehmer sich aus den Fachgebieten Radiologie, Pathologie, Neurochirurgie, Neurologie und Flugmedizin rekrutierten, beschlossen.
Literatur
- Al-Holou WN, Yew AY, Boomsaad ZE et al.: Prevalence and natural history of arachnoid cysts in children, Journal Neurosurgery Pediatrics 2010; 5(6): 578-585. mehr lesen
- Al-Holou WN, Terman S, Kilburg C et al.: Prevalence and natural history of arachnoid cysts in adults, Journal Neurosurgery 2013; 118(2): 222-231. mehr lesen
Manuskriptdaten
Zitierweise
Wischlitzki M: Inzidentelle Befunde im Fachgebiet Neurologie und flugmedizinische Erwägungen bei aktiv fliegendem Personal. WMM 2020; 64(6-7): 242-244.
Verfasser
Oberfeldarzt Marcus Wischlitzki
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Klinik für Psychiatrie
Rübenacher Str. 170; 56072 Koblenz
E-Mail: marcuswischlitzki@bundeswehr.org