Wehrmedizinische Monatsschrift

ONE HEALTH

Multinationale Lösungen

Erste Beobachtungen der Covid-19-Pandemie

Stefan Kowitz a

a Multinational Medical Coordination Centre/European Medical Command

 

Hintergrund

„COVID-19 stellt eine beispiellose Herausforderung für unsere Nationen dar. Die Herausforderungen, die sich aus COVID- 19 ergeben, kennen keine Grenzen. Und wir sind stärker und sicherer, wenn wir mit unseren Partnern zusammenarbeiten.“ 1

J. Stoltenberg, NATO-Generalsekretär

Die Pandemie verlangt daher verstärkt nach belastbaren multinationalen Lösungen. Unsere Nationen müssen auf eine mögliche zweite Welle von COVID-19-Infektionen vorbereitet sein, einschließlich der Option eines kombinierten COVID-19- und Grippeepidemie-Szenarios. Das Multinational Medical Coordination Centre /European Medical Command (MMCC/EMC) leistet hierzu einen aktiven Beitrag.

Wie die COVID-19-Pandemie erneut belegt, erfordert die enge Verbindung zwischen Gesundheit und Sicherheit in einer zunehmend vernetzten und voneinander abhängigen Welt zukünftig eine noch bessere medizinische Reaktionsfähigkeit. Jede Form von Ereignissen, welche auf Ausbrüchen von infektiösen Erkrankungen oder ­außergewöhnlichen biologischen Gefahrenlagen beruhen, benötigen eine umfassende, organisationsübergreifende Reaktion. Die Umsetzungsgeschwindigkeit dieser Reaktion ist dabei von größter Bedeutung.

NATO und Europäische Union

In der Erklärung des Prager NATO-Gipfels (2002) kündigten die Staats- und Regierungschefs ihre Verpflichtung zur vollständigen Umsetzung des Aktionsplans für die zivile Notfallplanung (Civil Emergency Planning, CEP) zur Verbesserung der Vorbereitung auf mögliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung mit chemischen, biologischen oder radiologischen (CBR-) Mitteln an. Darüber hinaus wurde die Umsetzung von fünf Initiativen zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses gegen Massenvernichtungswaffen entschieden. Eine der fünf Initiativen war die Entwicklung eines Krankheitsüberwachungssystems (Surveillance-System).

Health Surveillance

Im Jahr 2003 entwickelten und testeten der französische und der deutsche Sanitätsdienst unter der Führung des Allied Command Transformation (ACT) ein multinationales medizinisches Überwachungssystem. Auf der Grundlage einer Reihe erfolgreicher multinationaler Übungen forderten ACT und die Force Health Protection Working Group der NATO 2 den Aufbau einer permanenten multinationalen Deployment Health Surveillance Capability (DHSC).

Im Januar 2010 wurde im Sanitätsamt der Bundeswehr in München ein multinationales DHSC-Element eingerichtet. Im folgenden Jahr wurde das DHSC als ‚Satelliteneinheit‘ in das NATO Centre of Excellence for Military Medicine (MILMED CoE) in Budapest integriert. Das DHSC wertet die regelmäßigen epidemiologischen (EPINATO) Meldungen der Ebene 1 Sanitätseinrichtungen (Truppenärzte) für die Auslandseinsätze der NATO aus. Es ist ein wichtiges Frühwarnsystem in den Einsätzen in Hinblick auf COVID-19 Ausbrüche und epidemiologische Lagebewertungen.

Globales Risiko: Infektionskrankheiten

In den letzten 50 Jahren hat die Menschheit verschiedene neu auftretende Infektionskrankheiten erlebt. Diese Krankheiten sind als Folge der Interaktion zwischen Mensch und Tier entstanden. Die Zerstörung natürlicher Lebensräume zwingt viele Tierarten dazu, stärker in räumlicher Nähe zu Siedlungen zu leben. Darüber hinaus begünstigen die gemeinsamen Lebensräume von Menschen und Nutztieren die Zunahme und Ausbreitung von Zoonosen. Bis zu zwei Drittel der neu auftretenden Infektionen gehen auf Wild- oder/und Haustiere zurück. Sie führen entweder regional, national oder international zu Problemen der öffentlichen Gesundheit. Die jüngsten Beispiele vor COVID-19 waren die SARS-Epidemie 2003, die H1N1-Grippe-Pandemie 2009, der Ebola-Ausbruch 2014 in Westafrika und der Zika-Ausbruch 2016 in Lateinamerika.

Während die NATO in der Vergangenheit ihre diesbezüglichen Planungen vorrangig auf die Abwehr biologischer Waffen und terroristischer Angriffe richtete, hat sich zumindest die EU in ihrer Global Strategy (2016) zur verstärkten Bekämpfung von Pandemien bekannt „One health – we will work for more effective prevention, detection, and responses to global pandemics.“ 3 Der Ebola Ausbruch in Westafrika und die aktuelle COVID-19-Pandemie dokumentieren, dass Gesundheitskrisen die Stabilität ganzer Staaten, Regionen und letztlich unserer gesamten Welt gefährden können – mit enormen negativen Effekten für Wirtschaft und die internationale Sicherheit. Dies zeigt, dass eine Abwehrfähigkeit allein für biologische Kampfstoffe nicht ausreichend ist.

Die COVID-19-Krise hat die Gesundheitssysteme national und international, wie auch die militärischen Sanitätsdienste vor nicht gekannte Herausforderungen gestellt. Bislang liegen keine Erkenntnisse vor, dass die Einbindung der Sanitätsdienste in die Pandemiebekämpfung zu negativen Effekten für die Einsatzbereitschaft der ­Einsatzkontingente oder der Kräfte mit Standby-Verpflichtungen von NATO oder EU geführt haben. Qua­rantänemaßnahmen vor dem Einsatz und frühzeitige Repatriierungen von infiziertem Personal oder Verdachtsfällen sind hierbei die bekanntesten und erfolgreichsten Maßnahmen.

Knappe Ressourcen

Die wichtigste Lehre, die bisher gezogen wurde, ist die „enge Verbindung zwischen den zivilen Anstrengungen zur Bekämpfung der Gesundheitskrise und der Fähigkeit der Militärs, diese Bemühungen zu unterstützen“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg. „Genau das ist es, was wir auch untersuchen müssen, wie wir es noch besser machen können, wenn die nächste Krise auf uns zukommt.“ 4 

Auffällig ist, dass dem zivilen Bereich die materiellen und personellen Reduktionen im Bereich der militärischen Sanitätsdienste in den letzten zwei Jahrzehnten – als Folge der Finanzkrise 2008 und der „Friedensdividende“ nach Ende des Kalten Krieges – nicht in Gänze bewusst zu sein schien. Dies hat zum Teil zu falschen Erwartungen in Hinblick auf die Kapazitäten der Sanitätsdienste geführt, welche nicht mehr über umfangreiche medizinische Vorräte, Lagerbestände oder eine große Anzahl an einsatzfähigen Feldlazaretten verfügen. Die Sanitätsdienste sind auf die sanitätsdienstliche Unterstützung von Stabilisierungsmissionen, wie auf dem Balkan oder in Afghanistan, optimiert worden. Zusätzlich haben die Katastrophenschutzbehörden in den meisten Ländern auch ihre Fähigkeiten und Kapazitäten reduziert. Daher kam es bei einigen Nationen zu Belastungen und teilweise sogar zu Engpässen in der Sanitätsmaterialversorgung.

Das MMCC/EMC in der COVID-19-Pandemie

Während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie nutzte das MMCC/EMC sein etabliertes Netzwerk zur Verbindung zwischen den Sanitätsdiensten in Europa für Fragen wie Fixed Wing MEDEVAC, Bereitstellung von medizinischer Ausrüstung und Erfahrungsaustausch beim Transport von Erkrankten mittels Eisenbahnzügen. Das MMCC/EMC unterstützte COMEDS mit einer Kurzanalyse und Zusammenfassung der Antworten der Nationen auf einen umfangreichen COVID-19-Fragenkatalog zur Vorbereitung des Briefings des Vorsitzenden COMEDS 5 beim Military Committee (MC) der NATO.

Abb. 1: Die Luftwaffe und der Sanitätsdienst holen mit dem Airbus A310 MedEvac COVID-19-Intensivpatienten aus anderen europäischen Ländern – ein Beispiel für erfolgreiche multinationale zivil-militärischen Kooperation des Kommandos Sanitätsdienst der Bundeswehr.

Kurz vor dem Aufflammen der Corona-Krise fand Anfang März 2020 ein Workshop (WS) mit dem Thema sanitätsdienstliche zivil-militärische Kooperation mit dem Fokus auf Großschadensereignisse statt, die durch einen erhöhten Anfall von Verletzen oder Erkrankten geprägt sind. Der Workshop wurde in Kooperation mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ausgerichtet. Ein Tag des Workshops konzentrierte sich ausschließlich auf die Corona-Krise. Alle Teilnehmer des Workshops waren sich einig, dass nicht nur die Ergebnisse aus diesem Workshop, sondern dass auch die Best Practices und operativen Beobachtungen aus der aktuellen Corona-Krise Teil der weiterführenden Arbeit auf diesem Gebiet sein müssten.

Resilient Response

Hierzu wird das MMCC/EMC in Zusammenarbeit mit dem European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats (Hybrid CoE) und dem BKK vom 23. bis 27. ­November 2020 ein Wargaming mit pandemischem Schwerpunkt („Resilient Response 2020“) durchführen. Die Beobachtungen und Lehren aus der ersten COVID-19-Welle werden in die Übungsentwicklung integriert. Das Ziel des MMCC/EMC Wargaming Projektes „Resilient Response 2020“ ist es, eine bessere sanitätsdienstliche Vorbereitung auf den Ausbruch einer Epidemie sowie auf hybride Gefährdungen, die die Gesundheitssysteme fordern, zu unterstützen.

Bevorratung von Sanitätsmaterial

Die aktuelle COVID-19-Pandemie hat darüber hinaus gezeigt, dass Vorratshaltung von Sanitätsmaterial und medizinischen Verbrauchsmaterialien die Reaktionsfähigkeit und Resilienz ziviler und militärischer Gesundheitssysteme verbessert. Das MMCC/EMC wurde durch das Euro-Atlantic Disaster Response Coordination Centre (EADRCC) der NATO gebeten, ein Konzept zur sanitätsdienstlichen Vorratshaltung zur Vorbereitung einer möglichen zweiten COVID-19-Welle zu entwickeln. In diesem Konzept wurden verschiedene modulare, schnell einsetzbare Standardpakete für unterschiedliche Anforderungen und Szenare definiert. Basierend auf diesem Konzept wird die Einrichtung von zukünftigen Lagerbeständen entwickelt. Das MMCC/EMC unterstützt zudem den Europäischen Militärstab (EUMS) bei vergleichbaren Planungen. Auch wird der Erfahrungsaustausch mit den entsprechenden zivilen Stellen der Europäischen Union gesucht.

Die Rolle der EU

Der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik J. Borrell fordert, dass Europa eine stärker führende Rolle in der Corona-Krise übernehmen soll.

Die Europäische Union muss die Herzen und Köpfe der Europäer berühren. Sie müssen wahrnehmen, fühlen, dass die Europäische Union da ist, um sie zu schützen. Und die Antwort auf die Krise wäre ohne die Europäische Union viel schlimmer.“ 6 

Im Rahmen der Deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 soll die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen wesentlichen Beitrag zu einer handlungsfähigeren EU leisten. In diesem Sinne wird der Sanitätsdienst der Bundeswehr zusammen mit dem MMCC/EMC zur Stärkung der Resilienz beitragen. Ziel ist die Entwicklung und Lagerung modularer Sanitätsmaterialpakete für den Einsatz bei Epidemien. Der Deutsche Sanitätsdienst, als Framework Nation für das MMCC/EMC, will durch gemeinsame Koordination mit den 17 Partner­nationen des MMCC/EMC zeigen, dass wir die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln haben.

Fazit

Die Erfahrungen der letzten Monate haben die Bedeutung und die Leistungsfähigkeit der Sanitätsdienste eindrucksvoll unterstrichen. Admiral J. Foggo, Befehlshaber des Joint Forces Command in Neapel forderte jüngst die Einführung einer siebten Domäne 7 der Kriegführung, die die Gefahren durch infektiöse Erreger reflektiert. Das ist sicherlich zu kurz gegriffen. Besser wäre die Forderung nach einer eigenen funktionalen Domäne für den Sanitätsdienst. Unabhängig von diesen Überlegungen müssen die Investitionen in die Sanitätsdienste und den gesundheitlichen Bevölkerungsschutz verstärkt werden, um für zukünftige Herausforderungen noch besser vorbereitet zu sein.

Literatur

  1. Communiqué NATO Prague Summit Declaration, 21 Nov. 2002; letzter Aufruf 20. Juli 2020. mehr lesen
  2. Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe, A Global Strategy for the European Union’s Foreign and Security Policy, June 2016; letzter Aufruf 20. Juli 2020.  mehr lesen
  3. The role of armed forces in the fight against coronavirus EPRS | European Parliamentary Research Service -Author: Tania LaČ›ici; Graphics: Nadejda Kresnichka-Nikolchova; Members' Research Service PE 649.401 – April 2020; letzter Aufruf 20. Juli 2020. mehr lesen
  4. Virtuelle Pressekonferenz NATO-Generalsekretär 15. April 2020.
  5. Woody C: "After coronavirus, the US needs to worry about a '7th domain' of warfare, top Navy commander in Europe says". Business Insider, 17 April 2020, letzter Aufruf 20. Juli 2020. mehr lesen
  6. Remarks by HR/VP Josep Borrell at the AFET-SEDE-DROI Committee, Brussels, 20/04/2020.

 

Verfasser

Generalarzt Dr. Stefan Kowitz

Director MMCC/EMC

Andernacher Straße 100, 56070 Koblenz

E-Mail: mmccdirector@bundeswehr.org


1 Virtuelle Pressekonferenz NATO-Generalsekretär 15. April 2020

2 Committee of the Chiefs of Military Medical Services in NATO (COMEDS)

3 Global Strategy for the EU’s Foreign and Security Policy (2016)

4 Virtuelle Pressekonferenz NATO-Generalsekretär 15. April 2020

5 Committee of the Chiefs of Military Medical Services in NATO (COMEDS)

6 Remarks by HR/VP Josep Borrell at the AFET-SEDE-DROI Committee, Brussels, 20/04/2020

7 USA Streitkräfte sprechen derzeit von 6 Domänen: Land, See, Luft, Weltraum, Cyber und Logistik.