Wehrmedizinische Monatsschrift

KASUISTIKEN

Neurologische Manifestationen bei SARS-CoV-2-
Infektion und intensivpflichtigen COVID-19-Patienten

Neurological manifestations in SARS-CoV-2 infection and intensive care
patients with COVID-19

Alexander Sigla, Patrick Heinza, Monika Meistera, Andreas Hartha, Jens Metrikata

a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik für Neurologie

 

Zusammenfassung

Seit dem Ausbrechen der Infektion mit dem Servere Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) Ende 2019, von dem auch die Bundeswehrkrankenhäuser betroffen sind, häufen sich Berichte über neurologische Manifestationen im Rahmen der Pandemie. Wir nehmen Einzelfälle von COVID-19-Patienten am Bundeswehrkrankenhaus Ulm zum Anlass, wehrmedizinisch relevante neurologische Aspekte der aktuellen Literatur mit Stand bis Juli 2020 darzustellen.

Neurologische Manifestationen betreffen sowohl das periphere (z. B. Guillain-Barré-Syndrom), als auch das zentrale Nervensystem (z. B. Schlaganfall oder Enzephalopathie). Bei drei COVID-19-Patienten traten neurologische Auffälligkeiten während der intensivmedizinischen Behandlung im Bundeswehrkrankenhaus Ulm auf, bei einem SARS-CoV-2 positivem Patienten ­während der Behandlung auf der Stroke Unit. Eine Unterscheidung zwischen spezifischen Folgen der Virusinfektion und bekannten Folgen eines intensivmedizinischen Aufenthalts von kritisch Kranken erweist sich zum aktuellen Zeitpunkt als herausfordernd.

Wichtig ist die Erkenntnis, dass COVID-19-Patienten auch neurologische Symptome entwickeln können. Umgekehrt sollte bei Patienten mit neurologischen Symptomen auch eine SARS-CoV-2-Infektion als mögliche Ursache berücksichtigt werden.

Neurologische Komplikationen im Zuge einer intensivmedizinischen Behandlung von COVID-19 Patienten bedürfen einer fachneurologischen Expertise mit ­Berücksichtigung langfristiger neurorehabilitativer Aspekte.

Schlüsselwörter: COVID-19, SARS-CoV-2, Neurologie, Anosmie, Enzephalopathie, cerebrovaskuläre Erkrankungen, Guillain-Barré-Syndrom, Intensivpatienten

Summary

Since the onset of the first infection with the Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) at the end of 2019, which also affects the Bundes­wehr hospitals in Germany, reports of neurological manifestations in the context of the pandemic have been increasing. We take individual cases of COVID-19 patients treated at the Bundeswehr Hospital Ulm as an opportunity to present neurological, military-related aspects of the current literature as of July 2020.

Neurological manifestations affect both the peripheral (e.g. Guillain-Barré syndrome) and the central nervous system (e.g. stroke or encephalopathy). Three patients with Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) had neurological complications during intensive care (ICU) and one SARS-CoV-2 positive patient on our stroke unit at the Bundeswehr Hospital Ulm. A distinction between the specific consequences of viral infection and known consequences of critical ill patients on ICU is proving challenging at this time.

It is important to recognize that COVID-19 patients can also develop neurological symptoms, as well as to consider SARS-CoV-2 infection as a possible cause in patients with neurological symptoms.

Neurological complications in the course of intensive medical treatment of COVID-19 patients require a neurological expertise with consideration of long-term neurorehabilitative aspects.

Keywords: COVID-19, SARS-CoV-2, neurology, anosmia, encephalopathy, cerebrovascular disease, Guillain-Barre syndrome, critical care patients

Hintergrund

Im Laufe der vergangenen Monate kam es zu einer Häufung von Fallberichten, Studien und Reviews über neurologische Manifestationen im Rahmen der Servere Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) Pandemie.

Infektionen des Nervensystems durch sogenannte neurotrope Viren sind nicht nicht selten (z. B. Meningitis und Enzephalitis durch FSME, Varizella-Zoster-, Herpes-simplex- oder Enteroviren) und auch besonders relevant in den Einsatzländern der Bundeswehr (z. B. Enzephalopathie durch in Mali endemische Lassa-Viren [15]). Nicht zuletzt sind auch Einsatzländer und somit die dort eingesetzten Soldatinnen und Soldaten durch die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie betroffen.

Die neurologischen Komplikationen im Rahmen einer SARS-CoV-2-Infektion betreffen sowohl das zentrale als auch das periphere Nervensystem – mit wohl unterschiedlichen zugrundeliegenden Pathomechanismen. Bei Intensivpatienten ohne COVID-19 sind bereits zahlreiche, teils schwerwiegende neurologische Komplikationen bekannt. Eine Unterscheidung zwischen spezifischen Folgen der Virusinfektion und unspezifischen Folgen eines intensivmedizinischen Aufenthalts mit unterschiedlichen Begleiterkrankungen erweist sich zum aktuellen Zeitpunkt als herausfordernd und bedarf weiterer Untersuchungen.

Eine neurologische Mitbeteiligung nach einer SARS-CoV-2-Infektion bzw. nach einem intensivmedizinischen Aufenthalt kann zu einer dauerhaften schweren körperlichen und geistigen Behinderung führen. Akutbehandlung bis neurorehabilitative Maßnahmen verfolgen das Ziel eines möglichst guten Behandlungsergebnisses dieser Patienten.

Fall-Synopsen

Fall 1

68-jähriger, männlicher, französischer, intensivpflichtiger Patient, mit bestätigter superinfizierter COVID-19-Pneumonie:

Verdachtsdiagnose

Hochgradiger klinischer Verdacht auf eine Critical Illness Myopathie (CIM).

Fall 2

78-jähriger, männlicher, deutscher, intensivpflichtiger Patient mit akutem Atemnotsyndrom bei bestätigter COVID-19-Pneumonie:

Diagnose

Passageres Delir und Verdacht auf eine Critical Illness Polyneuropathie (CIP).

Fall 3

66-jährige, weibliche, deutsche, intensivpflichtige Patientin mit akutem Atemnotsyndrom bei bestätigter COVID-19-Pneumonie:

Diagnose

Differenzialdiagnostischer Verdacht auf eine Critical Illness Myopathie (CIM).

Fall 4

64-jähriger, männlicher, türkischer Stroke-Unit-Patient, respiratorisch-asymptomatisch bei bestätigter SARS-CoV-2-Infektion:

Diagnose

Rezidivierender ischämischer Schlaganfall mit Verdacht auf Hyperkoagulopathie im Rahmen einer SARS-CoV-2-Infektion

Neurologische Manifestationen bei
SARS-CoV-2-Infektion

Neurologische Manifestationen im Rahmen der SARS-CoV-2-Infektion können sowohl Gehirn und Rückenmark, also das zentrale Nervensystem (ZNS), als auch das periphere Nervensystem (PNS) mit Gefäß- und Muskelbeteiligung betreffen. Abbildungen 1 und 2 geben einen Überblick über publizierte neurologische Manifestationen bei COVID-19-Patienten [44][48].

Abb. 1: Periphernervöse/muskuläre Manifestationen bei COVID-19 in Anlehnung an ROMAN et al. und PATERSON et al. [44][48]

Pathophysiologie neurologischer Manifestationen durch SARS- CoV-2

Als mögliche Eintrittspforte des SARS-CoV-2 gelten die Riechnerven (N. olfactorius, 1. Hirnnerv) bzw. der mit ihnen verbundene Bulbus olfactorius, welcher als einziger Teil des ZNS nicht von Dura mater geschützt ist [21]. Der Transport von Viren über eine gestörte Blut-Hirnschranke via infizierter Leukozyten wird ebenfalls als möglicher Infektionsweg des ZNS diskutiert [17].

Im Endothel von cerebralen Gefäßen konnten zudem Angiotensin converting enzyme 2 (ACE2)-Rezeptoren nachgewiesen werden [28], an die SARS-CoV-2 bindet, um in die Zelle zu gelangen [71]. Nach Bindung an den ACE2-Rezeptor löst das Virus eine Zytokinausschüttung aus, mit einem deutlichen Anstieg von Interleukin-1, Interleukin-6 und Tumornekrosefaktor [38][68]. Hohe Level dieser Zytokine steigern die vaskuläre Permeabilität und führen zu einer inflammatorisch bedingten Schädigung multipler Organe inklusive des ZNS [56]. Der Zytokinsturm triggert ebenfalls hyperkoagulatorische Kaskaden, die Blutgerinnsel in kleinen und großen Gefäßen verursachen können [23][68] (siehe Abbildung 3).

Abb. 2: Zentralnervöse Manifestationen bei COVID-19 in Anlehnung an ROMAN et al. und PATERSON et al. [44][48]

Abb. 3: Pathophysiologisches Modell der ZNS-Beteiligung bei SARS-CoV-2-Infektion (aus M. FOTUHI et al., [23]):
(1) Bindung und Inhibition von nasalen epithelialen Zellen mit Hyposmie
(2) Aktivierung inflammatorischer und thrombogener Signalwege mit Okklusion cerebraler Gefäße
(3) Sinus- bzw. Hirnvenenthrombose
(4) Hohe Zytokinlevel in den cerebralen Gefäßen können zu einer Schädigung der Blut-Hirn-Schranke führen, mit Infektion des Hirngewebes im Sinne einer Enzephalitis
(5) Schädigung meningealer Gefäße kann zu einer Meningitis führen
(6) Schädigung von Hirnnerven durch Autoantikörper

Durch SARS-CoV-2 bewirkte neurologische Manifestationen können nach FUTOHI et al. [23] in drei Stadien entsprechend der Stärke der viralen Infektion und Zytokinfreisetzung eingeteilt werden (Abbildung 4).

Abb. 4: NeuroCovid Stadien I bis III nach FUTOHI et al. [23]

Riech- und Geschmacksstörungen

Zu den besonders häufig berichteten neurologischen Manifestationen im Rahmen von COVID-19 zählen Hyposmie/Anosmie und Hypogeusie/Ageusie. Die Prävalenz von olfaktorischen bzw. gustatorischen Störungen unter COVID-19-Patienten wird mit ca. 80-90 % beziffert [32]. Beeinträchtigungen der olfaktorischen und gustatorischen Funktion bei COVID-19-Patienten treten wahrscheinlich durch eine Infektion der epithelialen Zellen der oralen und nasalen Mucosa durch das Virus auf [32][60]. In den olfaktorischen epithelialen Zellen, dem Nasopharynx und der oralen Mucosa, besteht eine hohe Dichte an ACE2-Rezeptoren [58][69]. Durch Bindung an die ACE2-Rezeptoren in der nasalen und oralen Mucosa kann SARS-CoV-2 sensorisch-rezeptive Zellen inhibieren und so zu einem vermindertem Geruchs- und Geschmacksempfinden führen [23].

Cerebrovaskuläre Erkrankungen

Unter cerebrovaskulären Erkrankungen werden hier ischämische und hämorrhagische Schlaganfälle sowie Sinus- bzw. Hirnvenenthrombosen zusammengefasst. In mehreren Studien bzw. Fallserien wurde über cerebrovaskuläre Ereignisse bei COVID-19 Patienten berichtet. In einer Studie von LI et al. wurde bei 13 von 221 COVID-19 Patienten bildgebend eine cerebrovaskuläre Erkrankung festgestellt. Die meisten Patienten erlitten dabei einen ischämischen Schlaganfall [34]. In einer Fallserie aus New York wurde über fünf junge COVID-19-Patienten unter 50 Jahren berichtet, die innerhalb kurzer Zeit mit ischämischen Territorialinfarkten vorstellig wurden. Zwei dieser fünf Patienten hatten keinerlei kardiovaskuläre Risikofaktoren zum Zeitpunkt des Schlaganfalls [42].

In einer retrospektiven Studie aus New York mit ca. 3 400 Patienten wurde die Inzidenz von ischämischen Schlaganfällen unter COVID-19-Patienten mit der von Influenzapatienten verglichen [39]. Notfallmäßig bzw. stationär behandelte Influenzapatienten wiesen eine Schlaganfallrate von 0,2% auf. Demgegenüber hatten COVID-Patienten mit 1,6 % deutlich häufiger einen ischämischen Schlaganfall (Odds ratio 7,6; 95%-Konfidenzintervall, 2,3-25,2).

In einer weiteren Studie mit ca. 3500 COVID-19-Patienten wurde deutlich, dass insbesondere jüngere Männer von einem ischämischen Schlaganfall betroffen sind [70]. Außerdem ging der Schlaganfall bei COVID-19-Patienten mit einem schwerwiegenderen neurologischen Defizit und einer deutlich höheren Mortalität als bei hospitalisierten Patienten ohne COVID-19 einher (64 % vs. 6%; p<0.001).

Es gibt Hinweise dafür, dass COVID-19 Patienten ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung hyperkoagulatorischer Zustände haben [56]. Blutgerinnsel können dabei sowohl im arteriellen als auch im venösen System auftreten [7][35]. Das im Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion beschriebene erhöhte Risiko für ischämische Schlaganfälle wurde in der Vergangenheit allgemeingültiger in großen bevölkerungsbasierten Studien für verschiedene virale und bakterielle Infektionen aufgezeigt [43]. Eine mögliche Ursache cerebrovaskulärer Erkrankungen im Rahmen einer SARS-CoV-2 Infektion stellt die Schädigung endothelialer Zellen durch das Virus dar. Dies führt zu einer Aktivierung von inflammatorischen und thrombogenen Signalwegen [62].

Enzephalitis, Meningitis und Enzephalopathie

Eine Enzephalitis bezeichnet die Entzündung des Hirnparenchyms, verursacht durch eine Infektion oder durch das körpereigene Immunsystem. Einzelfallberichte schildern COVID-19-Patienten im Alter von 24 bis 78 Jahren mit einer Enzephalitis [11][20][40][45][54][64][65]. Die neurologischen Auffälligkeiten traten von Tag 0 bis 17 nach Beginn der respiratorischen Symptome auf. Zwei Patienten hatten lediglich Fieber ohne respiratorische Symptome [20][64]. In den Fallberichten wurden typische neurologische Manifestationen einer Enzephalitis beschrieben mit Verwirrtheit, Reizbarkeit und Vigilanzminderung, teilweise assoziiert mit epileptischen Anfällen. Drei Patienten präsentierten sich mit einer Nackensteifigkeit [20][40][45]. Eine Liquordiagnostik wurde bei sechs Fällen beschrieben, von denen fünf eine primär lymphozytäre Pleozytose als Ausdruck der viral-entzündlichen Reaktion zeigten. In der MRT-Bildgebung konnten bei zwei Patienten Hyperintensitäten festgestellt werden. Eine bei fünf Patienten durchgeführte Elektroenzephalographie (EEG) [11][20][45][54][64] zeigte in zwei Fällen generalisierte Verlangsamungen, bei weiteren zwei Erkrankten fokale Auffälligkeiten und bei einem Patienten ließ sich ein non-konvulsiver Status epilepticus objektivieren [11].

COVID-19-Patienten, die sich mit akutem Kopfschmerz, Nackensteifigkeit, epileptischen Anfällen und Verwirrtheit vorstellen, können ebenfalls an einer Meningitis leiden [40]. Die Schädigung meningealer Blutgefäße und die Entzündung der Meningen kann zu dem klinischen Bild einer Meningitis führen [66].

Eine Enzephalopathie geht mit qualitativen und quantitativen Bewusstseinsstörungen einher. Die Patienten können sich mit Verwirrtheit, Lethargie, Delir bis hin zum Koma präsentieren. In einer französischen Datenreihe von 58 Intensivpatienten mit COVID-19 hatten 49 (84 %) neurologische Komplikationen, davon zeigten 40 (69 %) Zeichen einer Enzephalopathie [29]. Bei COVID-19-Patienten, die intensivmedizinisch behandelt wurden, mussten verschiedene andere Ursachen für eine Enzephalopathie, wie Hypoxie, Medikamente, Toxine und metabolische Entgleisungen, in Erwägung gezogen werden [55].

Anhand der begrenzten Daten kann momentan vermutet werden, dass SARS-CoV-2 eher eine immunvermittelte, als eine direkte virale Enzephalopathie auslöst. Die virusbedingte Aktivierung von Zytokinen wie Interleukin-1, Interleukin-6 oder Tumornekrosefaktor-alpha verursacht Schäden der Blut-Hirn-Schranke [66]. Mit zunehmender Schädigung der Blut-Hirn-Schranke kommt es insbesondere an den Temporallappen, wo die Blut-Hirn-Schranke schwächer ist, zu einer Invasion von Zytokinen in das Hirnparenchym [59][61]. Eine starke inflammatorische Antwort und der Eintritt von Blutbestandteilen können in epileptische Anfällen und in einer Enzephalopathie münden [66].

Komplikationen des peripheren Nervensystems und Muskelerkrankungen

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist charakterisiert durch rasch progrediente, oft symmetrische Paresen der Extremitäten, Areflexie sowie sensible/vegetative Symptome. Bei Fallberichten von 19 Patienten (medianes Alter 63 Jahre) mit GBS und dessen Varianten begannen neurologische Symptome 7-24Tage nach dem Auftreten respiratorischer Symptome. Acht Patienten entwickelten eine respiratorische Insuffizienz, zwei hatten die Miller-Fisher-Variante des GBS mit Ophthalmoplegie, Ataxie und Areflexie [18][21][27].

GBS, auch bekannt als akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP), kann nach einem gastrointestinalen bzw. respiratorischen Infekt auftreten. Als ursächlich werden molekulare Mimikry-Mechanismen angenommen, bei denen Epitope der Erreger ähnliche Komponenten enthalten wie Strukturen des PNS. Dies führt zu einer Stimulation von autoreaktiven B- und T-Zellen, die an Komponenten des PNS ansetzen und dieses schädigen [73]. Zytokine, die durch SARS-CoV-2 aktiviert werden, können zu einer Vaskulitis in und um Nerven und Muskeln führen [5][23] (siehe Abbildung 5). Ein Großteil der Muskelschädigung bei COVID-19 Patienten können neben Vaskulitis und Myositis einer Critical Illness Neuropathie und/oder Myopathie zugeschrieben werden [26].

In einer Beobachtungsstudie von Mao et al. lag die Rate von Patienten mit schwerer SARS-CoV-2 Infektion, die Hinweise für eine deutliche Muskelschädigung hatten bei 19 % [36]. Bis zu 70 % intensivpflichtiger Sepsispatienten entwickeln erregerunspezifisch eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie [13]. Zur Unterscheidung, ob neurologische Manifestationen als unspezifische Ursache einer kritischen Krankheit während eines intensivmedizinischen Aufenthalts oder als spezifische Folge einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten, bedarf es weiterer Untersuchungen. Möglicherweise handelt es sich um eine Kombination von beidem.

Abb. 5: Pathophysiologisches Modell der entzündlichen Beteiligung des peripheren Nervensystems mit Myositis und Vaskulitis bei SARS-CoV-2-Infektion aus FOTUHI et al. [23]:
(1) Die Aktivierung von Zytokinen durch SARS-CoV-2 führt zur inflammatorisch bedingten Schädigung epithelialer Zellen in den Gefäßen (Vaskulitis) und im Muskel (Myositis).
(2) SARS-CoV-2 kann die Bildung von Antikörpern triggern, die mit Antigenen des peripheren Nervensystems interagieren und ein Guillain-Barré-Syndrom auslösen können

Neurologische Manifestationen im Rahmen eines intensivmedizinischen Aufenthaltes kritisch Kranker

In der gegenwärtigen Situation ist der Blick des medizinischen Fachpublikums stark auf die vielfältigen neurologischen Manifestationen und Komplikationen einer COVID-19-Infektion gerichtet. Darüber hinaus dürfen die allgemein bereits bekannten neurologischen Langzeitfolgen und resultierenden Dysfunktionen des zentralen und peripheren Nervensystems bei intensivmedizinisch behandelten Patienten nicht unberücksichtigt bleiben (Abbildung 6).

Abb. 6: Wesentliche, ursachenunspezifische neurologische Manifestationen bei kritisch kranken Intensivpatienten

Komplikationen des peripheren Nervensystems und Muskelerkrankungen

Ein folgenschweres intensivmedizinisches Phänomen ist die erworbene Skelettmuskelschwäche bei kritisch Kranken (ICU aquired weakness, ICUAW). Diese primär klinisch zu diagnostizierende neu auftretende Muskelschwäche lässt sich histologisch und elektrophysiologisch in drei Untergruppen einteilen [31]:

Bei 25-100 % langzeitbehandelter Intensivpatienten wurde über neuromuskuläre Störungen berichtet [16][30][35]. Für eine CIP sind pathophysiologisch Störungen der Mikrozirkulation, Entzündungsphänomene, elektrophysiologische Veränderungen und metabolische Imbalancen im Bereich des Endoneuriums und Perineuriums zu nennen, die letztlich zu einer axonalen Nervenschädigung führen. Eine CIM ist durch eine verminderte elektrophysiologische muskuläre Erregbarkeit, eine veränderte elektromechanische Kopplung und die multifaktoriell bedingte Zerstörung bzw. Apoptose der Muskelfasern charakterisiert [31]. Abzugrenzen von einer CIM ist der progrediente Muskelschwund, das „muscle wasting“, welches als ein Ungleichgewicht zwischen Synthese und Abbau muskulärer Proteine durch Immobilisation, v. a. bei septischen Patienten zu beobachten ist [14].

Klinisch werden betroffene Patienten mit CIP oder CIM meist nach der akuten Krankheitsphase auffällig, eine ausgeprägte Bewegungsarmut steht dann häufig im Kontrast zum zunehmenden Vigilanzniveau [25]. Die CIP zeigt das klassische Bild einer atrophen und distal betonten Tetraparese mit abgeschwächten Muskeldehnungsreflexen [41]. Sensible Nervenfasern sind zumeist nicht oder nur schwach durch die Polyneuropathie erfasst [57]. Das klinische Bild der CIM ähnelt einer CIP, meist sind jedoch proximale Muskelgruppen betroffen. Die Sensibilität bleibt bei CIM erhalten [72]. Ein verlängertes Weaning, die erschwerte Entwöhnung des Patienten von der Beatmung, ist das klassische Zeichen von Patienten mit erworbener Muskelschwäche und stellt das Behandlungsteam vor große Herausforderungen [14]. Diagnostisch ist die klinisch-neurologische Untersuchung häufig bei unkooperativen bzw. bewusstseinseingeschränkten Patienten nur bedingt möglich. Laborchemie und elektrophysiologische Untersuchungsmethoden haben hier einen größeren Stellenwert. Eine entsprechende Gewebebiopsie ermöglicht die definitive Diagnose [57]. Das GBS ist in die differentialdiagnostischen Überlegungen bei Verdacht auf eine CIP bei beatmeten Intensivpatienten mit aufzunehmen – fälschlicherweise wurde in der Vergangenheit eine CIP als eine Verlaufsform des GBS angesehen [72].

Zentrale respiratorische Insuffizienz

Konkurrierend zu einer durch CIP bzw. CIM verursachten Hypoventilation ist bei respiratorisch instabiler werdenden Patienten auf High-Care-Stationen stets auch eine zentrale respiratorische Dysfunktion in Betracht zu ziehen. Der unwillkürliche Atemantrieb und Atemablauf des Menschen wird durch Neuronengruppen in der Medulla oblongata gesteuert [53]. Neben primären akuten Schädigungen des Hirnstamms unterschiedlichster Genese (vaskulär, entzündlich, traumatisch, metabolisch, infektiös oder paraneoplastisch) und primär chronischen Hirnstammaffektionen (tumorös, degenerativ), rücken sekundäre Ursachen einer Hirnstammfunktionsstörung in den Fokus der Patientenversorgung kritisch kranker Patienten ohne primäre Hirnschädigung [47][51]. Das SARS-CoV-2 steht aufgrund eines möglichen Neurotropismus ebenfalls im Verdacht, die kardiorespiratorischen Zentren in der Medulla oblongata schädigen zu können [35]. Unabhängig vom Schädigungsmechanismus kann es je nach Läsionsort im zentralen Nervensystem zu einer Schädigung des zentralen Atemzentrums kommen. Je kaudaler der Schädigungsort im Hirnstamm lokalisiert ist, desto eher ist der zentrale Atemantrieb vermindert [10]. Neben der schweren Grunderkrankung selbst, sind es oft die Begleitumstände eines Aufenthaltes auf der Intensivstation unter langanhaltender Medikation mit Sedativa und Analgetika, die zur Erlöschung der Hirnstammreflexe führen [47][51][52]. Elektrophysiologische Untersuchungen der Atemmuskulatur können zur differenzialdiagnostischen Einordnung zwischen peripherer oder zentraler Ursache einer respiratorischen Dysfunktion hilfreich sein [50].

Intensivpflichtige Patienten zeigen häufig vegetative Störungen mit verminderter Herzfrequenz- und Blutdruckvariabilität, bei gleichzeitig verringertem Sympathikotonus und Baroreflex [6][46].Eine eingeschränkte Variabilität des Atemzugsvolumens korreliert mit einem erschwerten Weaning bei mechanisch beatmeten Intensivpatienten [67].Neurophysiologische Untersuchungen mittels „Brainstem auditory evoked potentials“ (BAEP) oder EEG unterstützen die Hypothese einer Hirnstammfunktionsstörung, beispielsweise bei septischen Patienten [2][8][9].

Ein für die genannten neurologischen Komplikationen in der intensivmedizinischen Behandlung postulierter neuroinflammatorischer Schädigungsmechanismus, kann über zwei unterschiedliche Wege autonome Zentren im Hirnstamm schädigen: Der humorale Weg über die Diffusion von zirkulierenden Entzündungsmediatoren in die Area postrema und der neuronale Weg über den Nervus vagus, welcher inflammatorische Signale aus der Körperperipherie weiterleitet, können über neuronale Apoptose die vegetativen Funktionen stören [12][37][49].

Delir

Häufig werden Patienten in intensivmedizinischer Behandlung durch eine delirante Symptomatik auffällig. Das Delir wird charakterisiert durch eine akut auftretende fluktuierende Bewusstseinsstörung, eine verminderte Aufmerksamkeit und verminderte kognitive Fähigkeiten sowie eine motorische Hypo- oder Hyperaktivität [22][24]. Gemeinhin akzeptiert wird auch hier eine neuroinflammatorische Hypothese. Wie bereits für die Hirnstammfunktionsstörung beschrieben, werden bei schwer ­erkrankten Patienten systemische Zytokine und proinflammtorische Mediatoren hämatogen ausgeschwemmt und erreichen das zentrale Nervensystem über Nervus vagus, Plexus choroideus und die zirkumventrikulären Organe [19]. Über endotheliale Aktivierung, erhöhte mikrovaskuläre Permeabilität und ein prokoagulatorisches Milieu kommt es zu einem Zusammenbrechen der Blut-Hirn-Schranke und zu mikrozirkulatorischen Störungen [1][3][4]. Betroffene Patienten können einen symptomatischen epileptischen Anfall erleiden [61]. Schäden des aufsteigenden retikulären Aktivierungssystems (ARAS), begünstigen im Falle einer ­Hirnstammdysfunktion über eine Störung des Schlaf-Wach-Zyklus das Auftreten eines Delirs [10]. Das intensivmedizinische Behandlungssetting mit Maßnahmen wie Beatmung, Monitoring, Sedierung und Immobilisierung fördert das Auftreten eines Delirs [63], welches auch kognitive Langzeitschäden ehemaliger Intensivpatienten begünstigt [24].

Fazit

COVID-19 kann mit einer entzündlichen Beteiligung von Gefäßen, Muskeln und Nerven des ZNS und PNS einhergehen. Dies scheint spezifisch durch direkte virale Infektion, para-infektiöse/immunologische Komplikationen oder unspezifisch durch die intensivpflichtige, schwere Erkrankung als solche bedingt zu sein.

Neurologische Komplikationen, insbesondere Enzephalitis und Schlaganfälle, im Rahmen einer SARS-CoV-2-Infektion bzw. eines intensivmedizinischen Aufenthalts können eine lebenslange körperliche Behinderung und neuropsychiatrische Langzeitfolgen nach sich ziehen.

Bedeutsam erscheint die frühzeitige fachspezifische Mitbeurteilung und Mitbehandlung, um neurologische Komplikationen erkennen und geeignete therapeutische Maßnahmen ergreifen zu können. Für die Verbesserung der Langzeitprognose sollte sich bei Patienten mit überdauernden neurologischen Komplikationen nach der Akutphase eine neurologische Rehabilitation anschließen.

Es bedarf weiterer Beobachtungen und Untersuchungen, um das längerfristige Ausmaß neurologischer Manifestationen im Rahmen COVID-19-Pandemie abschätzen zu können.

Kernaussagen

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Erklärung zum Interessenkonflikt

Die Verfasser erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of ­Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten

Eingereicht: 30. Juli 2020

Angenommen: 12. August 2020

Zitierweise

Sigl A, Heinz P, Meister M, Harth A, Metrikat J: Neurologische Manifestationen bei SARS-CoV-2-Infektion und intensivpflichtigen COVID-19 Patienten. WMM 2020; 64(9): e29.

Für die Verfasser

Oberstarzt Dr. Jens Metrikat

Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik für Neurologie

Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm

E-Mail: jensmetrikat@bundeswehr.org

Manuscript data

Submitted: 30 July 2020

Accepted: 12 August 2020

Citation

Sigl A, Heinz P, Meister M, Harth A, Metrikat J: Neurological manifestations in SARS-CoV-2 infection and intensive care patients with ­COVID-19; WMM 2020; 64(9): e29.

For the authors

Colonel (MC) Dr. Jens Metrikat

Bundeswehr Hospital Ulm, Department for Neurology

Oberer Eselsberg 40, D-89081 Ulm

E-Mail: jensmetrikat@bundeswehr.org