Wehrmedizinische Monatsschrift

ORIGINALARBEIT

Walther Stechow und die Einführung

der Röntgendiagnostik in die deutsche Militärmedizin

Walther Stechow and the Introduction of X-Ray Imaging into German Military Medicine

André Müllerschön a

a Sanitätsversorgungszentrum Neubiberg

 

Zusammenfassung

Bereits unmittelbar nach Publikation der X-Strahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen im Jahre 1895 erkannte Stechow die Bedeutung dieses neuartigen Diagnoseverfahrens für das Militär. Mit Übernahme der Leitung des „Röntgenkabinetts“ im Berliner Garnisonslazarett I begann er, sich intensiv mit der radiologischen Untersuchung des „chronischen Fussödems“ auseinander zu setzen und konnte schließlich erstmals Stress- oder Ermüdungsbrüche (zeitgenössisch als „Marschfraktur“ bezeichnet) im Bereich der Metatarsalia bei jungen Soldaten nachweisen. In Publikationen und Vorträgen unterstrich er immer wieder die immensen Vorteile des Röntgenverfahrens und setzte sich für die flächendeckende Einrichtung von Röntgenkabinetten in der Preußischen Armee ein.

Walther Stechow gilt somit zweifelsohne als ein Pionier der deutschen Militärradiologie. Der vorliegende Beitrag stellt sein Leben sowie seine Beteiligung an der Einführung der Radiologie in die deutsche Militärmedizin vor.

Schlüsselwörter: Walther Stechow, Deutsch-Französischer Krieg, Militärradiologie, Marschfraktur, Röntgendiagnostik

Summary

Immediately after Wilhelm Conrad Roentgen´s publication on X-rays in 1895, Stechow percieved the importance of this novel diagnostic method for military purposes. After his appointment as head of the „Roentgenkabinett“ (X-ray cabinett) of Berlin’s Garrison Hospital I, Stechow started a series of studies on the radiological examination of „chronic foot oedema“. As a result from these studies he developed the ability to detect stress or fatigue fractures (known as „march fractures“ at the time) in the metatarsal area of young soldiers by X-ray examination for the first time in medical history.

In many publications and lectures he emphasized the tremendous advantages of the „X-ray method“ and advocated the nationwide establishment of X-ray cabinets in the Prussian Army.

Without doubt Walther Stechow has to be considered a pioneer of German military radiology. Based on the analysis of original documents (diary entries, letters, scientific notes) which have not been published until today this article presents his life and his involvement in the introduction of radiology to German military ­medicine.

Keywords: Walther Stechow, German-French War, military radiology, march fracture, radiology

Einleitung

Die Entdeckung der „X-Strahlen“ durch Wilhelm Conrad Röntgen im Jahre 1895, der dafür 1901 mit dem ersten Physiknobelpreis ausgezeichnet wurde, gilt zweifelsfrei als ein Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen medizinischen Diagnostik. Mit ihnen war es erstmals möglich, Organe, Strukturen und Knochen ohne chirurgische Maßnahmen mittels Aufnahmen gleichsam von „außen“ zu beurteilen. Das preußische Militär erkannte sehr bald die Möglichkeiten dieses neuartigen Verfahrens. Nur zwei Monate nach der Veröffentlichung Röntgens, die den Titel „Über eine neue Art von Strahlen“ trug führte die Medizinal-Abteilung des Königlich Preußischen Kriegsministeriums zusammen mit der physikalisch-technischen Reichsanstalt Versuche zur möglichen Nutzung der Strahlen für medizinisch-chirurgische Zwecke durch [24]. Diese waren erfolgreich und mündeten in der im Februar 1896 beginnenden Einrichtung zweier sogenannter „Röntgenkabinette“.

In den Folgejahren war der Siegeszug der militärischen Radiologie nicht mehr aufzuhalten. Im Jahre 1903 verfügte die Preußische Armee bereits über 60 Rönt­gen­kabinette [24]. Die Förderung dieser raschen Verbreitung ist eng mit dem Namen Walther Stechow verbunden, dessen aus Briefen, wissenschaftlichen Manuskripten, Tagebuchaufzeichnungen und Fotografien bestehender Nachlass ein Teil der Militärhistorischen Lehrsammlung in der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München ist.

Bereits 1994 hat Heinz Goerke einen augenscheinlich nicht quellenbasierten Zeitschriftenartikel zum Leben und Wirken von Walther Stechow publiziert [5]. Vor dem Hintergrund der unzähligen verfügbaren und noch zu analysierenden Quellen kann der vorliegende Beitrag lediglich als ein Desiderat verstanden werden, dem weitere Forschung folgen muss.

Jugend und Deutsch-Französischer Krieg

Walther Stechow wurde am 25. Januar 1852 als Sohn des evangelischen Pfarrers Reinhard Stechow und seiner Frau Pauline in Jarchlin (Hinterpommern), dem heutigen polnischen Jarchlino, geboren [26]. Nach Umzug der Familie in die preußische Hauptstadt Berlin besuchte er das traditionsreiche Friedrichswerder‘sche Gymnasium [1], an dem er im März 1870 sein Abitur erlangte [25]. Echte Freundschaften schloss Stechow während seiner Schulzeit nicht – er selbst konstatierte in seinen Erinnerungen an den Deutsch-Französischen Krieg, dass „Freundschaften, [sic] die Zeit fortnahmen und wenig Gewinn brachten“ [25][S.5].

Schon früh stand sein Berufswunsch fest: Er wollte Militärarzt werden. Auch wenn Walther Stechow zu diesem Zeitpunkt nichts von den „Freuden und Leiden des ärztlichen Berufes, [...] [und] den Besonderheiten der Militärmedizin“ erahnen konnte, stand für ihn seit „Ober-­Sekunda oder Unter-Prima, völlig unverrückbar fest, [...] nur Medizin studieren und nur Militärarzt werden“ zu wollen [25][S.9]. Entgegen anfänglicher Bedenken seines Vaters begann er im Sommersemester 1870 seine Ausbildung am „Medicinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Institut“ [25], wie die 1795 gegründete und zur damaligen Zeit als eine der bedeutendsten Militärärztlichen Bildungsanstalten in Deutschland geltende Berliner Pépinière seit 1818 hieß [7]. Am Institut gab es zwei Gruppen von angehenden Militärärzten: die auf dem Gelände wohnenden und auf doppelte Studienzeit verpflichteten „Pepins“ oder „Pfeifenhähne“ sowie die zahlenmäßig geringeren, bei den Eltern wohnenden „Akademiker“, deren Dienstverpflichtung auf die Zeit des Studiums begrenzt war. Im ersten Semester beschäftigten sich Stechow und seine Kommilitonen (zu denen unter anderem der spätere Berliner Anatomieprofessor und Sohn von Rudolf Virchow Hans Virchow gehörte) beispielsweise mit der „Osteologie“, der Botanik sowie der Philosophie (zu der sich Walther Stechow nie wirklich hingezogen fühlte, wie er selbst schrieb) und erhielten Fechtunterricht. Dieses friedliche und sorgenfreie Leben wurde durch den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges jäh unterbrochen [25].

An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs zu den Ursachen dieses Krieges gestattet. Nicht erst seit Gründung des Deutschen Bundes 1815 konkurrierten Österreich und Preußen um die Vormachtstellung in Europa. Eines der Ziele Otto von Bismarcks, der am 22. September 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt wurde [4], war eine Stärkung Preußens im Deutschen Bund, entweder gleichberechtigt mit Österreich oder als alleinige Hegemonialmacht [15]. Im Zuge des Friedensvertrages von Prag, der das Ende des Deutschen Krieges von 1866 markiert, wurde der Deutsche Bund aufgelöst, ein loser süddeutscher Staatenverbund sowie 1867 der Norddeutsche Bund unter Führung Preußens gegründet und schließlich Österreich aus seiner deutschen Einflusssphäre verdrängt [11]. Nach der Schwächung der Donaumonarchie entwickelte sich Frankreich stetig zum politischen Gegenspieler Preußens, ein Prozess, der sich mit der Thronfolgerfrage in Spanien immer mehr zuspitzte. Aus Sicht Frankreichs wäre die Besteigung des spanischen Thrones durch Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, einem von Preußen unterstützten Kandidaten, einer „Umzingelung“ gleichgekommen. Nach Rückzug des Hauses Hohenzollern von der Bewerbung verlangte die französische Regierung eine Garantie für einen dauerhaften Verzicht. Der preußische König Wilhelm I., zum damaligen Zeitpunkt auf Kur in Bad Ems weilend, unterrichtete Bismarck über die Vorgänge mit Hilfe eines Telegramms, der berühmten „Emser Depesche“. Nach Veröffentlichung einer gekürzten und damit verschärften Version derselben durch Otto von Bismarck, sah sich Frankreich in seinem Nationalstolz derart verletzt, dass es als Konsequenz nur noch die Kriegserklärung an Preußen am 19. Juli 1870 ansah [6].

Im Zuge der Mobilmachung hatte das Kriegsministerium für die jungen Studenten zunächst keine Verwendung, was diese – wie Stechow schrieb – „wurmte“ und wodurch sie sich „schnöde heimgeschickt“ vorkamen [25][S.14]. Schließlich erhielten die Angehörigen der ersten vier Semester eine militärische Ausbildung und sollten zunächst als Infanteristen dienen, während die Studenten des fünften und sechsten Semesters ihre Ausbildung an der Charité fortsetzten. Die ältesten Angehörigen des Institutes wurden als Unterärzte eingezogen. Nach der Grundausbildung der jüngsten Jahrgänge in einem Ersatzbataillon erfolgte Anfang September die Verlegung in Richtung Front, wo Stechow als Lazarettgehilfe in verschiedenen Kriegs- und Feldlazaretten des I., im Großraum Metz operierenden Armeekorps tätig war. Während dieser Zeit zählte unter anderem der spätere Generalstabsarzt der Armee Alwin von Coler, damals noch Divisionsarzt, zu seinen Vorgesetzten [25].

Die ersten Wochen im Felde empfand Stechow als langweilig und er störte sich an den mangelnden militärischen Fähigkeiten seines Chefarztes:

„Nur zu deutlich fühlte man die mangelnde militärische Erziehung der alten Militärärzte und die ganz wesentlichen Vorteile, ja Überlegenheit, welche wir unserer, wenn auch noch so kurzen aktiven Dienstzeit verdankten.“ [25][S.33]

Bedingt durch den Umstand, dass er keine Uniform trug, fühlte sich Walther Stechow eher als „Schlachtenbummler“ [25][S.30f.]. In den Folgemonaten folgte sein Feldlazarett dem vorrückenden Armeekorps über Sedan und Reims Richtung Amiens. Schließlich traf Stechow nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes am 16. März 1871 wieder in Berlin ein [25] und setzte sein unterbrochenes Medizinstudium fort.

Nachkriegsjahre

Am 8. August 1874 promovierte Stechow mit einer Arbeit „Ueber amyloide Degeneration mit Anschluss zweier Fälle dieser Erkrankung nach Lues“ an der Friedrich-­Wilhelms-Universität in Berlin [20], bevor er zwei Monate später seine Tätigkeit als Unterarzt an der Charité aufnahm. Nach einjähriger klinischer Tätigkeit trat ­Stechow seinen Dienst beim 7. Grenadier-Regiment ­König Wilhelm I. (2. Westpreußischen) in Liegnitz, dem heutigen polnischen Legnica, an [25], wo er am 23. Mai 1876 zum Assistenzarzt befördert wurde [5].

Im Frühjahr 1879 erfolgte seine Versetzung zum Regiment der Gardes du Corps, einem Kavallerieregiment, dessen Stab sich damals in Potsdam befand [25], wo er bis 1890 verblieb [5]. In diesen Zeitraum fallen die ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Untersuchungen von Walther Stechow. 1881 erschien in der „Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie“ sein Aufsatz über „Zwei Fälle von Papillom der weiblichen Urethra“ [21] während er zwei Jahre später ein Manuskript „Ueber die Rotzkrankheit und die sanitätspolizeilichen Vorschriften gegen die Verbreitung derselben im Heere“ verfasste [19]. Ob diese in seinem Nachlass vorhandene handschriftliche Arbeit veröffentlicht wurde, konnte bislang nicht in Erfahrung gebracht werden.

1890 wurde Stechow zur Medizinal-Abteilung des Königlich Preußischen Kriegsministeriums kommandiert [18] und gehörte gleichzeitig der „Medizinisch-chirurgischen Akademie für das Militär“ an [5]. Mit Übernahme der neuen Aufgaben erfolgte die Beförderung zum Stabsarzt. Im gleichen Jahr nahm Walther Stechow von April bis Juni 1890 an einer deutschen Gesandtschaft zum Sultan von Marokko und der Unterzeichnung des ersten deutsch-marokkanischen Handelsvertrages teil [18]. Dieser Teil von Stechow´s militärischer Karriere ist bisher noch nicht vollständig lückenlos darstell- und nachweisbar.

Abb. 1: Walther Stechow (1852-1927): Ölgemälde von Wilhelm Auberlen aus dem Jahre 1910; Original im Besitz der Wehrgeschichtlichen Lehrsammlung der Sanitätsakademie der Bundeswehr

Militärradiologie

Wilhelm Conrad Röntgen informierte die Weltöffentlichkeit mit einem auf den 28. Dezember 1895 datierten Bericht über die Entdeckung seiner X-Strahlen, für die er – wie bereits erwähnt – am 10. Dezember 1901 den ersten Physiknobelpreis erhielt. Nur zwei Wochen nach Veröffentlichung seines Berichtes präsentierte Röntgen die später nach ihm benannten Strahlen im Sternensaal des Berliner Schlosses Kaiser Wilhelm II. [2]. Der technikaffine Monarch war begeistert und ordnete Versuche über deren mögliche militärische Nutzung an. Daraufhin begann die Medizinal-Abteilung des Königlich Preußischen Kriegsministeriums zusammen mit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, verschiedene Experimente zur Anwendung der Röntgenstrahlen für medizinisch-chirurgische Zwecke durchzuführen [24]. Neben der Ermittlung der optimalen Entfernung zwischen Strahlenquelle und Platte erfolgte die Anfertigung von Röntgenaufnahmen sowohl von lebenden Objekten als auch anatomischen Präparaten, wie beispielsweise einer abgetrennten Hand, in die Geschosstrümmer eingebracht waren [12]. Für diese medizinischen Untersuchungen war ein Ärzteteam unter der Leitung Otto von Schjernings verantwortlich, dass nach Abschluss der Testreihen zu folgendem Urteil kam:

„Von pathologischen Veränderungen der Weichteile kann eine Ossification oder Verkalkung durch X-Strahlen zur Darstellung gelangen [...] Besonders werthvoll und unersetzlich ist das Mittel zum Nachweis kleiner Fremdkörper in Haut und Fuss. [...] Ganz brauchbar erachten wir ferner die Durchleuchtungsmethode mittels X-Strahlen bei gewissen Verhältnissen von Fracturen und Luxationen [...]“. [12]

Aus Sicht der Militärmediziner konnte das neue Verfahren vor allem bei Begutachtungen von Invaliden nützlich werden:

„In einem zukünftigen Kriege werden wir auf den rückwärts vom Kriegsschauplatz gelegenen Stätten unter den geheilten Verletzungen, wo es nothwendig erscheint, den Nachweis etwa eingeheilter Geschosse und Geschosstheile mittels der idealen Sonde der X-Strahlen führen und aus seiner dienstlichen Festlegung für spätere Jahre werthvolle Anhaltspunkte für die Beurtheilung der subjectiven Klagen eines Invaliden, für die objective Gradbemessung der Invalidität und endlich für das Vorgehen bei einem etwa noth­wendig werdenden chirurgischen Eingriff gewinnen.“ [16][S.213]

Ganz nebenbei sollen hier die damals notwendigen Bestrahlungszeiten erwähnt werden. Diese lagen bei Aufnahmen der Hände oder des Mittelfußes zwischen 10 und 15 Minuten (wobei bereits während der Versuche eine Reduzierung auf 3 Minuten gelang) und betrugen für die Darstellung von „mitteldicken“ Körperteilen bereits zwischen 23 und 45 Minuten. Für Röntgenaufnahmen „geschwollener Ellenbogen- oder Kniegelenke“ sowie Oberschenkel dauerte die Exposition etwa eine Stunde [16].

Die durchweg positiven Ergebnisse führten zur Gründung je eines „Röntgenkabinetts“ im Berliner Garnisonslazarett I, das sich auf dem Gelände des ehemaligen Invalidenparks in der Scharnhorststraße befand, und in der „Kaiser Wilhelms-Akademie für das Militärärztliche Bildungswesen“ in Berlin [2]. Während in der Akademie überwiegend Grundlagenforschung betrieben und Studierende sowie zukommandierte Sanitätsoffiziere mit Hilfe von Kursen in die Geräte eingewiesen wurden, diente die Röntgenanlage des Garnisonslazarettes [24], die Anfang Mai 1896 ihren Betrieb aufnahm [28], nahezu ausschließlich für Untersuchungen erkrankter oder verletzter Soldaten [24]. Somit gehörten die beiden militärischen Einrichtungen zusammen mit dem Anfang 1896 gegründeten Berliner „Medico-mechanischen Instituts für physikalische Therapie“, dem im September 1896 eröffneten Röntgenkabinett an der „Königlich Technischen Hochschule zu Berlin“ sowie dem „Laboratorium für medizinische Untersuchungen mittels Röntgenstrahlen“ zu den ersten ihrer Art in Deutschland [2]. Bereits hier wird der hohe Stellenwert des neuen diagnostischen Verfahrens für das Militär deutlich.

Walther Stechow begann sich sehr schnell für die Radiologie zu interessieren und wissenschaftlich mit ihr auseinanderzusetzen. Schon 1896 hielt er zwei Vorträge mit den Titeln „Demonstration von Röntgenphotographien“ sowie „Über Einwirkung von X-Strahlen auf die Haut“ [27] und fertigte verschiedene Röntgenaufnahmen an.

Im Jahre 1897 übernahm Stechow, mittlerweile Oberstabsarzt und Regimentsarzt des Garde-Füsilier-Regiments in Berlin, zusätzlich die Leitung des Röntgenkabinetts im Berliner Garnisonslazarett. Bis 1901 führten er und seine Mitarbeiter über 6000 Röntgenuntersuchungen durch. Zusätzlich forcierte Stechow die Beschaffung von eigenen Röntgengeräten für alle preußischen Armeekorps [2] und referierte sowohl vor deutschen Militärärzten als auch außerhalb Deutschlands, wie beispielsweise im August 1897 in Stockholm oder im gleichen Jahr auf einem Medizinerkongress in Moskau, über die technischen Grundlagen oder die Anwendungsmöglichkeiten der neuartigen diagnostischen Methode. In diese Zeit fällt auch seine sicherlich bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung: der radiologische Nachweis von Stress- oder Ermüdungsbrüchen im Bereich des Metatarsalia bei jungen Rekruten, damals noch als „Marschfraktur“ bezeichnet [14], deren Symptome bereits 1855 erstmals vom Koblenzer Chirurgen Breithaupt beschrieben worden waren [3].

Über viele Jahre gingen die Mediziner bei der als „Schwellfuss“, „Fussgeschwulst“ oder „Fussödem“ bezeichneten Erkrankung von einer ursächlichen Entzündung des inneren Bandapparates des Fußes aus, hervorgerufen durch unzweckmäßiges Schuhwerk, schlechten Untergrund oder Ermüdung der Muskulatur. Mit den neuen Röntgengeräten war es nun möglich, Soldaten mit „chronischem Fussödem“ radiologisch zu untersuchen [22]. Bei der Mehrheit dieser Patienten ließ sich eine auf „geringfügige Gewalteinwirkung“ zurückzuführende und unentdeckte Fraktur nachweisen [22][S.468], während wenige lediglich an „spindelförmige[n] Verdickungen [...] welche sich über das ganze Mittelfussstück erstrecken und die Form des Knochens nicht sehr verändern“ litten. Stechow vermutete eine auf den Knochen übergegriffene Weichteilentzündung als Ursache [22][S.469].

In den folgenden Monaten begutachtete er weitere unklare Fußödeme und trug seine Ergebnisse unter dem Titel „Brüche der Mittelfussknochen, eine häufige Ursache von Fussödem“ in der 8. Sektion für Militärhygiene des IX. Internationalen Kongresses für Hygiene und Demografie im April 1898 in Madrid vor [23].

Ein Jahr später übertrug man Walther Stechow die Aufgabe des Divisionsarztes der 39. Division im elsässischen Kolmar. Nahezu zeitgleich erfolgte die Beförderung zum Generaloberarzt, vergleichbar mit dem Dienstgrad Oberstleutnant. Allerdings kehrte er bereits kurze Zeit später als Divisionsarzt der 2. Gardedivision nach Berlin zurück. Unermüdlich stellte er während dieses Zeitraumes in Vorträgen und Publikationen die Bedeutung der Radiologie für die Diagnostik von unentdeckten Frakturen heraus.

Nachdem die medizinische Bedeutung der Röntgenstrahlen zweifelsfrei feststand, ging es darum, die Technik bestmöglich für das Militär zu nutzen. Dazu gründete sich 1901 eine Kommission zur Prüfung der Feldtauglichkeit von zivil entwickelten Röntgenapparaten und zur Erarbeitung von Konstruktionsgrundsätzen für Feld­röntgen­geräte. Neben Walther Stechow gehörte unter anderem der spätere Chefarzt des Berliner Hauptsanitätsdepots, Bernhard von Tobold, diesem Gremium an. Berichte zu Ergebnissen oder Vorschlägen der Kommission konnten bisher nicht gefunden werden.

Im April 1903 ging Stechow als Korpsarzt des X. Armeekorps nach Hannover. Zwischenzeitlich zum Generalarzt ernannt, veröffentlichte er im gleichen Jahr sein umfangreichstes Werk „Das Röntgen-Verfahren mit besonderer Berücksichtigung der militärischen Verhältnisse“ [24].

Abb. 2: Deckblatt des von Walther Stechow im Jahre 1903 veröffentlichten Werkes „Das Röntgen-Verfahren mit besonderer Berücksichtigung der militärischen Verhältnisse“ [24]

Neben seiner Tätigkeit in Hannover nahm Walther ­Stechow regelmäßig als „ordentliches (etatmäßiges) Mitglied“ an Sitzungen des Wissenschaftlichen Senats der Kaiser Wilhelms-Akademie teil [13]. Der Wissenschaftliche Senat galt als Beratungsgremium des Generalstabsarztes der Armee für alle medizinwissenschaftlichen Fragen. Unter seinem Vorsitz tagten 16 ordentliche Mitglieder, von denen acht Ärzte dem „Zivilstand“ angehörten (wobei es sich dabei überwiegend um Universitätsprofessoren handelte) und sich die verbleibenden acht aus dem Kreis der aktiven Sanitätsoffiziere rekrutierten. Einer der Sanitätsoffiziere fungierte dabei als stellvertretender Vorsitzender. Zusätzlich konnten für spezifische Fragestellungen „außeretatsmäßige Mitglieder“ ernannt werden [17]. Wie lange Stechow Senatsmitglied war, ist nicht ganz eindeutig nachvollziehbar. In seiner Personalakte findet sich ein Eintrag vom Juli 1910, der darauf hindeutet, dass er zu diesem Zeitpunkt noch an Tagungen des Senats teilnahm [13].

Trotz mannigfaltiger militärischer Aufgaben (nach seiner Zeit beim X. Armeekorps übernahm Stechow 1906 die Funktion des Korpsarztes beim Berliner Gardekorps, bevor er im November 1908 zum Inspekteur der 4. Sanitäts-Inspektion im elsässischen Straßburg ernannt wurde [13]) gelang es ihm regelmäßig, röntgenologische Publikationen zu veröffentlichen. Dazu gehörten beispielsweise der Beitrag „Ueber Röntgenaufnahmen der Brustorgane besonders des Herzens“ als Teil des 1906 herausgegeben 1. Bandes der „Gedenkschrift für Dr. Rudolph v. Leuthold“ – dem ehemaligen Generalstabsarzt der preußischen Armee und Chef des Sanitätskorps sowie der Medizinalabteilung im preußischen Kriegs­ministerium und Direktor der Kaiser Wilhelms-Akademie – und die „Kurze Anleitung für die photographischen Arbeiten im Röntgenkabinett“ aus dem Jahre 1910.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges versetzte man ­Walther Stechow, als Divisionsarzt der 2. Gardedivision bereits 1911 zum Obergeneralarzt (vergleichbar mit dem Dienstgrad Generalmajor) befördert, als Armeearzt nach Belgien, wo er – auch hier sind die verfügbaren Unterlagen nicht ganz eindeutig – offensichtlich bis zum Ende der Kampfhandlungen blieb. Anschließend übernahm Stechow vor Auflösung der Kaiser Wilhelms-Akademie im Jahre 1920 als Direktor deren Leitung [8].

Lebensabend und Tod

Nach seiner Pensionierung zog sich der mit unzähligen nationalen und internationalen Auszeichnungen geehrte Militärarzt nahezu völlig aus dem öffentlichen Leben zurück.

Im September 1927 erlitt er einen Schlaganfall, von dem sich Walther Stechow nicht mehr erholte und an dessen Folgen er am 17. Dezember 1927 mit 75 Jahren in einem Frankfurter Krankenhaus verstarb [26].

Die Anteilnahme an seinem Tod aus dem In- und Ausland war sehr groß. Auch findet sich in den Akten ein Schreiben an den „Diensttuenden Herrn Flügeladjutanten Seiner Majestät des Königs“ im holländischen Dorn, in dem die Bitte zum Ausdruck gebracht wird, Wilhelm II. vom Tode Walther Stechows zu informieren. Ob dieses Vorgehen bei allen ehemaligen Generalen oder Generalärzten üblich war oder es sich hier im Hinblick auf das entgegengebrachte „gnädige Wohlwollen“ um einen Einzelfall aufgrund persönlicher Beziehungen handelte, muss noch geklärt werden.

Schlussbemerkungen

Bei der Darstellung des Lebens von Walther Stechow und seiner Bedeutung für die Entwicklung der Militär­radiologie in Deutschland sind einige zeitliche Abläufe aus den bisher aufgearbeiteten Akten nicht ganz eindeutig nachvollziehbar. Weitere interessante Aspekte, wie beispielsweise der Kauf und Umbau seines Anwesens „Hohenhaus“ im Radebeuler Stadtteil Zitzschewig, dem der Dichter Gerhart Hauptmann in seinen Werken „Die Jungfern vom Bischofsberg“ [9] und „Die Hochzeit auf Buchenhorst“ [10] ein literarisches Denkmal gesetzt hat, sowie seine vielen Reisen, über die er nahezu vollständig Tagebuch geführt hat, aber auch seine familiären Verhältnisse (einer seiner Söhne war zum Beispiel der Zoologe Eberhard Stechow) können an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden.

Neue Erkenntnisse zu seiner Person, vor allem seine Gedanken als hautnaher „Kriegsbeobachter“, aber auch über die möglichen Therapien der verletzten oder erkrankten Soldaten könnten die Auswertung der vorhanden handschriftlichen Briefe aus der Zeit des Deutsch-Französischen Krieges bringen. Zusätzlich müssen die unzähligen fotografischen Platten analysiert und gegebenenfalls digitalisiert werden.

Diese Ergebnisse bleiben abzuwarten und bieten Raum für weitere (wehr)medizingeschichtliche Forschung.

Literatur

  1. [Anonym] Ober-Generalarzt Dr. Stechow †. Ärztliche Monatsschrift 1928; 215-216.
  2. Bienek KHP: Medizinische Röntgentechnik in Deutschland. Historische Entwicklung und moderne Tendenzen. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1994.
  3. Breithaupt: Zur Pathologie des menschlichen Fußses. Medicinische Zeitung 1855; 24, 169-171; 175-177.
  4. Epkenhans M: Deutscher Dualismus und Deutsche Frage im 18. und 19. Jahrhundert. In: Loch T, Zacharias L (Hrsg.): Wie die Siegessäule nach Berlin kam. Eine kleine Geschichte der Reichseinigungskriege 1864 bis 1871. Freiburg i.Br. - Berlin - Wien: Rombach 2011; 17-31.
  5. Goerke H: Obergeneralarzt Dr. Walter Stechow (1852-1927) Militärarzt und Röntgenologe. Wehrmedizin und Wehrpharmazie 1994; 18, 54-56.
  6. Gügel D: Wie Kriege entstehen: Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. In: Loch T, Zacharias L (Hrsg.): Wie die Siegessäule nach Berlin kam. Eine kleine Geschichte der Reichseinigungskriege 1864 bis 1871. Freiburg i.Br. - Berlin - Wien: Rombach 2011; 142-144.
  7. Grunwald E: Studien zum militärärztlichen Ausbildungswesen in Deutschland 1919–1945. München: Demeter 1980 (= Schriftenreihe der Münchener Vereinigung für Geschichte der Medizin e. V., 6).
  8. Grunwald E: Vom preußischen „Collegium medico-chirurgicum“ zur „Akademie des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr“ – ein Streifzug durch die Geschichte militärärztlicher Ausbildungsstätten. Wehrmedizin und Wehrpharmazie 1990; 14, 19-24
  9. Hauptmann G: Die Jungfern vom Bischofsberg. Lustspiel. Berlin: S. Fischer 1907.
  10. Hauptmann G: Die Hochzeit auf Buchenhorst. Novelle. Berlin: S. Fischer 1932.
  11. Keßelring A, Loch T: Wie Kriege enden: Die Friedensschlüsse von Wien, Prag und Frankfurt. In: Loch T, Zacharias L (Hrsg.): Wie die Siegessäule nach Berlin kam. Eine kleine Geschichte der Reichseinigungskriege 1864 bis 1871. Freiburg i.Br. - Berlin - Wien: Rombach 2011; 154-161.
  12. Medicinal-Abtheilung des Königlich Preussischen Kriegsministeriums (Hrsg.): Versuche zur Feststellung der Verwerthbarkeit Röntgen`scher Strahlen für medicinisch-chirurgische Zwecke angestellt im Verein mit der Physikalisch-technischen Reichsanstalt und mitgetheilt von der Medicinal-Abtheilung des Königlich Preussischen Kriegsministeriums. Berlin: August Hirschwald 1896 (= Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militär-Sanitätswesens, 10).
  13. Militärische Personalakte Walther Stechow.
  14. Neidel JJ, Rütt J: Diagnostische Probleme bei Ermüdungsbrüchen. In: Werner E., Matthiaß HH (Hrsg.): Osteologie – interdisziplinär. Untersuchungsmethoden, Rheumatologie, Sportmedizin. Berlin u. a.: Springer 1991, 404-411.
  15. Ohnezeit M: Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71: Vorgeschichte, Ursachen und Kriegsausbruch. In: Ganschow J, Haselhorst O, Ohnezeit M (Hrsg.): Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen. Graz: Ares 2009; 17-82.
  16. Schjerning [O], Kranzfelder: Ueber die von der Medicinalabtheilung des Kriegsministeriums angestellten Versuche zur Feststellung der Verwerthbarkeit Röntgen`scher Strahlen für medicinisch-chirurgische Zwecke. Deutsche Medicinische Wochenschrift 1896; 22, 211-213.
  17. Schmidt H: Die Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen von 1895 bis 1910. Berlin: E. S. Mittler & Sohn 1910 [Nachdruck Hildesheim - Zürich - New York: Georg Olms 1995].
  18. Stechow W: Tagebuch meiner Reise nach Marokko April/Juni 1890 [unveröffentlichtes Manuskript]
  19. Stechow W: Ueber die Rotzkrankheit und die sanitätspolizeilichen Vorschriften gegen die Verbreitung derselben im Heere [handschriftliches Manuskript].
  20. Stechow W: Ueber amyloide Degeneration mit Anschluss zweier Fälle dieser Erkrankung nach Lues [med. Diss.]. Berlin: 1874.
  21. Stechow W: Zwei Fälle von Papillom der weiblichen Urethra. Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie 1881; 4, 1-8 [Sonderdruck].
  22. Stechow [W]: Fussödem und Röntgenstrahlen. Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 1897; 26, 465-471.
  23. Stechow [W]: Brüche der Mittelfussknochen, eine häufige Ursache von Fussödem. Vortrag mit Demonstration von Röntgenphotographien gehalten in der “ in der 8. Section für Militär-Hygiene des IX. internationalen Congresses für Hygiene und Demografie zu Madrid den 10.-17. April 1898. Berlin: Haack 1898.
  24. Stechow [W]: Das Röntgen-Verfahren mit besonderer Berücksichtigung der militärischen Verhältnisse. Berlin: August Hirschwald 1903 (= Bibliothek v. Coler. Sammlung von Werken aus dem Bereiche der medizinischen Wissenschaften mit besonderer Berücksichtigung der militärmedizinischen Gebiete, 18).
  25. Stechow W: Meine Kriegserinnerungen 1870/71. Niedergeschrieben Berlin 1925 [unveröffentlichtes Manuskript]. [Berlin: 1925].
  26. Sterbefalls-Anzeige Obergeneralarzt a. D. Dr. med. Walter [sic] Stechow, Excellenz. Frankfurt a.M.: 1927.
  27. Vollmuth R: 150 Jahre Deutsche Militärärztliche Gesellschaften und ihre Bedeutung für die wehrmedizinische Wissenschaft. Wehrmedizinische Monatsschrift 2014; 58, 346-349. mehr lesen
  28. Wenske SJ: Die Herausbildung urologischer Kliniken in Berlin – Ein Beitrag zur Medizingeschichte. Med. Diss. Berlin 2008.

Manuskriptdaten

Eingereicht: 14. Oktober 2019

Angenommen: 14. Januar 2020

Zitierweise

Müllerschön A: Walther Stechow und die Einführung der Röntgendiagnostik in die deutsche Militärmedizin. WMM 2020; 64(10-11): 376-381.

Verfasser

Oberfeldarzt Dr. André Müllerschön

Sanitätsversorgungszentrum Neubiberg

Werner-Heisenberg-Weg 39, 85579 Neubiberg

E-Mail: andremuellerschoen@bundeswehr.org

Manuscript Data

Submitted: 14 October 2019

Accepted: 14 January 2020

Citation

Muellerschoen A: Walther Stechow and the Introduction of X-Ray Imaging into German Military Medicine. WMM 2020; 64(10-11): 376-381.

Author

Lieutenant Colonel (MC) Dr. André Muellerschoen

Bundeswehr Medical Clinic Neubiberg

Werner-Heisenberg-Weg 39, D-85579 Neubiberg

E-Mail: andremuellerschoen@bundeswehr.org