Wehrmedizinische Monatsschrift

Gedanken zum Jahresende

Kleine Skizze einer ärztlichen Führungsethik 1

Tobias Trappe a

a Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Duisburg

 

Schutz vor den Verführungen der Macht

Ethik ist ein vielfach gebrauchtes, vielfach aber auch missbrauchtes Wort. Es ist leicht daher gesagt, aber nicht leicht zu verstehen und viel schwerer noch mit eigenem Leben zu füllen. Was also will die Führungsethik? Einem wirklich guten Freund vergleichbar will sie den Menschen und also auch die ärztliche Führungskraft vor dem Missbrauch anvertrauter Macht schützen.

Der Beruf des Arztes ist tief eingegraben in die Not wie die Würde des Menschen. Vor diesem Hintergrund und angesichts der dem Arzt in die Hände gelegten Verantwortung hat sich in den letzten Jahrzehnten – ausgehend von den Arbeiten von BEAUCHAMP und CHILDRESS 2 (Georgetown University, USA) – u. a. eine Form der medizinischen Ethik entwickelt, die mit ihren vier Prinzipien vielleicht auch für die Ethik des Führens hilfreich sein kann. Im Folgenden soll daher in sehr gedrängter Form versucht werden, ein paar Aspekte einer solchen ärztlichen Führungsethik aufzuzeigen.

1. Führung darf nicht krank machen

Das erste Prinzip der medizinischen Ethik ist gleichzeitig auch ein zentrales Prinzip der Ethik überhaupt. Es ist das Prinzip der Nicht-Schädigung. Es verbietet, anderen Schaden an Leib, Leben oder Eigentum zuzufügen oder sie in diesen Hinsichten hohen Risiken auszusetzen. Dieses Prinzip entspricht dem hippokratischen Grundsatz „primum non nocere“.

Was heißt dieser Grundsatz für das ärztliche Führen von Menschen?

Es heißt zum Beispiel: Gut führen kann nur, wer sich überhaupt seiner Macht bewusst ist und das heißt eben auch: seiner Verletzungsmacht. Wer führt, greift in die Selbstbestimmung anderer Menschen ein. Das Nichtschädigungsprinzip schließt aber nicht nur jede physische Beeinträchtigung der eigenen Mitarbeiter aus, sondern auch jede psychische oder soziale Verletzung, also z. B. jede Form der Demütigung oder Ausgrenzung, aber auch Eingriffe in das Privatleben von Mitarbeitern oder die Verletzung ihrer Selbstachtung. Unvereinbar mit dem Prinzip der Nichtschädigung sind ferner alle Formen von bewusster und unbewusster lnstrumentalisierung, angefangen von der Ausbeutung der Arbeitskraft bis hin zu sexuellen Grenzverletzungen. Zu diesem sog. destruktiven Führen zählen auch subtilere Formen feindlichen Verhaltens, so etwa, wenn die Führungskraft die Leistungen und Erfolge der Mitarbeitenden als ihre jeweils ­eigenen beansprucht oder wenn sie den Mitarbeitenden notwendige Informationen vorenthält. Dem Nichtschädigungsprinzip zuzuordnen ist ebenso die Verpflichtung, die Mitarbeiter nicht fachlich zu überfordern, ihnen also keine Aufgaben zu geben, denen sie nicht gewachsen sind. Solche destruktive Führung macht krank. Oft nicht nur die eigenen Mitarbeitenden, sondern auch deren ­Familien.

2. Führung im Dienst der Gesundheit

Das zweite Prinzip der Medizinethik ist das der Fürsorge, der benevolentia. Es verpflichtet zum aktiven Handeln – und das in dreifacher Hinsicht: Es gebietet erstens die Verhinderung von Schäden, also die Prävention, zweitens die Linderung und Minderung bereits eingetretener Schädigungen sowie drittens die Verbesserung der Situation anderer. Auch dieses Prinzip ist dem Arzt unter der Formel „Salus aegroti suprema lex“ wohlvertraut.

Für das ärztliche Führen hat dieses Prinzip erhebliche Konsequenzen. Es verpflichtet zunächst einmal zu einem grundsätzlichen Wohlwollen den Menschen gegenüber. Wohlwollen heißt nicht „Mögen“ oder „Sympathie empfinden“. Wohlwollen ist ein Wertbewusstsein. Wohlwollen erschließt mir den anderen Menschen überhaupt erst als etwas „Gutes“, als etwas „Wertvolles“ und darum auch Schützenswertes, als jemanden, der nicht einfach „egal“, der keine „Null“, kein „Nichts“ ist. Das Fürsorgeprinzip geht jedoch noch einen Schritt weiter und verpflichtet die Führungskraft zur Förderung des Wohlergehens ihrer Mitarbeiter. Spezifisch medizinisch meint Wohlergehen natürlich zunächst: Gesundheit. Als Arzt ethisch zu führen heißt also ganz sicher: gesundheitsfürsorgend, heißt gesundheitsförderlich zu führen. Das schließt auch die je eigene Gesundheit der Führungskraft ein. Es schließt aber auch die Verpflichtung ein, gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen sicher zu stellen (einschließlich der notwendigen Ruhe- und Erholungszeiten) oder für Aufgabenklarheit zu sorgen. Und es schließt eine beziehungsorientierte Führung ein, eine Führung, die Mitarbeiter unterstützt, ihre Fähigkeiten entwickelt, ihre Leistungen anerkennt und ihnen Verantwortung überträgt.

3. Führung in Achtung vor der Selbstbestimmung der Mitarbeitenden

Der dritte medizinethische Grundsatz ist nun spezifisch moderner Natur. Er ist dem Nichtschädigungs- bzw. dem Fürsorgeprinzip zwar nicht übergeordnet, wohl aber vorgeordnet. Es handelt sich um das Prinzip der Achtung von Selbstbestimmung. Dieses Prinzip, das die Autonomie des Menschen in den Mittelpunkt stellt, drückt sich mit Blick auf das ärztliche Handeln bekanntlich vor allem im Konzept des informed consent aus. Für die ärztliche Führung liegt in diesem Prinzip ein grundlegender Wandel hin zum „postheroischen“ Führen.

Führung ist – auch im Kontext der Bundeswehr! – immer und unweigerlich shared leadership. Das heißt konkret: Führungsentscheidungen sind ethisch gut, wenn sie sich in einem offenen und fairen Dialog rechtfertigen lassen und gerechtfertigt werden. In einem solchen Dialog wird Verantwortung nicht nur als Verantwortung „für“, sondern auch „vor“ den Mitarbeitenden praktiziert.

Vor allem aber bedeutet das Autonomieprinzip: Führung ist nie nur eine Aufgabe der Führungskraft, sondern eben immer auch eine Aufgabe der Geführten! Zur Führungsethik gehört daher eine Ethik der Geführten! Auch die Mitarbeitenden müssen für eine gute Führung in die Pflicht genommen werden:

4. Anderen gegenüber gerecht führen

Das vierte und letzte Prinzip der Medizinethik ist das der Gerechtigkeit, also zum Beispiel einer fairen Verteilung knapper Güter. In der klassischen Lehre von der Gerechtigkeit bildet die iustitia distributiva nicht zufällig die eigentliche Mitte. Denn sie gilt in besonderer Weise als Aufgabe derjenigen, die in einem sozialen Ganzen über die Macht verfügen, anderen das zu geben, was ihnen jeweils zusteht; sie gilt mithin in besonderer Weise als Verantwortung von Führungskräften.

Dieses Prinzip heißt zunächst, dass Gerechtigkeit ein zentrales Fundament von Führung darstellt: Ohne Gerechtigkeit ist Macht von Willkür nicht zu unterscheiden. Daher entfacht kaum etwas so stark unsere Empörung wie wahrgenommene Ungerechtigkeiten – und führt zu zahlreichen Formen einer „Revanche“ der Mitarbeitenden. Es ist daher schon eine Sache der Klugheit, auf das Gerechtigkeitserleben der Mitarbeitenden überhaupt aufmerksam zu sein. Da es sich dabei jeweils um einen subjektiven Bewertungsprozess handelt, heißt das: Gerechte Führung sollte regelmäßig mögliche Gefühle von Benachteiligung offensiv erfragen.

Ganz zentral für das Gerechtigkeitserleben von Menschen ist dabei die Prozesskontrolle, die Möglichkeit, bei Entscheidungen wenigstens gefragt zu werden. Ob Menschen ihre Meinung äußern können oder nicht, ob sie über Möglichkeiten der Mitsprache verfügen oder nicht, ob sie Gehör finden oder nicht, all das signalisiert ihnen, welche Stellung, welchen Status sie innerhalb der Gruppe haben. Nicht zur Sprachlosigkeit verurteilt zu sein, sondern eine Stimme zu haben, das ist damit immer auch eine Frage der eigenen Selbstachtung.

Gerechtigkeitskonflikte sind nie nur Verteilungskämpfe, sondern stets auch Kämpfe um die eigene Identität. Ebenso wichtig ist der direkte Umgang mit den Mitarbeitenden, etwa die Transparenz ihnen gegenüber. Wenn sich Mitarbeitende z. B. darauf verlassen können, dass gerade auch unpopuläre und negative Entscheidungen frühzeitig und ehrlich kommuniziert oder zumindest im Nachhinein erläutert und nachvollziehbar begründet werden, dann ist dies ein ganz zentraler Bestandteil von Gerechtigkeit („informationale Gerechtigkeit“). Etwas verstehen zu können, heißt wissen, woran man ist; heißt: sich orientieren, heißt: sich zurechtfinden können. Letzten Endes und vor allem aber meint Gerechtigkeit im Führen die unbedingte, durch nichts relativierbare Achtung jedes Menschen in seiner Würde.

Menschenwürde als Grund guter Führung

Menschenwürde ist allerdings vielfach nur noch eine leere und antlitzlose Floskel. Was heißt sie? Was heißt sie für das Führen?

Sicher drückt sich die Achtung vor der Würde, vor dem absoluten Wert wirklich jedes Menschen in auch ganz alltäglichen Haltungen aus wie Höflichkeit (die kleine „Beachtung“ des Menschen) oder die unverstellte Ehrlichkeit, die den anderen nicht manipuliert. Aber gerade der Arzt und erst recht der Arzt im Sanitätsdienst der Bundeswehr weiß, dass dieses Verständnis von Würde letztlich fehlt geht. Denn im Angesicht des möglichen und vor allem des wirklichen Krieges steht er der dunklen Wurzel der Menschenwürdeidee wie kaum ein anderer Beruf nahe. Gerade dort, wo dem Arzt der Soldat gegenübersteht als das vom Krieg traumatisierte, vom Krieg gezeichnete, vom Krieg entstellte Wesen, da weiß er in subjektiver Evidenz und affektiver Intensität, was das Wort von der Würde sagt. Denn dieses Wort spricht von jener absoluten Grenze, die wir nicht überschreiten können, ohne dass der Mensch sich selbst verliert, und zwar verliert als Subjekt: Als eines zur Verantwortung für sich und andere fähigen Wesens.

Die Verpflichtung zur Achtung der menschlichen Würde ist etwas gänzlich anderes als die Verpflichtung zur Nicht-Schädigung, zur Gesundheitsförderung, zum Respekt vor der Selbstbestimmung oder zur Gerechtigkeit. Das Wort von der Würde weist stattdessen auf den Grund, warum die Führungskraft nicht nur erfolgreich, sondern gut führen soll. Menschenwürde ist das nicht mehr selbst beweisbare Axiom, gewissermaßen: der abgründige, der grundlose Grund guter Führung. Wer keinen „Sinn“ hat für die Würde, für den absoluten Wert jedes Menschen, für das, was in uns „heilig“ ist, der wird letzten Endes im anderen doch nur ein beliebiges, ein austauschbares, ein funktionstüchtiges oder eben funktionsuntüchtiges Mittel zum Zweck sehen können. Und er wird nicht verstehen, warum gutes Führen Gestalt und Ausdruck jener Haltung ist, die von je her die zentrale Tugend des Arztes ist: die Liebe zum Menschen.

Verfasser

Professor Dr. Tobias Trappe

Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW

Fachbereich Polizei

Albert-Hahn-Str. 45, 47269 Duisburg

E-Mail: tobias.trappe@hspv.nrw.de

 


1 Der Beitrag gibt in Kurzform die Kernaussagen eines Vortrags wider, den der Verfasser im Rahmen der Offizierweiterbildung für das Sanitätsversorgungszentrum Köln-Wahn im Februar 2020 gehalten hat. Eine ausgearbeitete Version des Vortrags erscheint unter dem Titel „Zur (ärztlichen) Führungsethik im Rahmen der Bundeswehr“ in: T. Trappe (Hrsg.): Verwaltung – Ethik – Menschenrechte. Wiesbaden: Springer [imErscheinen].

2 Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics. 6th Edition. Oxford University Press, 2008