Wehrmedizinische Monatsschrift

AUS DER GESCHICHTE LERNEN

„Spanische Grippe“, Corona und die Kunst der Verdrängung:
Historische Betrachtungen und ethische Anmerkungen

Ralf Vollmuth a, André Müllerschön b

a Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam

b Sanitätsversorgungszentrum Neubiberg

 

In der veröffentlichten Meinung und der öffentlichen Wahrnehmung zur gegenwärtigen Corona-Krise ist immer wieder von der „Einzigartigkeit“ dieser Pandemie die Rede, von „Beispiellosigkeit“ und von „noch nie da gewesenen Herausforderungen“. In unserer multimedialen Welt überschlugen sich gerade in der Hochphase der Neuinfektionen die Superlative, entstand ein wahrer Überbietungswettkampf reißerischer Schlagzeilen.

Der Blick in die Geschichte der Medizin zeigt indessen, dass auch Pandemien dieses Ausmaßes leider keine Einzelfälle sind, sondern in den letzten Jahrzehnten trotz aller medizinischen Fortschritte mehr verdrängt als wirklich bewältigt wurden. Im Kontext der Corona-Pandemie besonders interessant ist der Blick auf die Spanische Grippe der Jahre 1918 bis 1920, teilweise auch etwas darüber hinaus.

Im vorliegenden Beitrag sollen deshalb die Entstehung, die Ausbreitung und der Verlauf dieser Seuche wie auch die daraus resultierenden Folgen beleuchtet, alsdann einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Spanischen Grippe und der Corona-Pandemie herausgearbeitet und drittens einige ethische – nicht nur medizinethische – Aspekte angerissen werden.

Die Spanische Grippe

Ursprung und Ausbreitung der Spanischen Grippe

Bis heute ist der Ausgangspunkt dieser verheerenden Influenzaform nicht definitiv bekannt, allerdings sind sich Historiker wie Virologen einig, dass das Ursprungsgebiet auf den Mittleren Westen der USA zu verorten ist. Vermutlich sprang das Virus im Frühjahr 1918 von Hausschweinen oder domestiziertem Zuchtgeflügel auf den Menschen über. Nachdem drei offensichtlich infizierte Einwohner des Haskell County im Februar des gleichen Jahres in das Armeeausbildungslager Camp Funston (Kansas) eingezogen wurden, kam es bereits Anfang März zu ersten Massenerkrankungen mit ungewöhnlichen Todesfällen.

Nach der Kriegserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika am 6. April 1917 und dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg wurden die US-amerikanischen Streitkräfte in Europa kontinuierlich verstärkt, was eine Verbreitung des Virus beziehungsweise der Grippe begünstigte. Durch die Verlegung infizierter Militärangehöriger sowie den Transport von Kriegsgefangenen in weit hinter der Front errichtete Lager breitete sie sich zunächst rasch auf Europa und kurze Zeit später weltweit aus.

Warum, wird man fragen, sprechen wir aber von der „Spanischen“ Grippe? Während in fast allen kriegsführenden Ländern entsprechende Berichte erst deutlich nach dem Auftreten der ersten Erkrankungswelle veröffentlicht wurden, thematisierte die aufgrund der Neutralität Spaniens nicht der Kriegszensur unterliegende spanische Presse die Erkrankungen offen. Sie berichtete über den Gesundheitszustand ihrer Königin, die an einer in Madrid aufgetretenen „merkwürdigen Krankheit mit epidemischem Charakter“ erkrankt war, deren Verlauf überwiegend als mild zu charakterisieren sei, was die Nachrichtenagentur Reuters am 27. Mai 1918 aufgriff und international verbreitete. Durch diese und andere Berichterstattungen entstand schließlich der Eindruck, die Krankheit habe in Spanien ihren Ursprung genommen, was letztlich zur Bezeichnung Spanische Grippe führte.

Abb. 1: Militärkrankenhaus in Kansas während der Spanischen Grippe (Bildquelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Spanish_flu_hospital.png)

Virulenz des Erregers und Letalität der Erkrankung

Schon im 19. Jahrhundert waren pandemische Influenzaausbrüche keine Seltenheit, wie etwa die Pandemien des Jahres 1847/48 sowie der Grippeausbruch in Russland 1899 zeigen, in dessen Folge allein im Deutschen Reich etwa 60 000 Tote zu beklagen waren.

Die Ursache der Grippe war lange Zeit unklar. Als der Mikrobiologe Richard Pfeiffer, „Vorsteher der wissenschaftlichen Abteilung“ des von Robert Koch geleiteten „Instituts für Infektionskrankheiten“, 1892 ein „blutliebendes Bakterium“ entdeckte, war der – vermeintliche – Erreger gefunden: Das nach seinem Entdecker benannte „Pfeiffer-Bakterium“ wurde unter dem Namen „Influenzabazillus“ schnell in der Fachwelt bekannt, später setzte sich die Bezeichnung „Haemophilus influenzae“ durch. Der Irrglaube an eine bakterielle Infektion als Auslöser der Grippe konnte erst 1933 mit dem Nachweis des Influenza-Virus beseitigt werden.

Beim Vergleich der Verläufe der Grippeausbrüche des 19. Jahrhunderts mit der Spanischen Grippe fallen als wesentliche Unterschiede eine hohe Sterblichkeitsrate sowie ein verschobener Peak der Todesopfer in der Altersverteilung auf. Lag die Letalität einer herkömmlichen Grippe-Pandemie bei etwa 0,1 %, so wies die Spanische Grippe eine Mortalitätsrate von 2,5 % auf. Zusätzlich lag eine Häufung von Opfern im Alter zwischen 15 und 40 Jahren vor, wohingegen zuvor bei den saisonalen Influenzaausbrüchen besonders Säuglinge und alte Menschen gefährdet waren. Lange konnte für dieses Phänomen keine Erklärung gefunden werden. Einem amerikanischen Forscherteam um Jeffery Taubenberger gelang 2005 die Entschlüsselung des Virusgenoms aus konserviertem Gewebe eines Influenzaopfers vom Herbst 1918. Durch die Analyse des für den Ausbruch der Spanischen Grippe verantwortlichen Influenza-Virus A-H1N1 sollte es schließlich möglich sein, den Infektionsablauf sowie die Reaktionen des menschlichen Organismus zu untersuchen und ein Erklärungsmodell zu liefern, warum so viele gesunde Menschen mit einem guten Immunsystem erkrankten:

Nach Unterdrückung der Immunantwort zu Beginn der Infektion folgte demnach eine überschießende Antwort der körpereigenen Abwehr, in deren Folge es zu massiven Schädigungen und Zerstörungen des Lungengewebes der Patienten kam. Gerade die verzögerte Reaktion des Immunsystems, das bei jungen Erwachsenen gewöhnlich am leistungsfähigsten ist, wirkte sich fatal aus und führte letztlich zu den letal verlaufenden Lungenentzündungen. Typisch für die Verstorbenen war eine tiefblaue bis schwarze Verfärbung von Haut und Schleimhäuten. In einer zeitgenössischen Publikation wurde berichtet, dass die Kranken durch Blut- und Wasseransammlungen „gleichsam innerlich ertrinken“.

Die drei Wellen der Spanischen Grippe

Die Spanische Grippe trat in drei Wellen auf, die sich teilweise überlagerten. Die vergleichsweise harmlose „Frühjahrswelle“ des Jahres 1918 breitete sich mit Truppentransportern, Handelsschiffen und Kriegsgefangenen von Nordamerika nach Europa, Südamerika, auf den indischen Subkontinent sowie nach Asien und Afrika aus. Die ersten erkrankten Angehörigen der amerikanischen Expeditionsstreitkräfte wurden Anfang April im französischen Brest und kurze Zeit später in einem Militärlager bei Bordeaux registriert. Schon Mitte des Monats berichteten Militärärzte über infizierte Soldaten der französischen Armee an der Front. Auf deutscher Seite erreichte diese erste Welle im Juli ihren Höhepunkt.

In den meisten europäischen Ländern gingen die Zahlen der Neuinfektionen wieder zurück, jedoch brach in Folge einer Mutation eine schwerere und meist in Kombination mit Bronchopneumonien auftretende Grippe-Pandemie als zweite Welle aus: Erste Erkrankungen traten fast zeitgleich in Frankreich und Spanien sowie in Afrika, Indien und den USA auf. Im Deutschen Reich registrierten die Gesundheitsämter die höchste Zahl der Neuerkrankungen vom 10. Oktober bis zum 15. November 1918.

Mit dem Jahreswechsel 1918/19 begann die dritte und letzte Welle, die von sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern und Verläufen geprägt war. Im Frühjahr 1919 waren in den meisten Ländern rückläufige Krankheitszahlen feststellbar, wobei es bis Mitte der 1920er Jahre immer wieder zu Neuinfektionen kam. Die Mortalität der dritten Welle war in den meisten Regionen deutlich geringer als bei den vorangegangenen Wellen. Ursächlich hierfür wird vielfach eine erworbene Immunität von Überlebenden der vorherigen Wellen diskutiert. Als weitere Möglichkeit wird ein Virulenzverlust des Virus im Laufe der Zeit in Betracht gezogen.

Opferzahlen und Sterblichkeit in Deutschland

Exakte Angaben zu den Opferzahlen der Spanischen Grippe sind nicht möglich. Anfang der 1920er Jahre sprachen französische Wissenschaftler von weltweit 20 Millionen Todesopfern – andere Mediziner gingen allein von 15 Millionen Toten in Asien aus. Bedingt durch fehlende Dokumentationen aus dem Bereich des Gesundheitswesens vieler Länder wurden die Opferzahlen oft hochgerechnet bzw. auf andere Regionen übertragen. In den letzten Jahrzehnten wurden diese Angaben immer wieder nach oben korrigiert und aktuelle Berechnungen gehen von fast 50 Millionen Verstorbenen aus.

Für die Schätzung der Erkrankungszahlen sowie der Sterblichkeitsrate in Deutschland werden die Zahlen des Landes Preußen zugrunde gelegt, die einen Vergleich mit saisonalen Grippeausbrüchen ermöglichen. Während der jahreszeitlichen Influenza-Epidemien im Zeitraum 1909 bis 1917 starben im Jahresdurchschnitt in den Altersbereichen der 15- bis 40-Jährigen 299 Menschen, während die Zahl der über 60-Jährigen bei 2 591 lag. Von den Toten der Influenza-Epidemien des Jahres 1918 ­waren 51 627 zwischen 15 und 40 Jahre alt, wohingegen lediglich 19 026 älter als 60 waren (Übersicht siehe ­Abbildung 2). Diese Umkehrung der Altersverteilung als Charakteristikum der Spanischen Grippe wird im Übrigen durch Zahlen von europäischen Lebensversicherungsgesellschaften bestätigt.

Abb. 2: Die Zahl der Grippetoten in Preußen

Militärische und zivile Auswirkungen

Die Krankheit wirkte sich in unterschiedlicher Intensität auf die Einsatzbereitschaft und Kampfkraft aller am Ersten Weltkrieg beteiligten Streitkräfte aus. Ein Einfluss der Spanischen Grippe auf den Verlauf des Krieges ist sicherlich vorhanden, darf allerdings nicht überbewertet werden. Die hohen Ausfallzahlen sowie die verringerte körperliche Belastbarkeit der Kranken und Rekonvaleszenten waren zwar für die an der Westfront eingesetzten deutschen Truppen von großer Bedeutung und erschwerend kam hinzu, dass beim militärischen Gegner die Krankheitszahlen zum Zeitpunkt der letzten deutschen Offensive bereits wieder deutlich rückläufig waren und die Ausfälle mit Soldaten aus Übersee stetig aufgefüllt werden konnten. Entscheidend für die Niederlage des deutschen Kaiserreiches war aber nicht die Grippe, sondern das Versagen der Obersten Heeresleitung.

Die Zivilbevölkerung litt vor allem unter der zweiten und dritten Welle, wobei es auch hier regionale Unterschiede gab. Die Krankheit verbreitete sich in dicht besiedelten Industriezentren deutlich stärker als im ländlichen Bereich, während in Dörfern und kleineren Städten die Sterblichkeit weit über der der Ballungszentren lag. Durch die enorme Zahl an Infektionen kam das öffentliche Leben in vielen Städten zum Erliegen. Der öffentliche Nahverkehr konnte ebenso wie Fernverkehrsverbindungen kaum aufrechterhalten werden, die Post stellte den Betrieb teilweise komplett ein. Aus Angst vor einer weiteren Ausbreitung der Seuche blieben im letzten Quartal 1918 viele Schulen in Deutschland dauerhaft geschlossen – ein Phänomen, das als „Grippeferien“ in die Geschichte eingegangen ist. Der krankheitsbedingte Personalausfall in Bergwerken, Fabriken und der Landwirtschaft resultierte in einer empfindlichen Störung bei der Herstellung von Produkten des täglichen Bedarfs und Nahrungsmitteln.

Abb. 3: Zeitgenössische Zeitungsberichte zu Einschränkungen des Eisenbahnverkehrs und Schulschließungen aufgrund der Grippe-Pandemie 1918 (links: „Vorwärts“ vom 29. Oktober 1918; rechts: „Reutlinger General-Anzeiger“ vom 01. November 1918)

Weitere Entwicklung und internationale Zusammenarbeit

Die Influenzaforschung der Zwischenkriegsjahre erfolgte überwiegend in Großbritannien und den USA. Gerade letztere befürchteten, bedingt durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, eine erneute Grippe-Pandemie in einem zukünftigen Krieg und gründeten nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die „Commission on Influenza“, deren vorrangiges Ziel die Entwicklung eines Impfstoffes war. Mit Gründung der WHO im Jahre 1947 wurden die Bemühungen um eine zentrale Registrierung und Überwachung von Grippe-Epidemien verstärkt, was schließlich zur Etablierung des „Welt-Influenza-Zentrums“ Ende der 1940er Jahre führte.

In den folgenden Jahrzehnten wurde das weltweite Netzwerk zur Überwachung der Grippeausbrüche und zur Koordinierung der Impfstoffproduktion weiter ausgebaut. Bewährungsproben waren beispielsweise die 1957 ausgebrochene und auf die Kombination eines Human- mit einem Geflügelpestvirus zurückgehende Asiatische Grippe (deren Opferzahlen schätzungsweise bis zu 2 Millionen betrugen), ferner die auf den gleichen Influenza-Subtyp wie die Spanische Grippe zurückzuführende Russische Grippe 1977/78 mit knapp 750 000 Toten sowie die Hongkong-Grippe, die zwischen 1968 und 1970 rund eine Million Opfer forderte (siehe Abbildung 4).

Abb. 4: Ausgewählte Grippeausbrüche aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Mittlerweile melden über 100 nationale Influenzazentren sowie mehrere „WHO Collaborating Centres for Influenza“ die Ergebnisse ihrer Untersuchungen und tragen mit ihrer Arbeit jedes Jahr zur Entwicklung einer wirksamen Impfung gegen die saisonale Grippe bei.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Spanischen Grippe und der Corona-Pandemie

Viele der Gemeinsamkeiten sind offensichtlich:

Vor mehr als 100 Jahren (also lange vor unserer modernen Globalisierung) wie auch heute gelang einem Virus die weltweite Verbreitung. Damals wie heute wurde das Virus von Tieren auf den Menschen übertragen und damals wie heute dominierte und lähmte die Pandemie das öffentliche Leben in zahlreichen Ländern auf der ganzen Welt. Die Spanische Grippe verlief über einen Zeitraum von etwa zwei bis drei Jahren in drei Wellen, wie wir uns auch heute in einer zweiten Welle befinden.

Abb. 5: Zeitgenössische Karikatur aus der Zeitung „El Fígaro“, Spanien, 25. September 1918, oben mit der Inschrift „Letzte Stunde“, unten die Bemerkung „Sie [dieGrippe] zeigt sich weiterhin gutartig. Friedhöfe fehlen.“ (Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Ultima_hora.tif)

Zu Beginn der Spanischen Grippe wirkten die Handlungsempfehlungen und Maßnahmen in Deutschland sehr unkoordiniert und lagen zum Großteil in der Kompetenz der Lokalverwaltungen. – Gewisse Parallelen zum Verordnungswirrwarr in den 16 Bundesländern sind also unübersehbar. – Es kam im Zuge der zweiten Welle zur Schließung von Schulen; die Bevölkerung wurde über die Pandemie informiert, teils wurden Theater und Kinos geschlossen. Weitergehende Einschnitte wie ein generelles Versammlungsverbot, das Verbot von Gottesdiensten und die Schließung von Gaststätten – also Maßnahmen, die zum Alltag der Corona-Pandemie gehören – wurden hingegen nicht ergriffen.

Summa summarum ist festzustellen, dass man der Spanischen Grippe anfangs eher hilflos gegenüberstand, während bei der heutigen Corona-Pandemie fast weltweit sehr schnell und konsequent Schritte unternommen wurden, um das Infektionsgeschehen einzudämmen.

Parallelen finden sich aber nicht nur im Bereich des ­Faktischen, sondern auch in den Empfindungen und Wahrnehmungen der Bevölkerung: So führte die Unfassbarkeit der Vorgänge bei beiden Pandemien zu Spekulationen und Verschwörungstheorien über die Herkunft und den Ursprung der jeweiligen Viren. Wie dargestellt sollte die zweite Welle der Spanischen Grippe, die sogenannte „Herbstwelle“, das öffentliche und gesellschaftliche Leben massiv beeinträchtigen, teils gar zum Erliegen bringen. Die Reaktionen waren damals uneinheitlich: Zwar kam es in Teilen der Bevölkerung zur Beunruhigung, zu Angst und geradezu panischen Reaktionen – in weiten Bevölkerungsteilen herrschte indessen eher Gleichgültigkeit. Angesichts der Entbehrungen des Krieges und der Kriegsniederlage war die Grippe-Pandemie nicht das alles beherrschende Thema, zumal Seuchen generell nicht so ungewöhnlich waren wie in unserem heutigen Bewusstsein.

Deutliche Unterschiede zeigen sich hingegen in der ­Zusammensetzung der betroffenen Bevölkerungsgruppen und den Antworten der Medizin auf die jeweiligen Seuchen:

Im Gegensatz zu der von dem Corona-Virus SARS-CoV-2 ausgelösten Krankheit Covid-19, die zunächst vornehmlich für alte Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen lebensbedrohlich war, starben aufgrund eines anderen Krankheitsmechanismus an der Spanischen Grippe vor allem junge Menschen im Altersband zwischen 15 und 40 Jahren.

Ein weiterer, gravierender Unterschied besteht darin, dass wir heute über bessere und effektivere Möglichkeiten in Diagnostik, Therapie und Prävention verfügen: So beschränkten sich zur Zeit der Spanischen Grippe die therapeutischen Möglichkeiten auf eine rein symptomatische Behandlung. Kausale Behandlungsmöglichkeiten, also Therapien durch Virostatika oder Antibiotika, standen damals noch nicht zur Verfügung, zumal man bei der Grippe lange Zeit an eine bakterielle Infektion glaubte. Intensivmedizinische Möglichkeiten, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht und man darf auch nicht vergessen, dass sich die meisten Ärzte im Krieg befanden und die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung in großen Teilen brach lag.

Zwar ist bei der Entwicklung spezifischer Medikamente auch heute der Durchbruch noch nicht gelungen und die symptomatische Therapie steht im Vordergrund, jedoch gingen die Anstrengungen in Klinik und Forschung sehr schnell in die Richtung der Impfstoffentwicklung und kausaler Behandlungsansätze – immer mehr Impfstoffe befinden sich in der Zulassung. Dabei konnte in den betreffenden Fächern auf eine fundierte Wissensbasis zurückgegriffen werden, die extrem schnell medizinische Fortschritte ermöglichte. Und wir haben in Deutschland ein hervorragendes Gesundheitssystem, eine leistungsfähige sowie auch zahlenmäßig gut ausgebaute und weiter ausbaufähige Intensivmedizin.

Wenn zu Beginn des Beitrags die „Beispiellosigkeit“ der Corona-Pandemie in Abrede gestellt wurde, dann betrifft dies nicht das Tempo im Bereich der Forschung und des Erkenntnisgewinns, sowohl im Hinblick auf die Erkrankung Covid-19 als auch deren Erreger. Paradoxerweise resultiert(e) aber gerade auch durch diesen enormen wissenschaftlichen Fortschritt ein Teil der Verunsicherung in der Bevölkerung. Wenn das, was gestern richtig war, heute falsch ist und umgekehrt, dann entsteht für viele Laien zuweilen ein Bild der Zerrissenheit, der Eindruck inkonsequenten oder widersprüchlichen Handelns. Dieses Bild ist aber die Konsequenz daraus, dass der Sachstand nicht statisch ist, sondern sich der Kenntnisstand bezüglich des Corona-Virus, seiner Verbreitung und der Krankheit Covid-19 aufgrund fieberhafter Forschungen sowohl in Deutschland als auch im internationalen Bereich permanent verändert.

Ähnlich zu bewerten sind im Übrigen manche Meinungsverschiedenheiten zwischen den im Fokus stehenden Experten, die oft medienwirksam als Streitigkeiten oder gar persönliche Kontrahagen hochstilisiert wurden, sich aber bei genauerem Hinsehen als Ausdruck eines wissenschaftlichen Diskurses entpuppten, ohne den Fortschritt nicht möglich ist.

Ethische Anmerkungen zur Corona-Krise

Die Corona-Pandemie stellt nicht nur die Medizin und die Wissenschaft in Deutschland, Europa und weltweit vor enorme Herausforderungen, sondern betrifft alle Bereiche unseres gesellschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens und ausnahmslos alle Bevölkerungsgruppen und -schichten. Hieraus ergeben sich auch zahlreiche ethische Fragestellungen, Konflikte und Dilemmasituationen. Das inhaltliche Spektrum ist dabei derart breit, dass wir diesen ebenso vielfältigen wie vielschichtigen Themenkomplex letztlich nur anreißen und problematisieren können:

Medizinethische Dilemmata

Zum einen entstanden und entstehen konkrete medizinethische Dilemmata, beispielsweise im Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit von medizinischen Ressourcen, wenn etwa zu wenige Intensivbetten, Beatmungskapazitäten oder Testmöglichkeiten für die Patienten zur Verfügung stehen oder wenn – auch dies ein konkretes Problem in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie – zu wenig Schutzkleidung, Hygieneartikel und Desinfektionsmittel zum Schutz des medizinischen Personals verfügbar waren.

Die meisten dieser ethischen Dilemmata, also Situationen, in denen der Arzt zwischen zwei konkurrierenden, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik, etwa der Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress, lösen (siehe Abbildung 6).

Auch wenn die meisten dieser Probleme aufgrund einer Überwindung der Versorgungsengpässe derzeit in den Hintergrund getreten sind, lassen sich entsprechende Dilemmata, beispielsweise bei der Priorisierung von Impfungen bei beschränkten Kapazitäten, auch in der Zukunft absehen.

Abb. 6: Die Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress basiert auf vier Prinzipien, die gegeneinander abgewogen werden.

Einschränkungen der persönlichen Freiheiten

Kommen wir zu einem anderen Themenfeld: So haben auch die im Rahmen des sogenannten Lockdown verfügten Einschränkungen der persönlichen Freiheiten und Rechte nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine ethische Dimension. Es stellen sich Fragen, wie stark zugunsten des Gemeinwohls die individuellen Rechte beschnitten werden dürfen, ob das Recht auf Leben sowohl aus rechtlicher als auch aus ethischer Sicht so stark zu gewichten ist, dass dem alle anderen Persönlichkeits- und Freiheitsrechte unterzuordnen sind.

Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass das Verhalten – aber auch das Fehlverhalten – jedes Einzelnen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der Pandemie hat. Dementsprechend wurden und werden immer wieder verbindliche Handlungsanweisungen und „Corona-Regeln“ erlassen, um das Infektionsgeschehen möglichst einzudämmen. Während diese Maßnahmen die Zustimmung des überwiegenden Teils der Bevölkerung fanden, sah und sieht ein kleiner – allerdings sehr lauter – Teil der Bevölkerung seine eigenen Freiheiten und Selbstbestimmungsrechte in einem inakzeptablen Ausmaß eingeschränkt. In dieser Frage gehen unseres Erachtens Recht und Ethik Hand in Hand.

Die freie Entfaltung der Persönlichkeit und Selbstbestimmung des Einzelnen ist sowohl in rechtlicher wie auch in ethischer Hinsicht eines der höchsten und schützenswertesten Güter. Das ist auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kodifiziert – jedoch nicht absolut und bedingungslos. In Art. 2 des Grundgesetzes heißt es:

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Die eigene Selbstbestimmung, sei es in Form äußerer Verhaltensweisen, aber auch im Hinblick auf die Patientenautonomie, endet also dort, wo sie in die Rechte anderer Personen eingreift, die ebenso vom Grundgesetz geschützt werden. Dies bedeutet, dass auch für diejenigen, die selbst nicht gefährdet erscheinen oder für sich die Entscheidung treffen, zugunsten ihres Lebensstils gesundheitliche Risiken einzugehen, die Sorge und Rücksichtnahme vor allem für die Risikogruppen gelten muss, bei denen eine Infektion schwere Krankheitsverläufe, möglicherweise gar bis hin zum Tod, nach sich ziehen kann.

Muss das aber im Umkehrschluss bedeuten – oder anders gefragt: wie realistisch es ist –, jedes einzelne Leben maximal zu schützen? Um ein Beispiel zu geben: Die Zahl der Verkehrsopfer in Deutschland lag 2019 bei etwas über 3 000 und ließe sich sicherlich noch weiter verringern, wenn man den Straßenverkehr oder die gesamte Mobilität der Bevölkerung erheblich einschränkt. Die Sterblichkeit an bestimmten Tumorarten ließe sich durch konsequente Rauchverbote oder das Verbot von Alkohol und andere Maßnahmen drastisch reduzieren. Und mehr als 10 000 Menschen sterben jährlich in Deutschland an den Folgen häuslicher Unfälle. – Allein diese Beispiele zeigen, dass ein maximaler Schutz des Lebens nicht möglich ist, sondern dass vielmehr – hier besteht bei sehr vielen Ethikern wie auch Staatsrechtlern Konsens – ein Leben in Würde das Maß der Dinge darstellt. Nicht umsonst ist gleich im ersten Absatz unseres Grundgesetzes, noch vor den Forderungen auf das angesprochene Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, formuliert:

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

In einem umfassenden Beitrag mit dem Titel „Das höchste Gut“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 1. April 2020 behandelte der Frankfurter Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie Uwe Volkmann diesen Themenbereich und schrieb unter anderem:

Andererseits ist der Staat moralisch, politisch und rechtlich verpflichtet, das Leben zu schützen, und kann dazu weitgehende Maßnahmen ergreifen. Diese unterliegen aber ihrerseits Bindungen; eine Verpflichtung zum Schutz des Lebens um jeden Preis gibt es nicht.

Und er fährt an anderer Stelle fort:

Ist man bis hierher vorgedrungen, erkennt man vielleicht besser, was das höchste Gut ist, auf das sich diese politische Gemeinschaft verpflichtet hat. Es ist, in einem Satz, nicht das Leben als solches, sondern das Leben in Würde.

Um hier nicht missverstanden zu werden: Wir halten die ergriffenen Maßnahmen im Großen und Ganzen aufgrund der zunächst unkalkulierbaren Gefahren dieser vollkommen neuen Erkrankung für absolut gerechtfertigt und notwendig – ebenso notwendig ist es aber, die medizinischen und infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen in einer ständigen ethischen und staatsrechtlichen Wertediskussion, auch darüber, was wir unter einem Leben in Würde verstehen, zu begleiten.

Verantwortung in der Krise

Zum Dritten ist zu fragen, wie ethisch oder unethisch der Umgang mit der Corona-Krise und Informationen sowohl seitens der Medien, in Politik und Wissenschaft sowie von möglichen weiteren Interessengruppen zu bewerten ist, wie groß die Gefahr der Instrumentalisierung von Ängsten und tatsächlichen wie vermeintlichen Bedrohungslagen ist.

Ein Beispiel für die politische Instrumentalisierung der Corona-Pandemie mit ethischer Dimension bildet die Weigerung des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, bei drastisch steigenden Zahlen an Neuinfektionen bei der Kontaktnachverfolgung die Hilfe der Bundeswehr anzunehmen. So heißt es in einem Beschluss der Partei „Die Linke“ (veröffentlicht am 11. August 2020):

Die Partei DIE LINKE steht in der Tradition des Antimilitarismus. Sie setzt sich daher auf Landesebene dafür ein, dass die im Zuge der Corona-Maßnahmen in den Gesundheitsämtern der Bezirke eingesetzten Bundeswehrsoldaten sofort abgezogen werden. Dass die Gesundheitsämter ihrer Arbeit auch ohne Militär nachkommen können, zeigt der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, der einen Einsatz der Bundeswehr zu Recht ablehnt. Wo das nicht der Fall ist, sind die Gesundheitsämter, vor allem angesichts der jahrelangen Einsparungen im öffentlichen Dienst, umgehend dazu in die Lage zu versetzen.

Eine schleichende Vermischung ziviler und militärischer Kompetenzen ist aus Gründen der Bewahrung der Demokratie und vor dem historischen Hintergrund der Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus eindeutig abzulehnen.

Man muss wohl keine Ethik-Theorien bemühen oder philosophische Herleitungen anstrengen, um die ethische Dimension zu erkennen: Wenn ideologische Standpunkte oder weltanschauliche Konstrukte jedweder Art über das Wohl und die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung gestellt werden und durch dieses Handeln eine weitere Ausbreitung der Infektion und im schlimmsten Fall hierdurch bedingt weitere Todesfälle in Kauf genommen werden, ist dies moralisch in keiner Weise zu rechtfertigen.

Ganz ohne Polemik wäre es spannend zu wissen, wie ein Unterzeichner dieses Beschlusses handeln würde, wenn er selbst oder einer seiner nächsten Angehörigen beispielsweise auf ein Beatmungsgerät oder andere medizinische Ressourcen der Bundeswehr angewiesen wäre.

Als weiteres Beispiel für den Umgang mit Informationen, die Verfolgung eigener Interessen und das Spiel mit den Ängsten der Bevölkerung möchten wir den Umgang mancher Medien mit der Corona-Pandemie aufgreifen.

Gerne definieren sich die Medien als „Vierte Gewalt“, die in unserem demokratischen System der Gewaltenteilung neben Exekutive, Legislative und Judikative eine weitere Säule der Demokratie darstellt – übrigens kein neues Bild, hat doch bereits Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) im Zeitalter der Aufklärung die Presse als „vierte Säule“ im Staat bezeichnet. Diese Sichtweise impliziert jedoch nicht nur Rechte, sondern auch eine hohe ethische Verpflichtung im Hinblick auf Art und Inhalt der Berichterstattung, der nicht alle Medien gerecht werden:

Beispielsweise wurde in aller Regelmäßigkeit von neuen Höchstständen bei den Infektionszahlen und der Zahl der Todesopfer berichtet. Nicht immer handelt es sich aber dabei um eine neue Höchstzahl bei den Neuinfektionen oder den neu hinzugekommenen Todesfällen, sondern um die absoluten Zahlen seit Beginn der Pandemie – was heißt, dass natürlich auch bei nur einer einzigen Neuinfektion und mit jedem neuen Todesfall ein neuer Höchststand erreicht ist.

Und auch die mittelalterlichen Schreckgespenster werden wieder bemüht, um Angst und Panik zu verbreiten: Mit der reißerischen Schlagzeile „Kleinkind in China mit Pest infiziert – Behörden verhängen Quarantäne“ wurde im September 2020 über einen Pestausbruch in China berichtet, um dann am Ende des Berichts lapidar festzustellen:

In China kommt es immer wieder zu lokalen Ausbrüchen der Pest, die in Europa im 14. Jahrhundert für Millionen Tote gesorgt hatte. Mittlerweile gibt es einen Impfstoff gegen den Erreger. Auch bereits Infizierte können mit Medikamenten behandelt und so wieder gesund werden. 1

Schlussbemerkung

Soviel zu unseren historischen Anmerkungen, vergleichenden Betrachtungen und ethisch-rechtlichen Denkanstößen. Auch wenn das Corona-Virus uns in vielerlei Hinsicht Verzicht auferlegt, haben wir gerade in Deutschland gute Erfolge zu verzeichnen und können hoffentlich auch langfristig dem Virus seinerseits den Spaß verderben.

Manuskriptdaten

Zitierweise

Vollmuth R, Müllerschön A: „Spanische Grippe“, Corona und die Kunst der Verdrängung: Historische Betrachtungen und ethische Anmerkungen. WMM 2021; 65(1): 23-29.

Für die Verfasser

Oberstarzt Prof. Dr. med. dent. Ralf Vollmuth

Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam

E-Mail: ralf1vollmuth@bundeswehr.org

Vortrag auf dem 51. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. am 23. Oktober 2020 in Rostock-Warnemünde


1 https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_88658892/pest-in-china-ausgebrochen-kleinkind-infiziert-und-in-quarantaene.html (Aufruf: 25. November 2020)