Wehrmedizinische Monatsschrift

Entwicklung eines mikroskopischen Modells der
Blut-Hirn-Schranke zur Testung antiviraler Wirkstoffe
gegen Orthopockenviren (Poster-Abstract)

Alessandro Cocca a, e 1 , Juny Marie Lettau a, b 1, Adriana Helfen a, Lisa Hurler b, Paola Zanetta c, Rohan Nayaran d, Joachim J. Bugert a

a Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr, München

b Technische Universität München

c Università degli Studi di Milano-Bicocca, Milan, Italy

d Cardiff School of Pharmacy and Pharmaceutical Sciences, Pharmacy and Pharmaceutical Sciences, Cardiff, UK

e Ludwig-Maximilians-Universität München

 

Einführung

Bis zu ihrer Eradikation 1980 durch die WHO Impfkampagne mit dem Impfvirus Vaccinia Virus (VACV) waren die Pocken (Variola) eine verheerende, weltweit vorkommende Erkrankung, welche in ungeimpften Populationen eine Letalität von bis zu 35 % erreichte. Sowohl das Variolavirus als auch replizierendes VACV können als schwerwiegende Komplikation eine Enzephalitis verursachen [4].

Aufgrund seiner Infektiosität, seiner Widerstandsfähigkeit gegen Umwelteinflüsse und der geringen Immunität in der Bevölkerung findet sich das Variola Virus sowohl auf der NATO AMed-P6 Liste der B-Schutz relevanten Erreger als auch auf der CDC 2-Liste möglicher Pathogene für einen bioterroristischen Angriff.

Antivirale Wirkstoffe (Tecovirimat/TPOXX®/Cidofovir) würden in diesem Fall zur Prophylaxe oder Behandlung ungeimpfter Exponierter/Erkrankter und bei Nebenwirkungen einer reaktiven Massenimpfung mit replizierendem VACV eingesetzt [2]. Die zur Verfügung stehenden Wirkstoffe sind hinsichtlich der Passage der Blut-Hirn-Schranke (BHS) nicht charakterisiert, insofern ist unklar ob der Wirkstoff dem Virus im Falle einer Infektion ins ZNS folgen kann.

Ziel dieses Projekts am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr (InstMikroBioBw) ist die Etablierung eines komplexen Infektionsmodells der Blut-Hirn-Schranke zur Untersuchung der ZNS Gängigkeit antiviraler Wirkstoffe gegen Enzephalitis verursachende Viren [3][5]. Grün fluoreszierendes Protein (v300-EGFP) sowie Luziferase (v3-LUC) exprimierende VACV Reporterviren werden als Modellorganismen/Surrogatsystem unter S2 Bedingungen genutzt.

Als Voraussetzung für ein mikroskopisches Modell der BHS wurde im Rahmen dieses Projekts die Lebendzellmikroskopie von Glia-, Endothel- und myeloiden Zelllinien sowie deren Infektion mit VACV Reporterviren im ‚µ-Slide Membrane ibiPore Flow‘ System, einem Zweikammersystem der Firma ibidi etabliert [6]. In diesem System sollen die Passage viraler Erreger über die BHS, der Einfluss transmigrierender Leukozyten sowie der Effekt antiviraler Wirkstoffe auf diesen Prozess untersucht werden.

Material und Methoden

Für die Untersuchungen wurden folgende Zelllinien verwendet:

Zum Einsatz kamen rekombinante Virus-Konstrukte, die auf der Basis des VACV Stamms WR (Western Reserve) als EGFP bzw- Luziferaseexprimierende VAC-Reporterviren konstruiert wurden [8].

Zur Kultivierung kamen das µ-Slide Flow-System [6] (Abbildung 1) und das Transwellsystem (Abbildung 2) zum Einsatz.

Abb. 1: µ-Slide Flow System [6]: Horizontale poröse Glasmembran (0,3 µm Porengröße) zwischen zwei Kammern ermöglicht die separate Kultivierung und mikroskopische Beobachtung verschiedener Zelltypen auf einem Slide. Bei hoher Komplexität ist eine bessere Übertragbarkeit auf die anatomischen Gegebenheiten bei Mensch bzw. Tier gegeben. Nachteile sind komplexe Handhabung, und die Definition der quantitativen Messung: quantifiziert wird nicht das Fluoreszenzsignal, sondern die Progression der Infektion, z. B. Zeit bis zum Auftreten der ersten infizierten ZNS Zellen.

Abb. 2: Transwellsystem: Ein Insert mit einer Polyethylen-Membran (0,4µm Porengröße) wird in ein Well einer 24-Well-Platte gesetzt – ein etabliertes, vielfach verwendetes, einfaches Modell für Barriereversuche. Bei einfachem Aufbau ist eine quantitative Auswertung der übertretenden Moleküle bzw. Viren möglich. Die geringe Komplexität erschwert die Übertragbarkeit auf die anatomischen Verhältnisse bei Mensch und Tier, eine mikroskopische Beobachtung ist nicht möglich.

Ergebnisse

Fibronektin als extrazelluläre Matrix

Verwendete Endothelzellen (HUVEC und HBEC) bilden nur auf mit Matrixproteinen beschichteten Oberflächen einen suffizienten Monolayer. Zur Auswahl des optimalen Matrixproteins wurden drei Versuchsreihen zur Dichte-Messung des Monolayers entwickelt.

a) Transendotheliale Widerstandsmessung mittels Impedanzmessung

Der elektrische Widerstand (Cell Index/Impedanz) eines Zellrasens steigt, je dichter die Zellen liegen und je mehr interzelluläre Verbindungen (tight junctions) ausgebildet werden.

Im Vergleich ist der Zellrasen auf der Fibronektin-Beschichtung deutlich dichter als der auf anderen Beschichtungen, nach etwa 30 Stunden nähern sich die Werte denen der Gelatine-Beschichtung jedoch an.

b) Immunfluoreszenz von ZO- 1 und DAPI im µ-Slide Flow System

Für die Bildung einer dichten Barriere sind ‚tight junctions‘ zwischen den Endothelzellen nötig, die durch das Membranprotein ZO-1 mit dem Zytoskelett verankert werden. Barrierezellen können im µ-Slide Flow- System fixiert und mittels ZO-1-Antikörpern die Zell-Zell-Verbindungen am Laser-Scanning-Mikroskop sichtbar gemacht werden.

Es findet sich ein einheitlicher Zellrasen mit gleichmäßigen ‚tight junctions‘ zu benachbarten Zellen bei Fibronektinbeschichtung, ein lückenhafter Zellrasen bei Beschichtung mit Kollagen IV oder ohne Beschichtung (Abbildung 3).

Abb. 3: Effekt verschiedener extrazellulärer Matrizen auf die Ausbildung von ‚tight junctions‘:
Die Membranen des µ-Slide Flow-Systems wurden mit Fibronektin (A), Kollagen IV (B) oder nicht (C) beschichtet; anschließend wurden HUVEC ausgesät. 3 Tage nach Aussaat wurden die Zellen fixiert und eine Immunfluoreszenzfärbung mit ZO-1-Antikörpern (grün) und DAPI (blau) vorgenommen.

c) Durchlässigkeitsversuch im Transwellsystem

In eine mit Medium gefüllte 24 Well-Platte wurden Inserts eingesetzt, die mit Fibronektin, mit Kollagen IV oder nicht beschichtet wurden. In die Inserts wurden HUVEC ausgesät. Nach 24 h erfolgte die Zugabe rekombinanter Luziferase in die Inserts. Probennahmen erfolgten nach 2, 4, 6, 8, 10, 24, 26 und 28 h sowohl aus dem Insert als auch aus dem Well. Die Lumineszenzmessung wurde im VICTOR X5 Luminometer mittels OneGloReagent® durchgeführt.

Es fand sich ein signifikant geringerer Luziferase-Durchtritt bei der Barriere aus mit Fibronektin beschichteter Membran und HUVEC.

HBEC als Alternative zu HUVEC

HBEC, eine immortalisierte Zelllinie zerebralen Ursprungs, konnte als Alternative zu HUVEC, welche nicht aus dem Gehirn stammen, etabliert werden. Die Kultivierung ist auf einer Fibronektinbeschichtung im µ-Slide ebenso möglich. Die Ausbildung von ‚tight junctions‘ wurde durch ZO-1-Immun-Fluoreszenzfärbung nachgewiesen [6].

Zusammenfassung und Ausblick

Bisher erreicht

Nächste Schritte

Weitere Ziele des Projektes

Bei der Risikoabwägung asymmetrischer Bedrohungen gilt der Einsatz von Variolavirus bei Massenveranstaltungen auch wegen der neuen Möglichkeiten zur synthetischen Herstellung von Pockenviren [9] als ernstzunehmende Bedrohung, weswegen VACV basierte Impfstoffe weiter in vielen Ländern vorgehalten werden. Vorhandene Lagerbestände replizierender VACV Impfstoffe mit dem entsprechenden Risiko der Impfenzephalitis werden zunehmend mit der nichtreplizierenden Variante MVA (Modified Vaccinia Virus Ankara) ersetzt, sind aber immer noch weit verbreitet. Der für die klinische Anwendung von Pockenvirusinfektionen zugelassene antivirale Wirkstoff Tecovirimat (TPOPXX®) induziert Resistenzmutationen in VACV, das alternativ einsetzbare Cidofovir ist für seine schweren Nebenwirkungen bei intravenöser Verabreichung bekannt [2]. Neue Wirkstoffe mit unterschiedlichen Wirkmechanismen (z. B. cf2642) würden eine synergistische Kombinationstherapie mit reduzierter Toxizität ermöglichen [2], die Behandlungsoptionen bei schweren Erkrankungsverläufen erweitern und unter Umständen auch einen Einsatz bei der Infektionsprophylaxe exponierter Ungeimpfter ermöglichen.

Mithilfe des am InstMikroBioBwetablierten mikroskopischen Zweikammer-Modells der BHS können in Zukunft die Wirksamkeit und ZNS Gängigkeit neuer antiviraler Verbindungen quantifiziert und wichtige weitere Erkenntnisse hinsichtlich ihrer Wirkungskinetik und Zellbiologie im Vergleich zu etablierten Wirkstoffen gewonnen werden. Das Modell bietet überdies die Möglichkeit der Untersuchung der Aktivität von Wirkstoffen gegen weitere, auch nicht virale Enzephalitiserreger.

Ein Verbundforschungsprojekt zur Untersuchung von Wirkstoffen gegen Enzephalitisviren der Risikogruppe 3 (FSME/ ggf. SARS CoV-2) in diesem Modell in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Brack-Werner am Helmholtz Zentrum München wurde in der grossen Forschungskonferenz 2019 zur Förderung ausgewählt und soll 2021 beginnen.

Literatur

  1. Bassetto M, Cima CM, Basso M,; Salerno M, Schwarze F, Friese D, Bugert JJ, Brancale A: Novel Nucleoside Analogues as Effective Antiviral Agents for Zika Virus Infections. Molecules 2020; 25(20): 4813. mehr lesen
  2. Bugert JJ, Hucke F, Zanetta P, Bassetto M, Brancale A. Antivirals in medical biodefense. Virus Genes 2020; 56(2): 150-167. mehr lesen
  3. Cocca A, Hurler L, Zanetta P, Nayaran R, Friese D, Bugert JJ: Biologische Evaluation antiviraler Wirkstoffe gegen Enzephalitisviren mittels Lebendzellmikroskopie (Poster-Abstract). WMM 2020; 64(3-4); 130-133. mehr lesen
  4. Fenner F, Henmderson DA, Arita I, Jezek Z, Ladnym IS: Smallpox and its Eradication. Genf: World Health Organization 1988: 175-177 und 140-142. mehr lesen
  5. Hurler L: Biological Evaluation of Antiviral Agents Against Encephalitis Viruses Using Life Cell Microscopy. Master Thesis TUM/IMB 2019.
  6. Ibidi: Product Flyer µ-Slide Membrane ibiPore Flow. München: Ibidi GmbH 2020. , letzter Aufruf 14. Dezember 2020. mehr lesen
  7. Lettau JM: Role of Endothelial Cell Types and Macrophages on the Passage of Neurotropic Viruses in Blood-Brain Barrier Models. Master Thesis TUM/IMB 2020:
  8. McGuigan C, Hindinger K, Farleigh L, Pathirana RN, Bugert JJ: Novel Antiviral Activity of L‑Dideoxy Bicyclic Nucleoside Analogues versus Vaccinia and Measles Viruses in Vitro; Journal of Medicinal Chemistry 2013; 56(3): 1311-1322. mehr lesen
  9. Noyce RS, Lederman S, Evans DH. Construction of an infectious horsepox virus vaccine from chemically synthesized DNA fragments. PLoS One. 2018 Jan 19;13(1): e0188453. mehr lesen

Für die Verfasser

Leutnant SanOA Alessandro Cocca

Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr

Neuherbergstr. 111, 80923 Müchen

E-Mail: alessandrococca@bundeswehr.org

Das Poster wurde mit dem 1. Preis des Posterwettbewerbs beim 51. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin and Wehrpharmazie e. V. in ­Rostock-Warnemünde (23.-24. Oktober 2020) ausgezeichnet.


1Das Poster wurde in gemeinsamer Erstautoreneigenschaft von Alessandro Cocca und Juny Marie Lettau erstellt und beim Kongress präsentiert.

2 CDC = United States Center for Diseases Control and Prevention