Wehrmedizinische Monatsschrift

„Blutung Stoppen – Leben Retten“:
Ein Pilotprojekt zur Ausbildung der Bevölkerung
im Umgang mit lebensbedrohlichen Blutungen (Vortrags-Abstract)

Katja Schneider a, c , Florent Josse b

a Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Klinik II – Allgemein- und Viszeralchirurgie

b Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik X – Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie

c Deutscher SanOA e. V., Bonn

 

Einleitung

Die Anwendung von Tourniquets (TQ) und Emergency Bandages (EB) zur Behandlung lebensbedrohlicher Blutungen ist im militärischen Umfeld im Rahmen der Taktischen Verwundetenversorgung (TVV; Tactical Combat Casualty Care, TCCC) seit Jahrzehnten etabliert [3]. Nachdem ein Expertengremium im Jahr 2015 beispielhaft die Verletzungsmuster des Sandy Hook Elementary School-Amoklaufs ausgewertet hatte [2], initiierte die US-Regierung unter dem Motto „Stop the Bleed“ eine US-weite Kampagne zur Ausbildung der breiten Bevölkerung im Umgang mit lebensbedrohlichen Blutungen [1]. Ziel war und ist die Befähigung möglichst aller Bürger zur „immediate response“, also zur überbrückenden Behandlung lebensbedrohlicher Blutungen bis zum Eintreffen der „first responder“, also dem Rettungsdienstpersonal.

2016 gab auch die Arbeitsgruppe „Taktische Medizin“ der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) erstmals eine Handlungsempfehlung zum Einsatz von TQ unter strenger Indikationsstellung im zivilen Umfeld heraus, die eine gewissenhafte Ausbildung als Notwendigkeit beschreibt [5]. Diese wurde im Jahr 2017 um die Forderung zur Ausstattung öffentlicher Plätze mit TQ und der Aufnahme der TQ-Ausbildung in Erste-Hilfe-Kurse ergänzt. Im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit der Deutschen Traumastiftung e. V. wurde die Integration von TQ in die „Ulmer Trauma-Box“ durchgeführt, die analog zum Konzept von Automatischen Externen Defibrillatoren (AED) an zentralen Orten zur Verfügung stehen sollen. Hierfür fehlt jedoch weiterhin eine politische Maßgabe [4].

Abb. 1: An diesen 12 Standorten wurde die Ausbildung parallel durch SanOA durchgeführt.

Der Deutsche SanOA e. V. führte im August 2020 ein deutschlandweites Pilotprojekt zur Schulung der breiten Bevölkerung im Umgang mit kritischen Blutungen durch und evaluierte diese, um zur Entwicklung eines Ausbildungskonzeptes beizutragen.

Abb. 2: Teilnehmende aus allen Altersgruppen nahmen begeistert an der Ausbildung teil.

Methodik

Freiwillige Sanitätsoffizieranwärterinnen und -anwärter (SanOA) leiteten an ihrem Standort anhand eines standardisierten Ausbildungskonzeptes eine zweistündige theoretische und praktische Ausbildung. Die Teilnehmergewinnung wurde durch die SanOA an Universitäten, im privaten Umfeld sowie zentral über die Social-Media-Kanäle des Vereins durchgeführt. Die logistische Organisation erfolgte individuell im Rahmen der Gegebenheiten vor Ort. Die Firma WERO GmbH & Co. KG, Taunusstein, stellte das Material (TQ, EB, Handschuhe, Desinfektionsmittel, Informationsmaterial) zur Verfügung, womit eine kostenlose Teilnahme gewährleistet werden konnte.

Das zu nutzende Ausbildungskonzept wurde in Anlehnung an die „S3-Leitlinie Polytrauma“ sowie die Handlungsempfehlung der DGAI zum Umgang mit Tourniquets entwickelt; der Evaluationsbogen entstand in Zusammenarbeit mit der Abteilung X des Bundeswehrkrankenhauses Ulm. Um einen einheitlichen Qualitätsstandard zu gewährleisten, wurde das Ausbildungskonzept in einer Telefonkonferenz mit allen ausbildenden SanOA besprochen und verbleibende Fragen einheitlich beantwortet. Die zur Bewertung genutzten Likert-Skalen (1 = „trifft gar nicht zu“ bis 6 = „trifft voll zu“) zur prä- und post-interventionellen subjektiven Handlungssicherheit wurden deskriptiv und mithilfe des Vorzeichen-Rang-Tests quantitativ ausgewertet (Signifikanz a = 0.05). Der kognitive Wissenstest prä- und post-interventionell wurde per t-Test für verbundene Stichproben quantitativ ausgewertet. Das Feedback zur Ausbildung erfolgte mit Likert-Skalen (1 = „trifft gar nicht zu“ bis 6 = „trifft voll zu“). Es konnten Freitextkommentare hinzugefügt werden.

Abb. 3: Maximierung des Lerneffekts durch Palpation der A. dorsalis pedis als Erfolgskontrolle nach der Anlage eines TQ am Oberschenkel

Abb. 4: Die Anwendung von Tourniquet (oben) und Emergency Bandage (unten) wurde von den Teilnehmenden trainiert.

Ergebnisse

An insgesamt 12 Standorten nahmen 174 Teilnehmende an der Ausbildung teil; von diesen konnten 125 (9 Standorte) in die Auswertung eingeschlossen werden. Der Altersdurchschnitt lag bei 26,5 Jahren und 39 % der Teilnehmenden hatten keinen medizinischen Hintergrund. 29 % hatten Vorerfahrung mit Blutstillung, 11 % mit TQ und 6 % mit EB, die oft aber sehr rudimentär war.

Das Ergebnis des Wissenstests verbesserte sich hochsignifikant (<.001) von durchschnittlich 2,85 (SD 1,121) auf 4,02 (SD 0,971) erreichte Punkte. Alle Aspekte der subjektiven Handlungssicherheit in Bezug auf

wurden post-interventionell hochsignifikant höher bewertet als vor der Ausbildung (alle p <.001). Die Ergebnisse sind in den Tabellen 1 und 2 zusammengefasst.

Tab. 1: Ergebnisse des Wissenstests

 

Tab. 2: Bewertung der subjektiven Handlungssicherheit durch die Teilnehmenden.

Das Feedback zur Ausbildung war durchweg positiv und die Sinnhaftigkeit einer Ausbildung der breiten Bevölkerung wurde ausdrücklich unterstützt.

Diskussion

Durchführung und Evaluation dieses Pilotprojektes erbrachten Ergebnisse zu vielfältigen Aspekten.

Inhaltlich konnte der Stand der internationalen Literatur, der einen Ausbildungserfolg auch bei Menschen ohne medizinischen Hintergrund aufzeigt, bestätigt werden; sowohl das Ergebnis des kognitiven Wissenstests als auch die subjektive Handlungssicherheit im Umgang mit TQ und EB konnten durch die Ausbildung signifikant gesteigert werden. Dies zeigte sich sowohl für die Teilnehmenden mit als auch ohne medizinische Vorausbildung, wie beispielsweise auch durch JACOBS et al. gezeigt wurde [6].

Methodisch zeigte sich, dass die Teilnehmenden die Ausbildung unabhängig vom beruflichen Hintergrund als Gewinn empfanden und die Einführung in Ausbildungskonzepte für die Bevölkerung unterstützten. Der Zeitansatz wurde als ausreichend und die Möglichkeit zur kostenlosen Teilnahme als positiv empfunden. In zukünftige Ausbildungskonzepte sollte eine visuelle Darstellung von kritischen Blutungen integriert werden, um die sicherere Indikationsstellung zu ermöglichen.

Nicht zuletzt konnten wir zeigen, dass trotz pandemiebedingter Auflagen die Durchführung dezentraler Veranstaltungen möglich ist, die sowohl als reines Ausbildungsvorhaben als auch zur Förderung der Kameradschaft der SanOA dient.

Ausblick

Eine Fortführung dieses Pilotprojekts im Rahmen eines mixed-methods Ansatzes zur Erforschung der Relevanz von Tourniquets im zivilen Umfeld wird angestrebt. Hier sollten vor allem die Fragen der suffizienten TQ-Anlage durch Laien, deren Wissensretention und das ideale Ausbildungsformat Schwerpunkte sein. Besonders im Hinblick auf den Einsatz der Trauma-Box, die auch vollkommen ungeübten Helfern die Möglichkeit zur Erstversorgung bietet, muss eine effiziente „Point-of-Care-Ausbildung“ entwickelt und evaluiert werden. Die Methodik hierfür kann auf den Erfahrungen dieser Untersuchung aufbauen.

Literatur

  1. American College of Surgeons: Stop the bleed. , letzter Aufruf 4. Dezember 2020. mehr lesen
  2. American College of Surgeons: Strategies to Enhance Survival in Active Shooter and Intentional Mass Casualty Events: A Compendium. Chicago: ACS 2015. mehr lesen
  3. Butler FK, Jr., Hagmann J, Butler EG. Tactical combat casualty care in special operations. Military medicine 1996; 161(Suppl.1) : 3-16. mehr lesen
  4. DGU: Gemeinsame Pressemitteilung von DGU und DGAI zur Ausstattung von Rettungswagen mit Torniquets, 18. Januar 2017. , letzter Aufruf 4. Dezember 2020. mehr lesen
  5. Hossfeld B LR, Josse F, Bernhard M, Walcher F, Helm M, Kulla M: Prähospitale Anwendung von Tourniquets bei lebensbedrohlichen Extremitätenblutungen. Eine systematische Übersichtsarbeit. Unfallchirurg 2018; 121(7): 516-529. mehr lesen
  6. Jacobs LM, Burns KJ. Tourniquet application training for individuals with and without a medical background in a hospital setting. Trauma Acute Care Surg 2015; 78: 442-445. mehr lesen

 

Für die Verfasser

Leutnant SanOA Katja Schneider

Bundeswehrkankenhaus Berlin

Klinik II – Allgemein- und Viszeralchirurgie

Scharnhorststr. 12, 10115 Berlin

E-Mail: katja.schneider@charite.de

 

Vortrag beim 51. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehpharmazie e. V. (23.-24. Oktober 2020, Rostock-Warnemünde)