Wehrmedizinische Monatsschrift

Neue, körperorientierte Selbsthilfetechniken in der Traumatherapie: Klopfen, Hören, Schauen, Schütteln (Vortrags-Abstract)

Hildegard Nibel a, Andreas Herold b

a HR Risk Management, Zürich

b A. Herold, Praxis für Psychotherapie, Zürich

 

Einleitung

In den letzten Jahren wurden die Grenzen sprachlich orientierter Psychotherapie immer deutlicher. Gleichzeitig wurden verschiedenste Therapietechniken entwickelt, die durch das Einbeziehen körperlicher Erfahrungen, insbesondere in der Traumatherapie, bisher scheinbar nicht mögliche Verbesserungen in der Lebensqualität bei „therapieresistenten“ PatientInnen erreichen konnten. Aus der Vielzahl praktischer Ansätze werden vier Verfahren vorgestellt, die auf sensomotorischer, visueller oder akustischer Stimulation beruhen, und die durch ihre einfache Eleganz, leichte Verfügbarkeit und unmittelbare Wirkung bestechen.

Klopftechniken

Der Elektroingenieur GARY CRAIG hat die magisch anmutende Thought Field Therapie TFT von ROGER CALLAHAN entmystifiziert und eine „One size fits all“-Prozedur entwickelt, die „Emotional Freedom Technique“ [3]. Kernelemente des EFT sind, das Problem möglichst genau in einem Satz zu beschreiben und dann zwölf Körperstellen auf den Meridianlinien mit den Fingern zu beklopfen, bis die subjektiv empfundene Belastung durch das Problem auf einer Skala von 0-10 auf unter zwei Skalenpunkte abgefallen ist.

Studien aus den letzten 20 Jahren wurden in Meta-Analysen aufbereitet. Die stärkste Evidenz der EFT liegt für Angststörungen vor, mit einer Effektstärke1 von 1,23. Im Vergleich zum bisherigen Goldstandard – der kognitiven Verhaltenstherapie – wirkt EFT schneller, d. h es sind weniger Therapiesitzungen notwendig und es kommt seltener zu Therapieabbrüchen. Die Therapieeffekte werden nach Abschluss der Therapie sogar noch etwas grösser.

Die Evidenz bei Depressionen und PTBS ist wegen der geringeren Anzahl von Studien bisher noch nicht so stark, mit Effektstärken zwischen 1,3 und 2,9. In der Schmerztherapie sind die Ergebnisse– angesichts der schwierigen Behandelbarkeit von chronischen Schmerzsyndromen wie frozen shoulder oder Fibromyalgie – vielversprechend.

Theoretisch können die Klopftechniken als Exposition in vitro, verbunden mit Selbstberührung verstanden ­werden, bei der u. a. auch Oxytocin ausgeschüttet wird [5][6].

Brainspotting

DAVID GRAND hat die etablierte Traumatherapietechnik Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) mit dem Somatic Experiencing und dem Focussing kombiniert [4]. Augenpositionen werden genutzt, um die Aversivität emotionaler Zustände zu reduzieren. Der grosse Vorteil dieses Verfahren ist, dass (lebens-)bedrohende Situationen nicht aktiv erinnert werden müssen, sondern nur mehr oder weniger unangenehme Körperempfindungen. Die Therapie besteht darin, so lange auf dem Punkt im Gesichtsfeld zu verbleiben, dem sog. Brainspot, bis die unangenehmen Körperempfindungen deutlich reduziert sind.

Den Praxistest nach einem Amoklauf an einer Grundschule in den USA hat die Methode bestanden: sie war den meisten anderen Therapietechniken überlegen, darunter auch EMDR, EFT oder kognitiver Verhaltenstherapie. In einer spanischen RCT-Studie zu Angststörungen war Brainspotting gleich gut wie EMDR und kognitive Verhaltenstherapie.

CORRIGAN und GRAND haben ein sehr differenziertes neuroanatomisches Modell entwickelt, um die Wirkung der Technik zu erklären (Abbildung 1). Sie gehen davon aus, dass all unser menschliches Verhalten auf den zwei Orientierungsreaktionen Annäherung oder Abwendung beruht, und bei psychischen Störungen diese Orientierungsreaktion eingeschränkt ist. Diese vollständige Verarbeitung wird durch Brainspotting im Colliculus superior stimuliert, wo auf den drei oberen Schichten vor allem visuelle und blickmotorische Reize ankommen und auch sensorische Reize aller anderen primären Projektionsareale, die in den nächsten beiden Schichten verarbeitet und integriert, und in den letzten beiden Schichten in motorische Reaktionen umgesetzt werden [4].

Abb. 1: Neuroanatomisches Modell zur Wirkweise des Brainspotting von GRAND und CORRIGAN (nach [4])

SSP – Save  and Sound Protocol

Ähnlich durch die Polyvagal-Theorie akribisch fundiert ist auch diese Therapieform mit gefilterter Musik, die ursprünglich für aufmerksamkeitsgestörte und autistische Kinder entwickelt wurde. Im Mittelohr besitzen Menschen – wie auch alle Säugetiere – einen winzigen gestreiften Muskel, den Musculus stapedius, der sich anspannt, wenn Laute im Frequenzbereich der Stimme der jeweiligen Spezies ans Ohr dringen. Die Standardintervention besteht aus dem Hören von Musikstücken, eine Stunde täglich während einer Woche, bei denen der Frequenzbereich zwischen 500-4 000 Hz verstärkt wurde. So wird der ventrale Vagus aktiviert, der subjektiv mit positiven Emotionen wie Sicherheit und Geborgenheit verbunden ist. Die Therapieeffekte sind bisher kaum grösser als beim Hören ungefilterter Musik.

Unseres Erachtens läge viel Therapiepotential in der Methode, wenn sich die PatientInnen die Musikstücke selber aussuchen könnten (vgl. [7]). Auch scheint die nur fünfmalige Anwendung nicht ausreichend zu sein.

Abb. 2: Rückgang von Schmerzen nach regelmäßiger TRE-Anwendung über 6-12 Monate

TRE – Tension and Trauma Release Exercises

BERCELI ist in seinem Verzicht auf Sprache als therapeutisches Werkzeug noch einen Schritt weiter gegangen und hat eine Serie von sieben Körperübungen entwickelt, die von der Peripherie zur Körpermitte systematisch Muskeln und Bindegewebe stimulieren [1][2]. Kern seiner Traumatherapie ist die Annahme, dass Säugetiere bei Lebensbedrohung ihren Psoasmuskel anspannen, um ihre inneren Organe zu schützen. Ziel der sieben TRE-Übungen ist es, diesen Psoasmuskel so weit zu entspannen, dass eine Zitterreaktion entstehen kann, um Stressreaktionen im Körper aufzulösen.

Die bisherigen Ergebnisse sind ermutigend. Bei verschiedenen Stichproben führt TRE nach sechs bis zwölf Monaten zu einer deutlichen Reduktion von psychosomatischen Symptomen im Vergleich zu repräsentativen Stichproben, um zwei bis drei auf einer Liste mit 25 Symptomen. Insbesondere Schmerzen in Beinen und Füssen nehmen ab; Magenbeschwerden, Schlafstörungen, Müdigkeit und Erschöpfung bessern sich. Darüber hinaus sinkt die Inanspruchnahme von Therapien markant, ebenso der Übergebrauch psychotroper Substanzen.

Da die Übungen sehr einfach und schnell zu lernen sind und fast überall eingesetzt werden können, sind sie besonders geeignet für Menschen, die viel unterwegs sind oder an Einzelarbeitsplätzen, wo verschiedene berufliche Belastungsfaktoren kumulieren und soziale Netzwerke zur Kompensation fehlen. Die Übungen müssen weder besonders konzentriert noch besonders korrekt oder schön ausgeführt werden. Wichtig allein ist, die Zitterreaktion auszulösen. So wird eine körperliche Reaktion, die bisher eher mit Angst und Scham verbunden war, zur perfekten Entspannungstechnik.

Fazit

Die vorgestellten körperorientierten nonverbalen Therapien sind sowohl für Patienten und Patientinnen als auch für die Behandelnden deutlich schonender als das aktive Erinnern an (lebens-)bedrohende Situationen und deren erneutes Durchleben. Aber auch wenn diese Verfahren scheinbar einfach zu erlernen sind und eine schnelle Reduktion belastender Symptome schon in der ersten Therapiesitzung erreicht werden kann, sei doch vor übergroßen Erwartungen und damit vorprogrammierten Enttäuschungen gewarnt: Auch diese scheinbar einfachen Therapietechniken brauchen einige Erfahrung und Geduld, um die schnellen Anfangserfolge zu sichern, z. B. nach Unfällen oder belastenden Auslandsaufenthalten.

Das grössere Potenzial dieser Verfahren liegt im präventiven Einsatz: Soldatinnen und Soldaten sollten diese Selbsthilfeverfahren bereits während ihrer Ausbildung als Werkzeuge mitgegeben werden, um ihre körperlich und seelisch belastende Arbeit gelassener und souveräner angehen zu können und nach schwierigen Arbeitssituationen schneller wieder zu ihrer optimalen Leistungsfähigkeit zurückzufinden.

Literatur

  1. Berceli D: Shake It Off Naturally. Phoenix, Arizona 2015: TTRE Inc. mehr lesen
  2. Berceli D, Salmon M, Bonifas M, Ndefo N: Effects of Self-induced Unclassified Therapeutic Tremors on Quality of Life Among Non-professional Caregivers: A Pilot Study. Glob Adv Health Med 2014; 3(5): 45–48. mehr lesen
  3. Craig G: Emotional Freedom Techniques. , letzter Aufruf 7. Dezember 2020. mehr lesen
  4. Grand D: Brainspotting. Wie Sie Probleme, Traumata und emotionale Belastungen gezielt auflösen. Kirchzarten: VAK Verlags GmbH 2014.
  5. Grunwald M: Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München: Droemer Knaur 2017.
  6. Grunwald: Neurobiologische Funktionen von Selbst- und Fremdberührungen. Vortrag auf dem internationalen Kongress "Reden reicht nicht" der Carl-Auer-Akademie (et al.) in Heidelberg, 2.-5. Mai 2014.
  7. Kölsch S: Good vibrations. Über die heilende Kraft der Musik. München: Droemer Knaur 2018.
  8. Kozlowska K, Walker P, McLean L, Carrive P: Fear and the Defense Cascade: Clinical Implications and Management. Harv Rev of Psychiatry 2015; 23(4): 263–287. mehr lesen
  9. Nibel H, Fischer K: Neurogenes Zittern. Stuttgart: trias/Thieme 2020.
  10. Nöllenheidt C, Wittig P, Brenscheidt S: Grundauswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2012. Vergleich zur Grundauswertung 2006. Dortmund/ Berlin/Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2014. mehr lesen
  11. Porges S:  Connectedness as a biological imperative: Understanding trauma through the lens of the Polyvagal Theory. Vorkongress "Reden reicht nicht" der Carl-Auer-Akademie (et al.) in Heidelberg, 25. Mai 2016.
  12. Shapiro F, Forest MS: EMDR: The Breakthrough Therapy for Overcoming Anxiety, Stress, and Trauma. New York, NY : BasicBooks 1997.
  13. van den Hout MA, Bartelski N, Engelhard I M: On EMDR: Eye movements during retrieval reduce subjective vividness and objective memory accessibility during future recall. Cognition and Emotion 2013; 27(1): 177-183. mehr lesen

 

Für die Verfasser
Dr. Hildegard Nibel
HR Risk Management
Hadlaub 150, CH-8006 Zürich
E-Mail: nibel@hrrisk.ch

Plenarvortrag beim 51. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehpharmazie e. V. (23.-24. Oktober 2020, Rostock-Warnemünde)


1 Die „Effektstärke d“ von JACOB COHEN (Mittelwertdifferenz : Standardabweichung) gibt an, wie stark sich eine Interventionsgruppe nach einer Intervention von einer Kontrollgruppe unterscheidet.