Wehrmedizinische Monatsschrift

HISTORISCHE KASUISTIK

„Geisteskrankheit“, Syphilis oder Substanzabhängigkeit?
Befunde eines deutschen Militärarztes und seiner Kollegen
im 19. Jahrhundert

Oliver Corff1

1 Dr. phil. Oliver Corff ist Sinologe, Wirtschaftsberater und Dolmetscher bei hochrangigen deutsch-chinesischen Konsultationen. In dieser Funktion ist er u. a. langjährig für den Sanitätsdienst der Bundeswehr tätig.

 

Einführung

Ärztliche Aufzeichnungen über Patienten, die im 19. Jahrhundert im Ausland (hier China) erkrankten und bei denen der Erkrankungsverlauf umfassend dokumentiert wurde, sind selten. Im hier vorgestellten Fall konnte auf umfangreiche Unterlagen zu einem Patienten, der im Jahre 1876 in Shanghai erkrankte und auf der Überfahrt nach Deutschland ein auffälliges neurologisch-psychiatrisches Krankheitsbild zeigte, zurückgegriffen werden. Die Falldarstellung soll einen Einblick in die damalige Therapie durch im Ausland tätige Ärzte geben.

Eine umfassende Darstellung einschließlich der Wiedergabe von Transkripten in diesem Kurzbeitrag nur erwähnter Dokumente findet sich zum Download bei der E-Paper-­Version dieses Artikels.

Der Fall

Im Juni 1876 reiste ein Patient (im Folgenden H. genannt) wegen „ernsthafter Erkrankung“, von Shanghai kommend, über Hongkong und Singapore nach Deutschland. Auf der Überfahrt von Hongkong nach Singapore erlitt er einen heftigen Tobsuchtsanfall, in dessen Folge sich mehrere Ärzte mit seinem Zustand befassten.

Es sind zwei britische Ärzte, nämlich der Arzt der Royal Navy, Staff Surgeon Bradly, und Surgeon John Barren, sowie zwei deutsche Ärzte, Dr. Zachariae in Shanghai, als Konsulatsarzt unterzeichnend, und Dr. Ch. Trebing in Singapore, Reservearzt z. D. des 82sten Infanterie-Regiments, Hessen-Nassau, der seit 1874 in Singapore ansässig war [2]. Aus der Feder dieser Ärzte sind Arztbriefe unterschiedlicher Detailfülle und Verordnungen von Medikamenten im Original enthalten, darüber hinaus liegt der Bordbucheintrag der britischen Ärzte in Abschrift bzw. als Gedächtnisprotokoll vor.

Zur Person des Patienten

H. war studierter Sprachwissenschaftler und arbeitete zur Zeit seiner Erkrankung als Chinesisch-Dolmetscher am Kaiserlichen Generalkonsulat in Shanghai. Er wurde 1836 geboren und schloss sein Studium asiatischer Sprachen in Göttingen 1861 ab. Nach einigen Jahren, in denen er sich als Privatlehrer verdingte, trat er 1865 in den Dienst des preußischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten, zunächst als Dolmetscher-Eleve, und wurde zur weiteren Sprachausbildung nach Peking versetzt.

Seine Vorgesetzten äußerten sich absolut wohlwollend über seinen Arbeitseinsatz („… H. hat sich außerordentlich fleißig mit Erlernung der chinesischen Sprache beschäftigt und gute Fortschritte gemacht.“). Mit Anordnung vom 2. August 1867 wurde er an das Konsulat Shanghai versetzt, wo er schließlich am 14. Juni 1873 seinen Diensteid leistete und offiziell zum Dolmetscher des Auswärtigen Amtes ernannt wurde. Bereits vorher, nämlich am 4. Januar 1873, hatte man ihm auch die Gerichtsbarkeit bis zum Eintreffen des Konsuls übertragen [AZII37576] 1 .

Seine aktive Dienstzeit in China dauerte bis zum Frühsommer 1876, war aber mehrfach von Urlauben zwecks Erholung und Genesung von nicht näher präzisierten Krankheiten unterbrochen. Ihm war am 24. März 1876 erneut Urlaub gewährt worden, den er am 20. Mai 1876 antrat. Auf den ersten Abschnitten seiner Rückreise nach Deutschland verschlechterte sich sein Gesundheitszustand so dramatisch, dass eine Gefährdung seiner selbst und anderer nicht mehr ausgeschlossen werden konnte. Er wurde an Bord fixiert und in Singapore dem dortigen deutschen Konsul Dr. E. Bieber übergeben. Ferner verweigerte der Kapitän des Schiffes seine Weiterreise, zumal mehrere Passagiere androhten, die Reise nicht fortzusetzen, sollte H. wieder an Bord kommen.

Nach etwa einmonatiger Behandlung in Singapore konnte er seine Reise fortsetzen und erreichte über die Stationen London und Hamburg Ende August 1876 schließlich Halberstadt, wo er seinen Urlaub antrat. In einem Schreiben an das Auswärtige Amt berichtete er von der aufgrund des Aufenthaltes in Singapore verspäteten Ankunft und der Besserung seines Gesundheitszustandes [AZII31062], schloss aber unter Berufung auf ärztliche Anordnung kategorisch aus, wieder in China beschäftigt zu werden; in späteren Schreiben bat er um Versorgung mit Übersetzungsarbeiten, um dennoch dem Amt weiterhin dienlich sein zu können.

Dokumentenlage

Da H. regulärer Beamter des Auswärtigen Amtes war, wurde über ihn eine Personalakte geführt (PA AA P1–6051), die erhalten ist. Eckdaten seiner Vita sind außerdem im „Biographischen Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945“ festgehalten [1]. Sämtliche hier vorgestellten Unterlagen, die unmittelbar die Krankheitsgeschichte H.s betreffen, fanden sich in einem kleinen Briefumschlag, der außen mit dem Vermerk „9 Anlagen ad 29373/76“ als Anlage eines anderen Schriftstückes gekennzeichnet war. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelt es sich hierbei um den Umschlag, den der in Singapore stationierte Konsul E. Bieber, zusammen mit einer Abrechnung der entstandenen Kosten, am 15. Juli 1876 via London an das Auswärtige Amt geschickt hatte. Dessen Schreiben trägt den Betreff: „Betrifft die Heimreise des geisteskranken Dollmetschers K. H.“.

Von London aus wurde der Umschlag am 21. August 1876 weiter nach Deutschland geschickt und im Amt unter dem Aktenzeichen II/29373 abgelegt; hierauf bezieht sich der Vermerk auf dem Umschlag. Im Begleitschreiben dazu beschreibt der Absender, Generalkonsul V. von Bojanowski, den Inhalt des Umschlages noch einmal detailliert.

Der Umschlag enthält u. a.:

Die für den Fall bedeutsamen Dokumente sind als Faksimiles und Transkripte Bestandteil der E-Paper-Version dieses Beitrags.

Anamnese und Befund

Die einzigen therapeutischen Interventionen, die aus den vorgefundenen Unterlagen hervorgehen, sind die Verordnungen Dr. Trebings der in Singapore ansässigen Praxisgemeinschaft Keyser und Trebing. Dr. Ch. Trebing war spätestens seit 1874 in Singapore ansässig und unterhielt seine Praxis anfangs im gleichen Hotel, in dem auch H. abstieg, dem Hotel de l’Europe (Rechnungsbeleg im genannten Umschlag).

Wenn man alle verfügbaren Informationen um das zentrale aktenkundige Ereignis, nämlich den vom britischen Schiffsarzt festgehaltenen „furor maniacus“, herum gruppiert und sich die Perspektive des befundenden Arztes aneignet, so fließen nur die Äußerungen, die der Patient gegenüber Dr. Trebing macht, in die Eigen­anamnese ein; möglicherweise lagen nicht alle weiteren Informationen, die heute bekannt sind, dem behandelnden Arzt vor.

Vorgeschichte

Der erste Hinweis auf H.s angegriffenen Gesundheitszustand stammt vom 10. Dezember 1870. In den Akten des AA heißt es:

Dem Dolmetscher Himly in Shanghai wird zur Herstellung seiner Gesundheit ein sechsmonatlicher Urlaub, unter Behaltung seines Gehalts, bewilligt. [AZII/28919–19]

Möglicherweise geht bereits die Urlaubsempfehlung vom Dezember 1870 auf Dr. Zachariae, den Shanghaier Konsulatsarzt, zurück, denn dieser berichtet am 10. Juni 1876, dass ihm der Patient seit 1870 bekannt sei (Anlage 4). Im Jahr 1873 befundet Dr. Zachariae bei H. „hochgradige[r] Dyspepsie, verbunden mit Schlaflosigkeit und paralytischen Erscheinungen“. Nach einem Kuraufenthalt von etwa zwei Monaten in Chefoo (dem heutigen Yantai, einer Küstenstadt im Norden der Provinz Shandong) kehrte er laut Arztbericht vollständig gesund nach Shanghai zurück. Aus dem Amt wird jedoch am 1. November des Jahres besorgt nachgefragt, ob mit der vollständigen Wiederherstellung von H.s Gesundheit zu rechnen sei [AZII32022]; alternativ könne eine Stationierung am Konsulat Foochow erwogen werden. Dazu kam es allerdings nicht.

Weiter führt Dr. Zachariae aus:

Anfang dieses Jahres 1876 […] stellte sich wieder die alte Schlaflosigkeit ein und weitere Anzeichen, welche auf ein sehr zerrüttetes Nervensystem schließen ließen.

Der Arzt empfiehlt Urlaub, der am 24. März 1876 gewährt wird [AZadII10621].

H. tritt diesen Urlaub am 20. Mai an. Offensichtlich muss er bereits auf den ersten Abschnitten der Passage unter einem angegriffenen Allgemeinzustand gelitten haben. In Hongkong hat er sich vier Tage aufgehalten, denn der Bordarzt der LOMBARDY teilt mit, dass ...

... der Kranke in Hongkong, wenige Minuten vor Abgang des Dampfers, in Begleitung eines gewissen Dr. Gerlach 2 an Bord erschienen, und von letzterem seiner speziellen Fürsorge empfohlen worden sei. Leider habe er in der Eile von dem deutschen Arzte nichts Genaueres über den Zustand des Kranken erfahren können. Die von ihm an den Dr. Gerlach gerichtete Frage, ob Himly etwa geisteskrank, sei verneinend, jedoch mit dem Bemerken beantwortet worden, daß auch er, der Dr. Gerlach, den Kranken nur 4 Tage unter seiner Behandlung gehabt habe.

Das Zitat ist einem Schreiben von Konsul Bieber in Singapore entnommen (Anlage 1).

Während der ersten Tage der Passage nach Singapore sei H. noch unauffällig gewesen, aber ab dem sechsten Tage habe er Tobsuchtsanfälle bekommen und Mitreisende angegriffen, woraufhin der Kapitän seine Fixierung und die Durchsuchung der Kabine nach gefährlichen Gegenständen anordnete.

Im Bordbuch der Lombardy (Anlage 2) wird am 7. Juni 1876 eingetragen:

June 7th 76. Latd. 9,07 N.

Longd. 108,08 E.

Mr. K. Hamly [ sic!], a German passenger (1st class) having shown signs of homicidal Mania due to softening of the brain, was this day placed under restraint, at the request of the Surgeon after consultation with Dr. Bradley, of H. M. S. “Lilley”; His effects having been duly searched for cutting or other weapons.

(sd) E. M. Gillson, Master.

(sd) John Barren, Surgeon.

(sd) Bradley, Staff Surgeon, R. N.

H. wird in Singapore die Weiterreise verweigert, er wird am 9. Juni 1876 dem deutschen Konsul Dr. E. Bieber übergeben. Konsul Bieber kontaktiert sofort Shanghai, holt Erkundigungen beim Shanghaier Arzt Dr. Zachariae ein und gibt den Patienten in die Behandlung von Dr. Trebing. Darüber hinaus veranlasst er alle erforderlichen Schritte für seine Heimreise und trifft Vorkehrungen, damit H. nicht unterwegs noch die Reisepläne ändert. (Der kurze Arztbrief des Schiffsarztes, Surgeon Barren, vom 9. Juni 1876 ist in der Anlage 6 enthalten.)

Mit der Begutachtung des Patienten H. durch Dr. Trebing liegt zum ersten Mal ein ausführlicher Befund in engem zeitlichem Zusammenhang mit H.s Krankheitsgeschehen vor.

Anamnese und Befund durch Dr. Trebing

Dr. Trebing, dem H. unmittelbar nach seiner Ankunft in Singapore vorgestellt wurde, verfasst einen umfangreichen Arztbrief, in dem er sowohl seine Beobachtungen notiert als auch Angaben zur Anamnese macht und die Angaben des Patienten ausführlich in indirekter Rede festhält (Anlage 6). Als klinische Zeichen stellt er umfangreiche Effloreszenzen („Stirn, Gesicht, behaarte Kopfschwarte sind der Sitz zahlloser kleiner Furunkel“) sowie eine „Psoriasis syphilitica“ im rechten Handteller fest. Im Zusammenhang mit einer früheren Syphilis-Erkrankung hält er in der Anamnese fest, dass der Patient bereits vor zwei Jahren an einer temporären linksseitigen Lähmung gelitten hatte, die nach Ortswechsel und der Gabe von Jod-Kali rasch verschwunden sei. Weiterhin notiert er, dass der Patient schon seit längerem an „ungemeiner Schlaflosigkeit“ gelitten habe und bereits an hohe Gaben von Chloralhydrat gewöhnt gewesen sei, nachdem Opiate nicht mehr wirkten.

Das halluzinatorische Wahngebäude H.s wird sehr genau festgehalten (Gefühl der Verfolgung, der Tötung auf verschiedene Weise usw.; siehe auch Transkript des Arztbriefes in der Anlage 6). Die Angaben sind vermutlich nicht während einer einzigen Sitzung gesammelt worden, denn Dr. Trebing stellt insgesamt 36 Konsultationen in Rechnung, d. h. täglich mindestens eine, wenn nicht sogar zwei, für die Dauer des Aufenthaltes von einem Monat.

Intervention

Aus dem Arztbrief geht nicht hervor, wie die Therapieempfehlung begründet wird; dies kann nur aus der Verordnung erschlossen werden.

Verordnet wurden u. a. Bleizucker (Blei(II)-acetat), Chloralhydrat, Chloroform, Abführmittel und Ammoniak, wobei die Menge jeweils zwischen 1,5 und 2 Unzen betrug. Abbildung 1 gibt Aufschluss über die verordneten und aus dem Bestand der Ärzte abgegebenen Mengen.

Abb. 1: Rechnung der Ärzte Kaiser und Trebing vom 9. Juli 1876; die Gewichtsangaben sind in Unzen erfolgt.

Abb. 2: Rechnung über 30 Unzen Chloralhydrat-Sirup, The Colonial Dispensary, Singapore, vom 14. Juli 1876

Die Substanzen wurden im 19. Jahrhundert mit folgenden Indikationen eingesetzt:

Weiterer Verlauf

H. trat am 9. Juli 1876 die Rückreise nach Deutschland an; zu geplanten Reiseunterbrechungen kam es nicht mehr, wie aus der ihn begleitenden Korrespondenz (siehe Schreiben von Konsul Cordes, Hongkong, vom 22. Juni 1876) wie auch aus seinem Schreiben an das Amt nach Ankunft in Deutschland geschlossen werden kann (Anlage 7). In Deutschland stellt er eine Besserung seines Befindens fest, sieht sich aber nicht in der Lage, wieder einen Dienstposten in China einzunehmen. Er wird daraufhin im folgenden Jahr frühpensioniert und muss sich mit einer gekürzten Pension begnügen, die auf 32/80 oder 40 % seiner letzten Bezüge von 4 500 Mark, also 1 800 Mark, festgesetzt worden war. Er blieb weiterhin kränklich, jedoch ist kein dem aktenkundigen Tobsuchtsanfall vergleichbares erneutes Krankheitsgeschehen bekannt. Im Sommer 1904 starb er an Lungenentzündung.

Ungeachtet seiner gesundheitlichen Einschränkungen blieb H. bis in die letzten Jahre seines Lebens wissenschaftlich produktiv und verfasste noch bis 1901 regelmäßig akribisch recherchierte Arbeiten, darunter eine siebenteilige unvollendete sprachwissenschaftlich-ethnologische Aufsatzserie im Umfang von rund 140 Seiten, die auch heute noch wissenschaftlichen Wert hat, sowie eine sprachwissenschaftliche Monographie von ca. 130 Seiten Umfang [5;6]; außerdem diverse Zeitungsbeiträge sowie als letztes nachweisbares Werk im Jahr 1901 einen Aufsatz über die Rechtspflege in China, für den er auf seine im konsularischen Dienst erworbenen Kenntnisse zurückgreifen konnte. 3

Abb. 3: Sheung-mun-tai Street in Canton, ca. 1870; es sind mindestens drei Werbetafeln mit Werbung für Opiumentzugspillen zu sehen. (Foto: Wikimedia.commons: A. Chan)

Bewertung

Aus der Aktenlage ergibt sich eine über mindestens sechs Jahre dokumentierte Krankengeschichte mit fulminanten Auswirkungen auf das Wohl des Patienten, seine Arbeitsfähigkeit im Dienst allgemein und seine Auslandsverwendungsfähigkeit im Besonderen.

H. litt möglicherweise nicht an einer, sondern an mehreren Krankheiten. Zunächst wird eine Syphilis festgehalten, die zu H.s Zeit noch als chronische, d. h. nicht heilbare Infektionskrankheit galt [8][S.664ff]. Gleichzeitig war der Opiatkonsum H.s zumindest dem letzten befun­denden Arzt bekannt; die Verstopfung, gegen die Abführmittel verordnet wurden, kann direkt auf den Opiatkonsum zurückgeführt werden.

Die von H. über Jahre geklagte Schlaflosigkeit und der damit einhergehende reduzierte Allgemeinzustand können Folge des Opiatabusus sein, ebenso die Persönlichkeitsveränderungen, die H. dem Arzt schildert; genauso ist aber denkbar, dass es sich um die Spätfolgen einer Syphilis handelt. Darüber hinaus ist es aber auch möglich, dass H. in seiner gesamten Persönlichkeitsstruktur den Herausforderungen eines mehrjährigen Auslandsaufenthaltes im subtropischen Shanghai nicht gewachsen war. So ist es durchaus denkbar, dass die Schlaflosigkeit auch durch die große Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit verursacht wurde. Hinweise in diese Richtung geben der Kuraufenthalt in Chefoo (dem heutigen Yantai) und der Hinweis auf Luftveränderung, ebenso H.s eigene Mitteilung an das Amt, dass es ihm in Deutschland wieder besser gehe. 4 Schließlich ist nichts über H.s Sexualleben bekannt, außer, dass er ein Leben lang unverheiratet war. Mögliche Hinweise auf autoerotische Praktiken ergeben sich aus den Schilderungen seines Wahngebäudes gegenüber Dr. Trebing (Anlage 6).

Die von Dr. Zachariae festgehaltene „hochgradige Dyspepsie“ war nach damals geltender medizinischer Lehrmeinung Begleiterscheinung „geschlechtliche[r] Ausschweifungen, namentlich durch Onanie, […] Kummer und Sorgen, durch angestrengtes Arbeiten, […], oder [tritt] in der Reconvalescenz von langwierigen und angreifenden Krankheiten auf“ [7][S.492ff] – auch dies kann als Hinweis auf Syphilis gelesen werden.

Ebenfalls im Kontext der Syphilis muss die Verdachtsdiagnose gesehen werden, die die britischen Schiffsärzte im Bordbuch der Lombardy mit den Worten „softening of the brain“ festgehalten haben (Anlage 3). Diese reflektiert eine Auffassung des Krankheitsgeschehens, wie sie exemplarisch nur wenige Jahre später in Folsoms Aufsatz beschrieben wird [3].

Neurolues oder Entzug?

Unter einem ganz anderen Licht erscheint hingegen der therapeutische Ansatz Dr. Trebings, der sich aus der zweiten Verordnung von 30(!) Unzen Chloralhydrat ergibt (Abbildung 2). Hier wird die Hypothese aufgestellt, dass H. nicht primär an Neurolues, sondern an Opiumabusus litt. Unter dieser Annahme wäre das Geschehen an Bord der Lombardy nicht der vermuteten Neurolues zuzuschreiben, sondern es handelte sich möglicherweise um ein Entzugsdelir, das sich einmalig aufgrund der langen Passage von Hongkong nach Singapore (gesamte Fahrtzeit damals ca. 10 Tage) einstellte. Wenn diese Annahme zutrifft, dann kann die massive Verordnung von Chloralhydrat als frühes Beispiel einer Substitutionstherapie betrachtet werden, die den primären Zweck hatte, den Patienten für den Rest der Überfahrt nach Europa zu stabilisieren.

Opiumabusus war im China des 19. Jahrhunderts eine alltägliche Erscheinung, die sich, im Gegensatz zum „harten“ Drogenmissbrauch heutzutage, nicht im Schatten der Gesellschaft abspielte. Auf einem zeitgenössischen Foto (1870) einer südchinesischen Einkaufsstraße sind mindestens drei Werbetafeln identifizierbar, die für „bewährte“ bzw. „berühmte“ Opiumentwöhnungspillen werben.

Eignung für den Dienst

Dem AA war der reduzierte Gesundheitszustand H.s zwar im Grundsatz über mehrere Jahre bekannt, allerdings wurde – nach Kenntnis der limitierten Aktenlage – wohl zu keinem Zeitpunkt ernsthaft eine Rückversetzung nach Berlin erwogen; nur eine Versetzung innerhalb Chinas wird angesprochen. Die Schwierigkeiten, von denen H. im Umgang mit seinen Kollegen berichtet, deuten zumindest daraufhin, dass H.s Persönlichkeitsstruktur für eine solche Arbeitsumgebung (Dienst auf Posten, der damals nur als „Härteposten“ gegolten haben kann, kleines muttersprachliches Umfeld) suboptimal geeignet war. H. war dennoch außerhalb der Dienststunden akademisch aktiv und betätigte sich u. a. als Bibliothekar der Asiatic Society in Shanghai [4].

Wenn auch die Syphilis heute ihren Schrecken verloren hat, so besteht die Problematik, die sich aus der Krankheitsgeschichte H.s ergibt, vor dem Hintergrund neuartiger, bisher nicht heilbarer Infektionskrankheiten noch immer. Wie lässt sich bereits vor der Auslandsverwendung im Rahmen des diplomatischen Dienstes oder von militärischen Einsatzkontingenten ermitteln, ob die Person die für den Einsatzort nötige Robustheit mitbringt? Die enge Wechselwirkung somatischer und psychischer Risikofaktoren bedingt, dass geistige Erschöpfung dem Ausbruch von Krankheiten Vorschub leistet, und dass Willenskraft und Durchhaltevermögen durch Krankheitsgeschehen wie Infektionskrankheiten so beeinträchtigt werden können, dass eine Dienstausübung nicht mehr möglich ist. Gleiches gilt für eine im Heimatland möglicherweise völlig unauffällige Disposition zu Suchtkrankheiten, die erst unter den erschwerenden Bedingungen eines langen Auslandseinsatzes und den ortsspezifischen Risikofaktoren zum Tragen kommt.

Der vorliegende Beitrag soll keine Antwort auf diese Fragen geben, sondern zeigen, dass Pathogen und Substanzen austauschbare Variablen sind, aber die Grundfrage, wie Schaden von Untergebenem und Dienstherr abgewendet werden kann, im 21. Jahrhundert genau so aktuell wie im 19. Jahrhundert ist.

Literatur

  1. Auswärtiges Amt – Historischer Dienst –. Maria Keipert und Peter Grupp(Hrsg): Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945. Bde. 2: G – K. Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh 2005.
  2. Bekanntmachung. Ch. Trebing, Arzt, Chirurg und Geburtshelfer […]“. 1874. The Straits Times. 29. August 1874. < https://eresources.nlb.gov.sg/newspapers/Digitised/Article/stoverland18740905–1.2.8.1?ST=1&AT=search&k=Trebing&QT=trebing&oref=article>, letzter Aufruf 9. April 2021.
  3. Cordier H: Karl Himly. T’oung Pao 1904; II (5): 624–625.
  4. Folsom CF: The Early Diagnosis of Progressive Paralysis of the Insane. Boston Medical and Surgical Journal June 16, 1881: 558–560.
  5. Himly K:Beiträge zur Geschichte des Schachspiels. Mit einer biobibliographischen Skizze. (Hrsg: Hartmut Walravens. Han-pao tung-ya shu-chi mu-lu 23). Hamburg: C. Bell Verlag 1984.
  6. Himly K: Die Abteilung der Spiele im „Spiegel der Mandschu-Sprache“ (Hrsg: Herausgegeben, eingeleitet und bearbeitet von Oliver Corff). München: iudicium Verlag, 2019.
  7. Niemeyer F v.: Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie mit besonderer Rücksicht auf Physiologie und pathologische Anatomie. Krankheiten der Digestions-Organe, der Leber und der Milz. Bd. Erster Band. Zweite Abtheilung. Berlin: Verlag von August Hirschwald 1859.
  8. Niemeyer F v: Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie mit besonderer Rücksicht auf Physiologie und pathologische Anatomie. Krankheiten der Haut, der Bewegungs-Organe und constitutionelle Krankheiten. Bd. Zweiter Band. Zweite Abtheilung. Berlin: Verlag von August Hirschwald 1861.
  9. Pwee T: The German Medicine Deity. Singapore’s Early Pharmacies. Biblioasia 2018; 14(3): 46–49. <https://biblioasia.nlb.gov.sg/past-issues/pdf/BiblioAsia%20Oct-Dec%202018.pdf.>, letzter Aufruf 9. April 2021.
  10. The Chronicle & Directory for China, Japan, & the Philippines, (with which is incorporated the „China Directory,“) for the Year 1879. Hongkong: Daily Press, 1879.

Dieser Beitrag ging aus einem Vortrag hervor, den der Autor am 23. Oktober 2020 auf dem 51. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. gehalten hatte. Besonderer Dank gebührt Prof. Dr. R. Vollmuth für zentrale Literaturhinweise sowie Dr. med. U. Petri und Dr. med. M. Becker-Ehm für ihre kritischen Fragen und Anmerkungen, mit denen sie die Entstehung dieses Textes begleitet haben.

Die E-Paper-Version des Beitrags enthält Faksimiles und Transkripte der ausgewerteten Originalquellen.

Manuskriptdaten

Zitierweise

Corff O: “Geisteskrankheit”, Syphilis oder Substanzabhängigkeit? Befunde eines deutschen Militärarztes und seiner Kollegen im 19. Jahrhundert. WMM 2021; 65(6): 252-257.

Verfasser

Dr. phil. Oliver Corff

China Consultant, Berlin

Adresse liegt der Redaktion vor

E-Mail: oliver.corff@email.de


1 AZ steht für Aktenzeichen, welches in der Registratur des Auswärtigen Amtes vergeben wurde.

2 Dr. C. Gerlach wird 1879 zusammen mit Dr. C. Clouth als Arzt des Kaiserlichen Deutschen Konsulates in Hongkong verzeichnet; weiterführende biographische Angaben zu Dr. Gerlach ließen sich nicht ermitteln.

3 WALRAVENS hat eine Reihe seiner Beiträge zum Schachspiel herausgegeben [5]; aus der Feder des Autors stammt eine Herausgabe der genannten Aufsatzserie [6]; beide Ausgaben enthalten ausführliche Bibliographien von H.s Arbeiten.

4 Die Spitzentemperatur beträgt in Shanghai im August bis zu 39,9 °C, die obere Durchschnittstemperatur 31,5 °C; in Chefoo/Yantai liegt die Durchschnittstemperatur im August bei 27,9 °C. Im August fallen in Shanghai im Durchschnitt 214 mm Regen, in Chefoo/Yantai nur 140 mm. Aus diesen Zahlen wird die Wahl von Yantai als Kurort unmittelbar deutlich.