Wehrmedizinische Monatsschrift

ORIGINALARBEIT

Primararzt Dr. Hans (Johann) Schneider – Sanitätsoffizier und Erstbeschreiber der heutigen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)

Dr. Hans (Johann) Schneider – Medical Officer and First Describer of Tick Born Encephalitis (TBE)

Mirko Langea, Lidia Chitimia-Doblera, Gerhard Doblera

a Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr

 

Zusammenfassung

Die FSME (Frühsommer-Meningoenzephalitis) ist die häufigste und wichtigste durch Zecken übertragene Virusinfektion in Europa und Asien. Die Geschichte der Entdeckung und Erstbeschreibung wurde bisher überwiegend den sowjetischen Forschern Zilber und Pawlowski zugeschrieben. Weniger bekannt ist, dass die klinische Erstbeschreibung der FSME bereits 1931 durch einen Internisten im niederösterreichischen Neunkirchen erfolgte, also sechs Jahre vor dem Erstnachweis des Virus im Fernen Osten der Sowjetunion (1937). Primararzt Dr. Hans Schneider kann mit Fug und Recht als Pionier der FSME-Erkrankung bezeichnet werden. Die FSME als Krankheit war in Österreich lange Jahre unter dem Namen „Schneider‘sche Krankheit“ bekannt. Dieser Beitrag stellt Primararzt Dr. Hans Schneider, insbesondere seinen medizinischen und militärischen Werdegang, sowie die Hintergründe der heutigen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) vor.

Schlüsselwörter: Hans Schneider, Schneider´sche Krankheit, Frühsommer-Meningoenzephalitis, FSME, Pecher

Summary

TBE (early summer meningoencephalitis) is the most common and important tick-borne viral infection in ­Europe and Asia. The story of its discovery and first description has been predominantly attributed to the Soviet researchers Zilber and Pavlovsky. It is less well known that the first clinical description of TBE was made as early as 1931 by a specialist for internal medicine in Neunkirchen, Lower Austria, six years before the virus was first detected in the Far East of the Soviet Union (1937). The head of the department of internal medicine, Dr. Hans Schneider, with good reason can be called a pioneer of TBE. TBE as a disease was known in Austria for many years under the name “Schneider’s disease”. This article reveals for the first time Dr. Hans Schneider’s life, in particular his medical and military career, as well as the background of today’s early summer meningoencephalitis (TBE).

Keywords: Hans Schneider, Schneider´sche Krankheit, tick-borne encephalitis, TBE

Kurzbiographie zur Person Dr. Hans Schneider

Abb. 1: Dr. Johann Schneider (1891 – 1954)
(Quelle: Niederösterreichische Ärztechronik – Geschichte der Medizin und der Mediziner Österreichs, Wien: Verlag Oskar Möbius GmbH 1990; S. 695 – 696: Nr. 20.)

Hans (Geburtsname Johann 1) Schneider wurde am 10. Dezember 1891 als Sohn des Kaufmannes Franz Schneider und seiner Gattin, der Kauffrau Josepha (geb. Prengel), im XV. Bezirk „Fünfhaus“ in Wien geboren. Die römisch-katholische Taufe erfolgte am 20. Dezember desselben Jahres durch den Geistlichen Johann Fiedler im Beisein der Hebamme Anna Glock in der Pfarre „Fünfhaus“ [8][24].

Im Alter von 30 Jahren ehelichte Schneider Frau Maria Novackova (geboren am 29. Juni 1899 in Jaromeritz, Mähren). Diese Ehe blieb vermutlich kinderlos und wurde rechtskräftig zum 7. Oktober 1947 geschieden. Am 20. Dezember 1952 heiratete Schneider in Neunkirchen N.Ö. die 88-Jährige Berta 2. Bereits zwei Jahre später, am 4. Dezember 1954, verstarb Dr. Hans Schneider im Alter von 63 Jahren im VIII. Bezirk in Wien vor Eintritt des Rentenalters. Die Todesursache ist unbekannt. Er wurde am 9. Dezember 1954 auf dem Friedhof Baumgarten (Gruppe J1, Grab 121) in Wien bestattet. Seine Frau Berta wurde am 29. Juni 1959, verstorben im Alter von 95 Jahren, in seinem Grab beigesetzt [21][24].

Die Grabstätte wurde im Jahr 1996 aufgegeben und das Grabrecht an eine andere Familie übertragen [6][8][24].

Schul- und Studienzeit

Aus den verfügbaren historischen Unterlagen ist zur Schulzeit nur bekannt, dass Hans Schneider bis 1911 das K. K. Carl Ludwig-Gymnasium im XII. Bezirk in Wien besuchte. Die schulische Ausbildung wurde mit dem Reifezeugnis erfolgreich abgeschlossen [2].

Direkt nach der Beendigung der Schulzeit schrieb sich Schneider im Alter von 19 Jahren zum Wintersemester 1911/12 für das Medizinstudium an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien ein. Zu dieser Zeit wohnte er immer noch im XV. Bezirk von Wien. Besonders interessant erscheint es, dass anstelle des Vaters bei der Einschreibung zum Studium der Vormund Karl Gottschwara (städt. Lehrer; Wien XV. Bezirk) aufgeführt wurde. Im Wintersemester 1911/12 und Sommersemester 1912 standen die Fächer Anatomie des Menschen und Chemie für Mediziner im Fokus. Der Anatomiekurs wurde von dem berühmten österreichischen Anatom Prof. Dr. Ferdinand Hochstetter 3 geleitet [2].

In den darauffolgenden Semestern belegte Schneider die Fächer Physiologie, Chirurgischer Operationskurs, Gynäkologie, Anästhesierungsmethoden, Innere Medizin, Chirurgie sowie eine Reihe von pathologischen Kursen. Am 3. Februar 1914 legte er sein I. Rigorosum mit der Note „genügend“ ab [2].

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges musste Schneider sein Medizinstudium an der Universität Wien unterbrechen und wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Ob er während des Ersten Weltkrieges sein Studium fortsetzen konnte, ist aus den verfügbaren Dokumenten nicht ersichtlich. Nach Kriegsende schrieb er sich erneut zum Sommersemester 1918 ein und legte am 8. November 1918 sein II. Rigorosum mit der Note „ausgezeichnet“ ab. Im letzten Semester belegte er u.a. die Kurse in Chirurgischer Klinik, Geburtshilfe und Gynäkologischer Klinik. Zum 28. Januar 1918 legte er das III. und letzte Rigorosum mit der Benotung „genügend“ ab. Seine Promotion erfolgte zum 31. Januar 1919 [2].

Als Student wurde Schneider für den Militärdienst gemustert. Ihm wurden im Jahr 1912 zwei Stipendien bewilligt, das erste wurde vom K. K. Landwehrkommando in Wien gestiftet und ihm durch den kommandierenden General am 26. Januar 1912 verliehen. Darin heißt es:

Die Einjährig-Freiwilligen Mediziner F r i e d r i c h E C K H A R T des k. u. k. Infanterieregiments GEORG I., König der HELENEN Nr. 99 und J o h a n n S C H N E I D E R des k. u. k. Infanterieregiments HOCH- und DEUTSCHMEISTER Nr. 4 werden vom 1. Jänner 1912 an mit einem landwehrärztlichen Stipendium beteiligt. Als Präklusivtermin wird der 31. Dezember 1917 bestimmt. [11]

 

Abb. 2: Bescheid über die Verleihung eines Landwehrärztlichen Stipendiums vom 26. Jänner 1912 [10].

Das zweite Stipendium wurde von der Theobald Uffenheimer’schen Studentenstiftung in Höhe von 275 Kronen durch den Magistrat der K. K. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien am 30. Januar 1912 verliehen [20].

Militärdienst im Ersten und Zweiten Weltkrieg

Am 28. Dezember 1911 wurde der Student Schneider beim Ergänzungsbezirkskommando 4 assentiert und als Einjährig-Freiwilliger Mediziner auf Staatskosten 4 für zehn Jahre im Heere und zwei Jahre in der Landwehr zum Infanterie Regiment (I.R.) Nr. 4 “Hoch- und Deutschmeister“ eingereiht. Zur Assentierung war Schneider 1,72 m groß und litt an einer mäßigen Kurzsichtigkeit. Im Hauptgrund-Buchblatt Nr. 72 (Militärakte) wird ebenfalls das landwehrärztliche Stipendium vom 1. Januar 1912 – 31. Dezember 1917 erwähnt (Abbildung 3). Damit war Schneider Angehöriger der K. K.-Armee und wurde im Laufe des Studiums des Militärdienstes regelmäßig befördert, zuletzt im Jahre 1944 zum Oberstabsarzt der Reserve. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war er im Sanitätsdienst der Deutschen Wehrmacht eingesetzt.

Abb. 3: Hauptgrundbuchblatt Schneiders aus dem Jahr 1911. Quelle: Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv Wien

Zum 1. Februar 1914 wurde er von der 5. Feldkompanie zur I. Ersatzkompanie (Ers.K.) transferiert. Im selben Jahr erfolgte die Bewilligung des Präsenzdienstaufschubes (P.D.A) auf den 1. Juli 1914. Allerdings wurde durch das österreichische Kriegsministerium, Erlassabteilung 2/W Nr. 6073 vom 5. Juni 1914, die Transferierung vom I.R. Nr. 4, I. Ers.K. zum bosnisch-hercegowinischen (bh) I.R. Nr. 1 „Kaiser“ (der Beiname wurde 1915 gestrichen) zur 7. Feldkompanie, einer Eliteeinheit des K. K. Heeres, veranlasst. Dort leistete er ab den 1. Juli 1914 einen dreimonatigen Frontdienst ab. Dabei wurde er am Gewehr 6 K (Steyr – „Mannlicher Modell 1895“), der Standardwaffe der K. K. Armee im Ersten Weltkrieg, ausgebildet. Im Laufe seines Präsenz-Militärdienstes von 1914–1918 wurde er mehrmals befördert. In Tabelle 1 sind die Beförderungsdaten zusammengefasst [13][23].

Tab. 1: Militärische Beförderungsdaten von Hans Schneider
* Personalverordnungsblatt des K. K. Heeres

Im Rahmen der Recherche fiel auf, dass es zwischen den Aufzeichnungen im Hauptgrundbuchblatt Nr. 72 von 1911 ff., dem Kontrollgrundbuchblatt (Abschrift) von 1917 und den P.V.Bl. hinsichtlich der Ernennungstage und der Aufzeichnungsgenauigkeit Diskrepanzen bestehen. Diese Unstimmigkeiten sind auch im Wehrstammbuch von 1938 festzustellen.

Während der Zeit im bh I.R. Nr. 1 von 1914–1918 nahm Schneider an zahlreichen kleineren Gefechten teil. Am 4. Juni 1916 begann an der Ostfront des Ersten Weltkrieges die sog. Brussilow-Offensive 5, benannt nach dem verantwortlichen General Alexei Alexejewitsch Brussilow. Sanitätsfähnrich Schneider muss an vorderster Front an den Kämpfen bei der Brussilow-Offensive beteiligt gewesen sein, da ihm für sein tapferes Verhalten vor dem Feinde am 25. September 1916 (P.V.Bl. 77/1917) die silberne Tapferkeitsmedaille 1. Klasse verliehen wurde [13][23]. In den vorliegenden Aufzeichnungen wird zudem erwähnt, dass Schneider auch das durch Kaiser Karl 1916 eingeführte „Karl Truppen Kreuz“ verliehen wurde [22]. Am 25. April 1917 wurde ihm zudem die silberne Medaille vom österreichischen Roten Kreuz für seine Tätigkeit in der Inneren Medizin verliehen [13][23]. In dieser Zeit scheint Schneider zum ersten Mal intensiv mit den für diese Zeit üblichen Infektionskrankheiten in Kontakt gekommen zu sein, wie aus seinen ersten bekannten wissenschaftlichen Publikationen (u.a. zur Hypophysen-Tuberkulose und zur Behandlung der „Pyozyaneus-Meningitis“) hervorgeht [16][17].

Abb. 4:
a: Karl Truppen Kreuz (P.V.Bl. 237 v. 24.12.1916)
(Quelle: Digitales Arbeitszimmer des Verteidigungsministeriums der Tschechischen Republik, Personalverordnungsblatt Nr. 237 vom 24. Dezember 1916)
b: Silberne Tapferkeitsmedaille 1. Klasse
(Quelle: GeMa - Germanistisches Magazin 2014/1)

Nach Beendigung seines Studiums findet sich die Spur Schneiders beim österreichischen Militär erst 1931 wieder. Gemäß einer Mitteilung des Militär-Liquidierungsamtes, Abt. I/1 No. 5054 von 1931, „stand“ Dr. Hans Schneider auch noch zur Zeit des Staatsumsturzes beim ehemaligen Kriegsministerium „in Evidenz“, d.h. in der Reserve geführt (ZI. 3332/1931) [23].

Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde Schneider durch den Sanitätsdienst der Wehrmacht als Sanitätsoffizier der Reserve reaktiviert. Er erhielt den Rang eines Stabsarztes der Reserve und war als Primararzt (österreichische Bezeichnung für Chefarzt) für Innere Medizin tätig. Vom 12. August bis 10. September 1938 war er als Truppenarzt bei der Sanitätsstaffel Wiener-Neustadt stationiert. Vom 4. Juni bis 21. August 1940 wurde er in der Sanitätsabteilung Niederdonau (N.D.), Reservelazarett Neunkirchen, eingesetzt, wo er seit 1927 als Primararzt für Innere Medizin fungierte [23].

Der zuständige Generalarzt und Kommandeur (Name in den Dokumenten nicht erwähnt) beurteilte die Führung Schneiders als tadellos und bewertete seine militärischen Leistungen als Chefarzt des Reservelazarettes Neunkirchen zur vollsten Zufriedenheit. Als letzte Verwendung ist die Sanitäts-Abteilung Wien, Reservelazarett Neunkirchen, ab 8. April 1941 im Wehrstammbuch vermerkt. Mit Schreiben vom 13. April 1943 (Az.: 29) teilte Schneider in Funktion als Stabsarzt und Chefarzt beim Reservelazarett Neunkirchen der Sanitätsabteilung Niederdonau mit, dass ihm und Dr. Erich Antonius in ihrer Eigenschaft als Primarärzte des allgemeinen Krankenhauses Neunkirchen am 30. Januar 1943 das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse (ohne Schwerter) verliehen wurde. Weitere Details dazu waren nicht eruierbar.

Abb. 5: Mitteilung Schneiders über die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse (ohne Schwerter) vom 13. April1943 (Quelle: Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik)

Somit wurden Schneider während seiner Zeit bei der K. K. Armee insgesamt drei und in der Deutschen Wehrmacht eine militärische Auszeichnung verliehen [22][23].

Weiterer zivil-medizinischer Werdegang

Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums (gleichzeitig Erteilung der Promotion) wurde Schneider vom 1. März bis 20. Mai 1919 als Hilfsassistent im Kriegsspital Wien 4 (Meidling) eingesetzt. Vom 26. Mai 1919 bis 13. März 1924 war er als Assistenzarzt im Krankenhaus Wien-Lainz tätig, dem ersten Städtischen Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien [23]. Dort war er Schüler und Assistent von Universitätsprofessor Dr. Karl Reitter 6 . Das Lainzer Krankenhaus (heute: Klinikum Hietzing) war erst wenige Jahre zuvor, im Jahr 1913, durch den Österreichischen Monarchen Kaiser Franz-Josef eröffnet worden und zählte damals zu den modernsten medizinischen Einrichtungen Österreichs [10]. Die Tätigkeit in diesem Krankenhaus und die Mitarbeit bei Prof. Reitter ermöglichten es Schneider, sich in kürzester Zeit in modernste diagnostische Verfahren einzuarbeiten, u. a. auch in die gerade beginnende klinisch-mikrobiologische und serologische Diagnostik. Aus dieser Zeit liegen mehrere Einträge im Totenkataster (Nr. 2843) vor, in denen Dr. Schneider den Tod ärztlich bescheinigt hatte [8]. Weiterhin ist auch die erste bekannte wissenschaftliche Publikation von Schneider in der Wiener Medizinischen Wochenschrift nachweisbar, die sich mit dem „intra vitam diagnostizierten chronischen partiellen Herzaneurysma“ beschäftigt [15]. Während dieser Assistenzarztzeit zeigt sich ein zunehmendes fachliches Interesse an den Infektionskrankheiten, das ihn sein weiteres ärztliches Leben begleiten sollte (belegt durch eine Reihe weiterer Publikationen in späterer Zeit zur Thematik der Enzephalitiden).

Abb. 6: Laboratorium der I. Internen Abteilung im Lainzer Krankenhaus um 1920; in der Mitte Prof. Dr. Karl Reitter, links vermutlich der junge Assistenzarzt Hans Schneider. (©Josephinum der Medizinischen Universität Wien)

Abb. 7: Ausstattung eines Primararzt-Zimmers am Lainzer Krankenhaus um 1920 (©Josephinum der Medizinischen Universität Wien)

Schneiders Wirken am Krankenhaus Neunkirchen

Nach der Pensionierung des bisherigen Chefarztes der Medizinischen Abteilung, Dr. Josef Nemetz, wurde Schneider aufgrund schwerer Grippe- und Typhusepidemien im Jahr 1925 als Spezialist für Infektionskrankheiten an das Krankenhaus der niederösterreichischen Bezirksstadt Neunkirchen (ca. 40 km südlich von Wien) berufen. Schneider übernahm am 1. April 1926 die Leitung als Primararzt der medizinischen Abteilung, inklusive der sich damals noch im Aufbau befindlichen Infektionsstation. Ihm standen damals noch zwei weitere medizinische Hilfsärzte zur Seite [1].

In die Zeit Schneiders als Primararzt fielen eine Reihe von Neuerungen im Neunkirchener Krankenhaus, die er sicherlich mit angestoßen und begleitet hatte. U. a. wurde das Krankenhaus schon 1927 um ein Laboratorium erweitert und mit einem Mikroskop und anderen mikrobiologisch wichtigen Gerätschaften ausgestattet. Durch Schneider wurden erste Forschungen über sogenannte Gewerbekrankheiten (u.a. grundlegende Untersuchungen zur gewerblichen Benzolvergiftung) angestoßen, die hier – im Zentrum eines bedeutenden Industriegebietes (Pechgewinnung, petrochemische Industrie) – von Bedeutung waren. Ebenfalls zu Beginn seines Wirkens wurde 1927 ein mobiles Sanitätsauto angeschafft, was den Anteil an ortsfremden Patienten beträchtlich ansteigen ließ. 1931/1932 erfolgte der Neubau der Infektionsabteilung, die 1932 in Betrieb genommen wurde [1].

Abb. 8: Isoliertrakt des Krankenhauses Neunkirchen in N.Ö. 1942 (Quelle: Stadtamtsdirektion, Bezirkshauptstadt Neunkirchen)

Abb. 9: Krankenhaus Neunkirchen in N.Ö. um das Jahr 1930 (Quelle: Stadtamtsdirektion, Bezirkshauptstadt Neunkirchen)

Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde der bisherige ärztliche Leiter des Krankenhauses Neunkirchen, Dr. Ernst Kutscha-Lissberg (Primararzt für Chirugie), aus „politisch motivierten Gründen“ 1938 in Pension versetzt. Die genauen Gründe konnten den verfügbaren Dokumenten nicht entnommen werden. Dr. Hans Schneider wurde die ärztliche Leitung übertragen. Ob die Übertragung der Leitung mit seiner Funktion als Sanitätsoffizier der Reserve zusammenhängt oder ihn als zweiten Primararzt am Krankenhaus Neunkirchen erfolgte, ist den verfügbaren Dokumenten nicht zu entnehmen. Eine Zugehörigkeit zur NSDAP oder sonstige politische Aktivitäten Schneiders sind in den uns zur Verfügung stehenden Unterlagen ebenfalls nicht dokumentiert.

Schneider leitete das Krankenhaus bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Dann wurde der im Ruhestand befindliche Dr. Kutscha-Lissberg wieder als ärztlicher Leiter des Krankenhauses Neunkirchen eingesetzt. Schneider wirkte bis zu seinem Tod am 4. Dezember 1954 weiter durchgängig als Primararzt für Innere Medizin in Neunkirchen [1].

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in den letzten Monaten seiner Zeit als ärztlicher Leiter, wurde das als Reservelazarett dienende Krankenhaus in Neunkirchen durch sowjetische Bombenangriffe stark beschädigt. Mit dem Einmarsch der Roten Armee in Neunkirchen muss es dort zu heftigen Kämpfen gekommen sein, wovon heute noch eine Gedenktafel und ein Friedhof mit Gräbern von sowjetischen Soldaten auf dem angrenzenden Gelände zeugen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann der sofortige Betrieb und Wiederaufbau des Krankenhauses. In der Krankenhaus-Chronik wird auch erwähnt, dass seine erste Ehefrau Maria Schneider sich um den Küchenbetrieb und die Krankenversorgung sehr verdient machte [1].

Vom damaligen Krankenhaus sind heute keine Spuren mehr erkennbar. Es wurde in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch einen modernen Klinikbau ersetzt.

Klinik der FSME – Erstbeschreibung

Im Rahmen seiner Befassung mit Erkrankungen von Arbeitern aus der Petroindustrie dokumentierte ­Schneider ab Beginn seiner Tätigkeit als Primararzt für Innere Medizin im Jahr 1927 die epidemische Häufung einer bestimmten und meist gutartig verlaufenden Form einer „akuten serösen Meningitis“. Er erkannte den Zusammenhang mit Tätigkeiten im damals wichtigen „Pecher“-Gewerbe. In der Region zwischen Baden bei Wien und Neunkirchen befand sich das größte Gebiet zur Gewinnung von Pech im Deutschen Reich. In Ermangelung von Ölvorkommen wurde dieses für die Herstellung petrochemischer Produkte benötigt. Das Gebiet war eine Schlüssel-Industrieregion in der Zeit zwischen den Weltkriegen.

Schneider erkannte, dass bei den „Pechern“ (Erntearbeitern, die das Harz („Pech“) von Schwarzföhren ernteten) eine besondere Art von Hirnhautentzündung auffallend oft auftrat. Diese wies definierte Eigenschaften, z. B. einen häufig biphasischen Verlauf, markante Laborwerte im Liquor und eine fehlende Chronifizierung auf. Außerdem war sie klar abgrenzbar von der damals ebenfalls grassierenden Poliomyelitis. Innerhalb von nur 3 Jahren dokumentierte er insgesamt mehr als 60 Fälle dieser Erkrankung in der Bevölkerung der umliegenden Dörfer. Er analysierte Blut, Liquor und Urin der Patienten und beschrieb die Epidemiologie der Erkrankung, u. a. das vorwiegende Auftreten im Sommer, sowie auch bereits die mögliche Übertragung durch Milch. Die klinische Beschreibung der ersten vier dieser Fälle resultierte in seiner für die spätere Erforschung der FSME wichtigen und weltweit ersten Publikation zu dieser Krankheit in der Wiener Klinischen Wochenschrift [18].

Dieser folgte eine weitgehend unbekannte und in kaum einer Bibliothek vorhandene Monografie mit dem Titel „Die Epidemische Akute Meningitis Serosa“, in der Schneider 66 Fälle aus den Jahren 1927 bis 1931 und seine Studien zur Differenzialdiagnostik gegenüber bekannten Infektionskrankheiten beschrieb. Dazu zählen u. a. der Ausschluss der Poliomyelitis durch Schimpansen-Versuche an der Universität Wien und die eindeutige klinische Abgrenzung vom Typhus [19]. In späteren Publikationen erhielt diese neue klinische Entität – vor allem im deutschsprachigen Raum – nach ihrem Erstbeschreiber den Namen „Schneider‘sche Krankheit“ [12].

Abb. 10: Deckblatt der Veröffentlichung Schneiders über die Meningitis serosa, die heutige FSME aus dem Jahre 1932 (Bild: Oberfeldarzt Prof. Dr. Dobler)

Die Erst-Beschreibung des FSME-Virus und dessen Übertragung durch Zecken erfolgte durch die beiden russischen Forscher Zilber und Pawlowsky in den Jahren 1937 und 1938. Erst rund 10 Jahre später, im Jahre 1948, konnten tschechische Forscher das Virus der europäischen Form der FSME nachweisen [7]. Die Krankheit erhielt in den 1960er Jahren im deutschen Sprachraum den heutigen Namen „Zentraleuropäische Zeckenenzephalitis“ oder „Frühsommer-Meningoenzephalitis“ und der Erreger wurde als FSME-Virus bezeichnet.

Infektiologische, arbeits- und sozialmedizinische Leistung

Es ist Primararzt Dr. Hans Schneider zu verdanken, dass diese bis dato unbekannte Erkrankung erstmals klinisch beschrieben, als neue Infektionskrankheit definiert und mit dem Pecher-Gewerbe in Verbindung gebracht werden konnte. Schneiders propädeutisches Geschick war sowohl aus infektiologischer als auch arbeits- und sozialmedizinischer Sicht eine herausragende wissenschaftliche Leistung. Er trug damit entscheidend dazu bei, dass die Arbeiter in diesem Industriezweig und deren Familien im Krankheitsfall sozial abgesichert wurden, da die FSME als erste Berufskrankheit in Österreich offiziell anerkannt wurde. Sie ist auch heute noch in der Region als der sogenannte „Pecher-Schlag“ bekannt.

Auch wenn die genauen epidemiologischen Zusammenhänge, die Übertragung durch Zecken und der Übertragungszyklus des FSME-Virus erst viele Jahre nach Schneiders Tod aufgeklärt werden konnten – auch ­wiederum durch Untersuchungen am sogenannten ­„Gfieder“, einem Hügel im niederösterreichischen Neunkirchen –, so gebührt ihm doch der Platz des Erstbeschreibers der klinischen Entität „FSME“.

Schneider war in seinen letzten Berufsjahren weiterhin als Infektionsforscher aktiv und publizierte eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten, u. a. auch zu Typhus und Salmonellosen. Seine Arbeiten zur FSME scheint er mit seiner Monografie abgeschlossen zu haben; in der Literatur finden sich später noch einige von Schneider verfasste Übersichtsartikel zur Thematik der Meningitiden und Enzephalitiden.

Literaturverzeichnis

  1. A.Ö. Krankenhaus der Stadtgemeinde Neunkirchen (Hrsg.): 100 Jahre A.Ö. Krankenhaus der Stadt Neunkirchen. Neunkirchen: A.Ö. Krankenhaus der Stadtgemeinde Neunkirchen 1996.
  2. Aktenindices der Medizinischen Fakultät 1911-1919. Archiv der Universität Wien, Postgasse 9, 1010 Wien.
  3. Bosniaken - Die bosnisch-hercegovinische Infanterie. mehr lesen
  4. Brussilow-Offensive. mehr lesen
  5. Ferdinand Hochstetter. mehr lesen
  6. Friedhöfe Wien, Friedhof Baumgarten, Waidhausenstraße 51, 1140 Wien. mehr lesen
  7. Gallia F, Rampas J, Hollender L: Laboratomi infekce encephalittickym virem. Cas lek Ceskych 1949; 88(9): 224-229.
  8. Geburts- und Taufregister (Kirchenbücher) und Sterberegister der Stadt Wien. mehr lesen
  9. Hoen M, Waldstätten-Zipperer J, Seifert J: Die Deutschmeister – Taten und Schicksale des Infanterieregiments Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 – Insbesondere im Weltkriege. Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1928.
  10. Josephinum – Sammlungen der Medizinischen Universität Wien, Währinger Straße 25, 1090 Wien
  11. Landwehrärztliches Stipendium Bescheid vom 26. Jänner 1912. Archiv der Universität Wien, Postgasse 9, 1010 Wien.
  12. Moritsch H: Die endemische Frühsommer-Meningo-Encephalo-Myelitis im Wiener Becken (Schneider’sche Krankheit). Wien Klein Wochenschr 1957; 69(51): 965-970.
  13. Österreichisches Staatsarchiv – Archiv der Republik, Nottendorfer Gasse 2, 1030 Wien
  14. Schachinger W: Die Bosniaken kommen!. Graz: Ares-Verlag 2020
  15. Schneider H: Das intra vitam diagnostizierte chronische partielle Herzaneurysma. Wien Med. Wochenschr 1921; 35: 1536-1538.
  16. Schneider H: Kachexie bei wahrscheinlich fortgeleiteter Hypophysentuberkulose. Wien Med. Wochenschr 1922; 5: 234-236.
  17. Schneider H: Zur Klinik der Pyozyaneusmeningitis. Wien Med. Wochenschr 1924; 34: 1786.
  18. Schneider H: Ueber epidemische akute „Menigitis serosa“. Wien Klin. Wochenschr 1931; 44: 350-352.
  19. Schneider H: Die epidemische akute „Meningitis serosa“. Wien: Verlag Wilhelm Maudrich 1932
  20. Theobald Uffenheimer’sches Stipendium – Bescheid vom 30. Jänner 1912. Archiv der Universität Wien, Postgasse 9, 1010 Wien
  21. Trauungsbuch der Stadt Wien. , Seite 27, Reihe-Zahl 45. mehr lesen
  22. Verordnungsblätter für das K u. K. Heer: Digitales Arbeitszimmer des Verteidigungsministeriums der Tschechischen Republik. , Heft 166 vom 16. OKtober 1915, Seite 4227.
  23. Verordnungsblätter für das K u. K. Heer: Digitales Arbeitszimmer des Verteidigungsministeriums der Tschechischen Republik. , Heft 54 vom 17. März 1917, Seite 1663.
  24. Wehrstammbuch des Schneider: AdR, WStB-reiche. Kt 8173. Österreichisches Staatsarchiv - Kriegsarchiv, Nottendorfer Gasse 2, 1030 Wien
  25. Weinrich B, Plöckinger E: Niederösterreichische Ärztechronik – Geschichte der Medizin und der Mediziner Niederösterreichs. Wien: Verlag Oswald Möbius GmbH 1990; 20: 695–696.

 

Danksagung

Unser ganz besonderer Dank gilt der stellvertretenden Leiterin des Archivs der Universität Wien, Frau Dr. Ulrike Denk; ohne Ihre akribische Suche in den Archivbeständen wäre es uns unmöglich gewesen, die Personen- und Lebensdaten sowie ein Bild von Schneider zu erhalten.

Frau Renate Domnanich vom Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchives gilt unser Dank für die Bereitstellung der Militär- und Stipendienunterlagen Schneiders sowie die Unterstützung beim Entziffern und Auswerten der Eintragungen.

Im Rahmen dieser Publikation haben wir mit zahlreichen weiteren Personen und Institutionen in regem Kontakt gestanden. Sie alle haben einen großen Anteil an dieser Veröffentlichung. Wir möchten uns stellvertretend für alle bedanken bei Frau Sonja Gottschick vom Archiv der Republik des Österreichischen Staatsarchives für die zur Verfügung gestellten Wehrmachtsunterlagen, Frau Magister Christa Bader-Reim von der Österreichischen Nationalbibliothek, Herrn Claus Bukowsky vom Josephinum der Medizinischen Universität Wien für die Bereitstellung der Abbildungen 6 und 7, der Niederösterreichischen Ärztekammer für die Freigabe der Bildrechte an ­Schneiders Portrait (Abbildung 1), Herrn Stadtamtsdirektor der Bezirkshauptstadt Neunkirchen Magister Robert Wiedner für die Übermittlung der Fotografien des Krankenhauses (Abbildungen 8 und 9), Frau Andrea Nöhrer von der Katholischen Pfarre Neunkirchen, Frau Bibliothekshauptsekretärin Heidi Werner und Oberstleutnant Peter Rechenberg, Historiker an der Sanitätsakademie der Bundeswehr, Herrn Oberstveterinär a.D. Prof. Dr. Hermann Meyer und Frau Eva-Maria Toth vom Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr. Den Reviewern sei hiermit für die wertvollen kritischen Hinweise gedankt, die zum besseren Verständnis des Textes beitrugen.

Manuskriptdaten

Eingereicht: 15. April 2021

Nach Überarbeitung angenommen: 17. Juni 2021

Zitierweise

Lange M, Chitimia-Dobler L, Dobler G: Primararzt Dr. Hans (Johann) Schneider – Sanitätsoffizier und Erstbeschreiber der heutigen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). WMM 2021; 65(8): 294-301.

Für die Verfasser

Hauptfeldwebel Mirko Lange

Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr

Neuherbergstr 11, 80937 München

E-Mail mirko1lange@bundeswehr.org

Manuscript data

Submitted: April 15, 2021

After revision accepted: June 17, 2021

Citation

Lange M, Chitimia-Dobler L, Dobler G: Dr. Hans (Johann) Schneider – Medical Officer and First Describer of Tick Born Encephalitis (TBE). WMM 2021; 65(8): 294-301.

For the Autors

Sergeant First Class Mirko Lange

Bundeswehr Institut for Mikrobiology

Neuherbergstr 11, D-80937 München

E-Mail mirko1lange@bundeswehr.org


1 An dieser Stelle ist anzumerken, dass sich aus bisher nicht nachvollziehbaren Gründen in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg der Vorname von Johann in die Kurzform „Hans“ geändert hat. Er wird bis zu seinem Tod im Jahr 1954 den Vornamen Hans beibehalten und verwenden.

2 Der Geburtsname durfte den Autoren aus datenschutzrechtlichen Gründen vom Bezirksamt Neunkirchen sowie von der Friedhofsverwaltung des Friedhofes Baumgarten in Wien nicht mitgeteilt werden.

3 Ferdinand Hochstetter (*5. Februar 1861 in Hruschau/Schlesien, † 10. November 1954 in Wien) war ein österreichischer Anatom. Er erforschte vor allem die Entwicklungsgeschichte des Herzens und des Gehirnes, entwickelte neue Präparationsmethoden und führte die neue Konservierungsmethode „Paraffin-Durchtränkung“ ein. Diese Methode kann auch zur Leichenkonservierung verwendet werden und ist mit jenem Verfahren eng verwandt, mit dem die Leiche Lenins 1924 konserviert wurde. Ab 1911 wurde er zum wirklichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien gewählt. 1925 folgte die Aufnahme in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina und im Jahr 1928 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt [5].

4 Im Normalfall mussten sich Einjährig-Freiwillige selbst ausrüsten und verköstigen, dies entfiel im Fall Schneiders, da der Zusatz „auf Staatskosten“ zugefügt wurde.

5 Die Kampflinie zog sich vom Königreich Galizien und Lodomerien (Polen/Ukraine) über das Herzogtum Bukowina (Rumänien) bis hin nach Wolhynien (Ukraine). Die Schlacht dauerte über mehrere Monate und endete am 20. September 1916. Beide Kriegsparteien mussten sehr hohe Verluste hinnehmen. Die russischen Truppen konnten die Schlacht schlussendlich für sich entscheiden, auch wenn man hier von einem Pyrrhussieg sprechen kann. Diese russische Offensive bedeutete trotz alledem einen der größten militärischen Erfolge Russlands während des Ersten Weltkrieges [3][4][9][14][23][24].

6 Prof. Dr. Karl Reitter (Geburts- und Sterbedaten unbekannt) war ein österreichischer Mediziner. Er beschäftigte sich u.a. mit der Lungen- und Rippenfellentzündung. Diese Arbeiten veröffentlichte er in „Bücher der Ärztlichen Praxis“, Bd. 23, Verlag von Julius Springer, Wien und Berlin, 1930.