Wehrmedizinische Monatsschrift

ZUM 200. GEBURTSTAG VON RUDOLF VIRCHOW

Virchow und das Militärmedizinalwesen

Virchow’s work in the military healthcare system

Ingo Wirth

 

Zusammenfassung

Der Wissenschaftler und Politiker Rudolf Virchow (1821−1902), dessen Geburtstag sich jetzt zum 200. Mal jährt, begann seine berufliche Laufbahn in Berlin als Militärarzt. Schon nach wenigen Jahren verließ er die preußische Armee, um die Prosektur im Charité-Krankenhaus zu übernehmen. Im Herbst 1849 folgte er einem Ruf an die bayerische Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Von dort kehrte er nach sieben Jahren als führender Pathologe seiner Zeit in die preußische Metropole zurück. Während der zweiten Berliner Amtszeit von 1856 bis zu seinem Tod erhielten viele Absolventen der militärärztlichen Bildungsanstalten eine praktische Ausbildung im Pathologischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität. Besonders durch seine jahrzehntelange Lehrtätigkeit an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie für das Militär in Berlin hat er zusammen mit anderen führenden Fachvertretern für einen gut ausgebildeten Nachwuchs des preußischen, später deutschen Sanitätskorps gesorgt.

Schlüsselwörter: Medizingeschichte, Rudolf Virchow, Militärmedizinalwesen, militärärztliche Bildungsanstalten, Charité-Krankenhaus, Pathologie

Summary

This year marks the bicentenary of the birth of scientist and politician Rudolf Virchow (1821−1902). He began his professional career as a military doctor in Berlin. After a few years he left the Prussian army to head the pathology department at the Charité hospital. In autumn 1849 he accepted an invitation to join the Julius Maximilians University in Würzburg, Bavaria. Seven years later, he returned to the Prussian capital as the leading pathologist of the age. During this second period working in Berlin, from 1856 until his death, a large number of graduates from military medical educational institutions received practical training at the Friedrich Wilhelms University Pathological Institute. Through his decades of teaching work at the “Medizinisch-Chirurgische Akademie für das Militär” (Military Medical and Surgical Academy) in Berlin in particular, he and other leading specialists ensured that the next generation of Prussian and later German medical corps personnel received an excellent education.

Keywords: medical history, Rudolf Virchow, military healthcare, military medical educational institutions, Charité hospital, pathology

Einleitung

Am 13. Oktober 2021 jährte sich der Geburtstag des Wissenschaftlers und Politikers Rudolf Virchow (1821−1902) zum 200. Mal. In einem an Erfolgen reichen Berufsleben hat er über sein ursprüngliches Fach Pathologie hinaus ganz verschiedene Wissenschaften, wie Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, maßgeblich mitgestaltet. Im Vergleich zu den Leistungen auf diesen Gebieten wurden seine Verdienste um das Militärmedizinalwesen bisher eher beiläufig gewürdigt. Neben kritischen Beiträgen zur Medizinalreformbewegung von 1848/49 hat er sich wiederholt literarisch mit Problemen der „Kriegsheilkunde“ beschäftigt. Im Kriegsjahr 1870 war er auch praktisch an der Versorgung von Verwundeten beteiligt. Während seiner zweiten, 46-jährigen Berliner Amtszeit erhielten 86 junge Militärmediziner im Virchowʼschen Institut eine Ausbildung im Fach Pathologie. Insbesondere war es seine jahrzehntelange Lehrtätigkeit als Ordinarius an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie für das Militär in Berlin, durch die er sich um das Militärmedizinalwesen verdient gemacht hat.

Abb. 1: Rudolf Virchow (1821−1902) im vierten Lebensjahrzehnt (aus [1], Frontispiz)

Virchows Jahre als Militärarzt

Studium und Promotion

Nach einem glänzenden Abitur kam der 18-jährige Virchow aus seiner hinterpommerschen Geburtsstadt Schivelbein (heute Świdwin, Polen) nach Berlin, um an der zentralen Bildungsstätte für Militärärzte zu studieren [1]. Am 26. Oktober 1839 trat er als Eleve in das Medizinisch-Chirurgische Friedrich-Wilhelms-Institut, die frühere ­Pépinière, ein. Die militärische Laufbahn bot ihm die Chance für ein Studium der Medizin, denn das kostspielige Universitätsstudium hätten seine Eltern nicht bezahlen können. Die Eleven des Instituts erhielten finanzielle Beihilfen und mussten dafür nach dem Examen mindestens die doppelte Anzahl der vier Studienjahre als Militärdienstzeit ableisten. Nur besonders begabte Absolventen durften vorzeitig aus dem Militär ausscheiden.

Für Virchow kam das Ende des Studiums früher als ­geplant. Vor Beginn des letzten Semesters erhielt er in ­Anerkennung seiner ausgezeichneten Leistungen das Angebot, anstelle eines erkrankten Kollegen im Charité-Krankenhaus eine Station zu übernehmen. Zum Unterarzt ernannt, trat Virchow am 1. April 1843 in der Augenklinik seinen Dienst an. Der Klinikdirektor Johann Christian Jüngken (1793−1875) wurde auch sein Doktorvater. Mit einer schier unerschöpflichen Energie, die ­Virchow bis ins hohe Alter nicht verließ, gelang es ihm, die Arbeit am Krankenbett und in der Forschung zu vereinbaren. So konnte er nach wenigen Monaten – noch vor Abschluss der ärztlichen Ausbildung – seine erste wissenschaftliche Arbeit vorlegen. Es war die in lateinischer Sprache verfasste Dissertation „De rheumate praesertim corneae“.

Nach der Promotion am 21. Oktober 1843 blieb Virchow wunschgemäß in der Charité. Zu Beginn des folgenden Jahres wurde er Assistent des Prosektors Robert Froriep (1804−1861), und nur wenige Monate später konnte er die neu eingerichtete Abteilung für chemische und mikroskopische Arbeiten übernehmen [8].

Erste Reden an der Pépinière

Ein ehrenvoller Auftrag zeigte erneut die Anerkennung, die Virchow bei seinen militärischen Vorgesetzten genoss [5]. Er wurde auserwählt, am 3. Mai 1845 anlässlich der alljährlich festlich begangenen Geburtstagsfeier des Gründers der Pépinière die Festrede zu halten. Sein selbst gewähltes Thema lautete: „Erinnerung an den ­Generalstabsarzt Görcke, den Stifter des Friedrich-Wilhelms-­Instituts. − Das Bedürfniß und die Möglichkeit einer Medizin vom mechanischen Standpunkt, nachgewiesen an Beispielen. Die Therapie der Blutungen. Das entzündliche Blut. Die Säuferdyskrasie“ [15].

Virchows Rede rüttelte an den Grundfesten der noch vom Idealismus geprägten Medizin seiner Zeit. Folglich blieben seine Darlegungen nicht unwidersprochen, und dennoch wurde er beauftragt, auch zum 50. Gründungstag der Pépinière am 2. August 1845 vor einem noch größeren Publikum eine Ansprache zu halten. Seine zweite Rede trug den Titel: „Erinnerung an die Stiftung vor 50 Jahren – Die Nothwendigkeit einer Bearbeitung der Medizin vom mechanischen Standpunkt, erläutert durch das Beispiel der Venenentzündung“ [15]. Es war ein weiterer Angriff auf überholte Denkweisen, der noch stärkeren Widerspruch hervorrief. Vielleicht ist die heftige Kontroverse der Grund, dass seine Festrede vom 2. August 1845 nicht im „Verzeichniß der zur Feier des Stiftungsfestes gehaltenen wissenschaftlichen Reden“ der Jahre 1804 bis 1894 aufgeführt ist [12].

Virchows Leitideen

Die innovativen Gedanken in den beiden Reden Virchows ließen erkennen, über welch phänomenale wissenschaftliche Befähigung der junge Militärmediziner verfügte. Bereits zu dieser Zeit, also noch als Student am Friedrich-Wilhelms-Institut, entwickelte er drei Leitideen, die immer mehr ausreiften und sein ganzes späteres Werk kennzeichneten. Eine dieser weitreichenden Überlegungen bezog sich auf die Kausalität pathologischer Prozesse vom ursächlichen Agens bis zur mani­festen Krankheit. Sein konsequentes Festhalten an ­diesem Prinzip hat ihn zwar oft vor enthusiastischen Über­be­wertungen neuer Forschungsergebnisse bewahrt, aber ­besonders im Alter dazu geführt, dass „sein kritischer Konservatismus in einigen spezifischen Fällen völlig ­unvernünftig war“ [1]. Ein prominentes Beispiel ist sein Beharren auf widerlegten Erkenntnissen zur Tuberkulose.

Die zweite dieser Leitideen aus jungen Jahren war die Erkenntnis, welche Bedeutung der Zelle als Grundelement jeglicher belebter Materie zukommt. Nach den entscheidenden Vorarbeiten in der Würzburger Zeit erschien 1858 sein überragendes Werk „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ [20]. Virchow etablierte damit eine völlig neue Sicht auf die Entstehung von Krankheiten. Im Gegensatz zu den bis dahin herrschenden Vorstellungen galten die krankhaften Veränderungen des Körpers nun als Störungen der physiologischen Lebensvorgänge der Zelle. Dieses Krankheitskonzept übte nachhaltigen Einfluss auf die gesamte wissenschaftliche Medizin und nicht nur auf die Pathologische Anatomie aus [3].

Abb. 2: Titelblatt von Virchows Hauptwerk „Die Cellularpathologie“ aus dem Jahr 1858

Die dritte Leitidee war nicht minder revolutionär – es war die Begründung einer wissenschaftlichen Arbeitsmethodik in der Medizin. Virchow forderte nachdrücklich, ...

„... daß die Forschung über Krankheit und Heilung absolut einen dreifachen Weg gehen muß. Der erste ist der der Klinik: die Untersuchung des Kranken mit allen Hülfsmitteln der Physik und Chemie unter oberster Leitung der Physiologie und Anatomie. Der zweite ist der des Experiments: die Erzeugung der Krankheit und die Erforschung der Wirkung eines Arzneimittels am Thier. Der dritte endlich ist der der Mikroskopie: das Studium des Leichnams und seiner einzelnen Theile mit dem Skalpell, dem Mikroskop und dem ­Reagens“ [15].

 

Wechsel an die Charité

Noch vor Abschluss des Staatsexamens bewarb sich Virchow um das frei werdende Amt des Prosektors der Charité, das ihm am 11. Mai 1846 interimistisch übertragen wurde [8]. Sogleich nach seinem Amtsantritt begann er damit, die Obduktionstätigkeit zu reorganisieren. Gleichfalls ging er mit großem Engagement daran, das von seinem Vorgänger übernommene „Pathologisch-anatomische Cabinet der Charité“ neu zu ordnen. Unter seiner Leitung wurde die Sammlung von Organpräparaten als Anschauungsmaterial für den Unterricht systematisch vergrößert. So schuf er in der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre den Grundstock für das später weltberühmte Pathologische Museum der Charité [9]. Er intensivierte in diesen Jahren auch seine wissenschaftliche Arbeit, die erste fundamentale Erkenntnisse vor allem über Thrombose und Embolie erbrachte. Um sich ganz der Wissenschaft widmen zu können, wurde Virchow auf seinen Antrag hin am 6. April 1847 aus dem preußischen Sanitätsdienst entlassen und daraufhin als Charité-Prosektor bestätigt [8].

Beiträge zur Reform des Militärmedizinalwesens

Das Jahr 1848 beeinflusste das weitere Leben Virchows in mehrfacher Hinsicht. Vor allem war es seine Reise nach Oberschlesien, um die dort seit dem Winter 1847/48 grassierende Flecktyphus-Epidemie zu analysieren, die Ursachen der Krankheit herauszufinden und Maßnahmen zur Bekämpfung vorzuschlagen. In seinem Reisebericht übte er auf 180 Seiten scharfe Kritik an der ­Regierung, der er die Schuld an den katastrophalen Zuständen in Oberschlesien gab [16]. Die gewonnenen Einsichten über die Beziehungen zwischen Lebensbedingungen, Bildung und Krankheit wurden bestimmend für sein lebenslanges Engagement auf sozialpolitischem Gebiet.

Kaum aus Oberschlesien zurückgekehrt, brach in Berlin die Revolution aus. Virchow beteiligte sich in der Nacht des 18. März 1848 an den Barrikadenkämpfen. Durch die revolutionären Ereignisse kam in Preußen vieles in Bewegung, und Virchow setzte sich energisch für eine Erneuerung des Medizinalwesens ein. Um Kritiken und Vorschläge in der Öffentlichkeit zu verbreiten, gründeten Virchow und Rudolf Leubuscher (1821−1861) „Die medicinische Reform“ [7]. Die erste Nummer erschien am 10. Juli 1848.

Die Beiträge in dieser Wochenschrift zu militärärztlichen Problemen betreffen die Tätigkeit der „Commission zur Berathung der Militär-Medicinal-Reform“. In Nummer 9 vom 1. September 1848 kritisierte Virchow in einem Artikel mit dem Titel „Die militärärztlichen Bildungsanstalten“ einleitend die Personalauswahl bei der Besetzung der Kommission, denn die Männer, „welche seit Jahren für die Reform gekämpft haben“, seien ausgeschlossen worden. Die seit Langem bestehenden Defizite bei der Umsetzung von Lehrplänen an den militärärztlichen Bildungsanstalten veranlassten ihn zu dem Schluss, es genüge „vollkommen, an den Universitäten einen Lehrstuhl für Kriegsheilkunde einzurichten, und dann ein grosses militärisches Musterhospital (oder auch mehrere) durch Zusammenziehung der Garnison-Lazarethe zu machen“ [17].

In Nummer 10 vom 8. September 1848 befasste sich ­Virchow unter dem Titel „Das Militär-Medicinalwesen“ ausführlicher mit seinem Votum für die Aufhebung der militärärztlichen Bildungsanstalten [18]. Ausgehend von der Feststellung, „jene Anstalten haben ihre ursprüngliche Aufgabe erfüllt“, stellte er die Frage: „Berechtigt sie das aber zu weiterem Fortbestehen?“ Seine Antwort lautete: „Gewiss nicht.“ Das erste Argument Virchows für die Aufhebung resultierte aus der aktuellen Situation der wissenschaftlichen Medizin in Deutschland, wo unter maßgeblichem Einfluss der militärärztlichen Bildungsanstalten die Trennung von Medizin und Chirurgie überwunden worden war. Folglich konnte nun auch an anderen Bildungseinrichtungen ein wissenschaftliches Studium beider Dis­ziplinen absolviert werden. Zum zweiten sei es nicht ­gelungen, die Stellen in der Armee bedarfsgerecht zu besetzen. Insbesondere fehlte es an Unterärzten, deren Stellen aufgrund der schlechten Bedingungen auch nicht durch Zivilärzte besetzt werden konnten. Drittens sei die Charité allein nicht ausreichend, um Ärzte mit „ausgedehnter praktischer Erfahrung“ heranzubilden. Deshalb kam Virchow noch einmal auf die Notwendigkeit zur Schaffung „grosser Militär-Musterspitäler“ zurück.

Der dritte Artikel trug den Titel „Der Bericht der Regierungs-Commission über die Reform des Militär-Medicinalwesens“ und bestand aus drei Teilen, die am 22. und 29. Dezember 1848 sowie am 12. Januar 1849 erschienen sind [19]. Im ersten Teil übte Virchow sachlich ­begründete Kritik an den veröffentlichten Reformvor­schlägen. Er stellte den sieben „Grundprincipien“ der Kommission über den militärärztlichen Personalbestand und dessen Gliederung eigene Forderungen entgegen. Darin sind im Wesentlichen zwei Tendenzen zu erkennen: Zum einen sollten beim Heer je nach Bedarf „besondere Aerzte“ angestellt werden, deren Rangstufe und Besoldung sich nach den Aufgaben richten; zum anderen sollten alle militärärztlichen Stellen bei nachgewiesener Befähigung jedem geeigneten Bewerber zugänglich sein und im Dienst ein Aufstieg in höhere Ränge ermöglicht werden.

Abb. 3: Anfang von Virchows dreiteiligem Beitrag zum Militärmedizinalwesen in der Wochenschrift „Die medicinische Reform“

Im zweiten Teil der Kritik setzte sich Virchow mit den sieben „Grundprincipien“ aus dem Reformplan im Einzelnen auseinander und wiederholte seine Forderung nach der Zugänglichkeit militärärztlicher Stellen für befähigte Bewerber. Den Vorschlag der Kommission, die militärärztlichen Bildungsanstalten aufzulösen, hatte zwar auch Virchow erhoben, jedoch wandte er sich dagegen, stattdessen eine „für das militärärztliche Beamten-Verhältniss bestimmte Anstalt (die ärztliche Kriegsschule)“ einzurichten. Der vorgeschlagene Ausbildungsplan überzeugte ihn nicht, denn darin war im Vergleich zu anderen Lehrprogrammen für das Medizinstudium als einzige Besonderheit der Unterricht in „Kriegsarzneikunde und Militär-Sanitätspolizei“ enthalten. Dafür lohne es sich nicht, eine „eigene Unterrichts-Anstalt“ zu gründen. Virchow bemängelte auch die sieben vorgeschlagenen Rangstufen für Militärärzte. In seine Kritik, dass die Kommission zu viele Stellen und zu viele Rangstufen geschaffen hatte, bezog er die gesamte Armee ein. Das „preussische stehende Heer ist zu gross, um eine gedeihliche Entwickelung des National-Wohlstandes möglich zu machen“.

Im dritten Teil ging es um den Modus der Besetzung von Stellen im Militärmedizinalwesen, zu dem im Kommissionsbericht nichts zu finden war. Virchow favorisierte für „alle eigentlich militärärztlichen Stellen“ eine Jury, die aus den Bewerbern auswählt, während die Entscheidung über „alle eigentlich administrativen Stellen“ dem Kriegsminister überlassen bleiben sollte. Schließlich musste es nach seiner Ansicht eine weitere Jury „für die mittleren, gemischten Stellen“ geben. Um den Jahreswechsel 1848/49 hatte er jedoch noch keine Möglichkeit, konkrete Vorschläge für eine Zuordnung von Stellen zu den denkbaren Entscheidungsträgern zu unterbreiten, da die zu besetzenden Stellen nicht genau bekannt waren.

Die kontroversen Diskussionen um die Reformvorschläge zogen sich bis in den Herbst 1850 hin. Schließlich gelang es dem Generalstabsarzt der Armee Johann Carl Jakob Lohmeyer (1776−1852) entgegen der von verschiedener Seite erhobenen Forderung nach einer Auflösung, das Fortbestehen der militärärztlichen Bildungsanstalten „mit sehr geringen Einschränkungen“ zu sichern [12].

Schriften zur Kriegsheilkunde

Virchows scharfe Kritik am preußischen Kultusminister nach seiner Rückkehr aus Oberschlesien, seine Beteiligung an den Märzkämpfen 1848 und nicht zuletzt seine aufrührerischen Beiträge in der „Reform“ brachten ihm die Feindschaft reaktionärer Kreise ein. Es musste nur noch ein Anlass gefunden werden, ihn zu maßregeln, und ein Anlass war schon bald gefunden. Zu Beginn des Jahres 1849 beteiligte sich Virchow als Mitglied des „Local-Comitees für volksthümliche Wahlen“ an einer Protestaktion. In der Charité verteilte er Flugschriften, in denen die Missstände in Preußen angeprangert wurden. Daraufhin verlor Virchow sein Amt als Prosektor. Am 27. März 1849 schrieb der Kultusminister an die Charité-Direktion, ...

„... daß der mit der Verwaltung der Prosector-Stelle in der Charité widerruflich beauftragte Privat-Docent Dr. Virchow vor den, im Januar d. J. stattgefundenen Wahlen, mehrere Druckschriften aufregenden politischen Inhalts einigen in der Anstalt stationirten Chirurgen gebracht hat, um durch Verbreitung dieser Schriften auf den Ausfall dieser Wahlen einzuwirken. Der genannte Virchow hat dadurch nicht allein gegen die bestehende Hausordnung gefehlt, sondern auch seine amtliche Stellung zu den Charité-Chirurgen zu Wahlumtrieben mißbraucht. […] Die K. Charité-Direction beauftrage ich, den genannten Virchow sofort in Kenntniß zu setzen und ihm zu eröffnen, daß er demzufolge am 15ten April alle seine amtlichen Functionen als Prosector der Charité einzustellen und spätestens zum 1ten Mai d. J. die ihm bewilligte Wohnung in der Anstalt zu verlassen habe“ [8].

Als die Proteste von Studenten und Kollegen gegen die Entlassung immer stärker wurden, nahm der Kultusminister seine Entscheidung zurück. Daraufhin trat Virchow am 15. April 1849 sein Amt als Prosektor wieder an, durfte aber die Dienstwohnung nicht mehr beziehen.

Kurz vor der Wiedereinsetzung hatte ihn die Julius-Maximilians-Universität in Würzburg für eine Berufung auf den Lehrstuhl für Pathologische Anatomie vorgeschlagen. In Bayern waren natürlich nicht nur die wissenschaftlichen Erfolge des Kandidaten, sondern auch seine politischen Ansichten und Aktivitäten bekannt. Der Widerstand reaktionärer Kreise gegen die Berufung des umtriebigen Berliner Privatdozenten verzögerte die Entscheidung der bayerischen Ministerialbürokratie, doch am 30. November 1849 konnte er sein neues Lehramt als ordentlicher Professor für Pathologische Anatomie am Julius-Spital übernehmen.

Nach sieben produktiven Jahren in Würzburg kehrte ­Virchow im Herbst 1856 an die Charité zurück. Bereits am Beginn der zweiten Berliner Amtszeit war er der führende Pathologe seiner Zeit. Er unterstrich in den folgenden Jahren diese Vormachtstellung durch die Herausgabe seiner großen pathologisch-anatomischen Werke. Basierend auf den umfangreichen Vorarbeiten in Würzburg, veröffentlichte er 1858 „Die Cellularpathologie“, die das medizinische Denken revolutionierte. Das monumentale Werk „Die krankhaften Geschwülste“ erschien in drei Bänden zwischen 1863 und 1867. Zu dieser Zeit gab es in der medizinischen Welt „keine vergleichbare umfassende und tief schürfende Publikation“ [4]. Das Geschwulstwerk hat – obwohl unvollendet – die Pathologische Anatomie und darüber hinaus die onkologische Forschung stark beeinflusst.

Die Erscheinungsjahre von Virchows Arbeiten zur „Kriegsheilkunde“ zeigen, dass ihn die Vereinigungskriege von 1866 und 1870/71 zu diesen Schriften veranlasst haben [24]. Gemeinsam veröffentlichte der „Vorstand des Berliner Hülfsvereins für die Armee im Felde“, dem ­Virchow seit der Gründung angehörte, mit Datum vom 30. Juli 1866 eine „Instruction für die Krankenwärter des Reserve-Lazaretts“. In 54 Paragrafen wurden die Pflichten des Pflegepersonals bei der Versorgung der Patienten und „zur Erhaltung der häuslichen Ordnung und Reinlichkeit“ im Vereinslazarett auf dem Tempelhofer Feld bei Berlin dargelegt. Wie solche Militärlazarette am zweckmäßigsten einzurichten sind, hat Virchow 1871 in einem Vortrag vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft dargelegt [23].

Feldhygiene

Im Auftrag des Berliner Hilfsvereins hatte Virchow 1870 „Gesundheitsregeln für die Soldaten im Felde“ ausgearbeitet [24]. Zur Begründung führte er die damals noch geltende Tatsache an, dass die Heere „ungleich mehr Verluste durch Krankheiten, als durch Verwundung und Tödtung auf dem Schlachtfelde erleiden“. Die in 18 Punkten erläuterten Empfehlungen orientierten sich an den hauptsächlichen Ursachen der Erkrankungen von Soldaten. Es waren Hinweise auf die Folgen einer falschen Ernährung, einer mangelnden Körperhygiene und einer körperlichen Überanstrengung. Abschließend formulierte er den dringenden Appell, ärztliche Hilfe frühzeitig in Anspruch zu nehmen. Wie aus veröffentlichten Feldpostbriefen hervorging, hatten die Gesundheitsregeln „bei den Truppen stellenweise eine recht ungünstige Aufnahme gefunden“ [22]. Virchow bezeichnete die Vorwürfe als unbegründet und verwies darauf, „dass der Zeitpunkt, wo die Gesundheitsregeln an die Truppen gelangt sind, leider ein zu später und deshalb zum Theil ein verfehlter war“.

Qualifizierter Verwundetentransport

Ebenfalls 1870 fertigte Virchow einen Bericht an den Vereinsvorstand mit dem Titel „Der erste Sanitätszug des Berliner Hülfsvereins für die deutschen Armeen im Felde“ [24]. Am Beginn stellte er die prekäre Situation der Verwundeten dar, die gewöhnlich auf dem Boden einfacher Güterwagen ohne medizinische Betreuung und nur sporadisch verpflegt oft über weite Strecken transportiert wurden. Nach längeren Bemühungen gelang es Virchow, einen sachgerecht ausgerüsteten, aus 14 Wagen bestehenden Sanitätszug zu organisieren, der am 2. Oktober 1870 vom Anhalter Bahnhof zur Front in Frankreich abfuhr. Das Personal bestand neben Virchow aus drei Ärzten, fünf freiwilligen Krankenpflegern, sechs Schwestern und einem Materialverwalter. Dazu kamen neun Krankenwärter und Heilgehilfen, zwei Köche und zwei Eisenbahnbeamte. Während der Hinfahrt mussten das hinzugezogene Personal instruiert und die verschiedenen Abläufe bei der Verwundetenversorgung immer wieder geübt werden. In Frankreich wurden Verwundete, darunter viele Schwerverwundete, von mehreren Frontabschnitten aufgenommen und versorgt. An Virchows 49. Geburtstag, dem 13. Oktober 1870, traf der übervolle Sanitätszug auf dem Tempelhofer Feld ein, und die Patienten wurden in das Barackenlazarett des Hilfsvereins eingeliefert. Virchows Resümee seines Kriegseinsatzes lautete:

„Zum ersten Male waren bei uns Schwerverwundete unmittelbar vom Schlachtfelde, ohne in ein anderes Lazarett eingetreten zu sein, hunderte von Meilen ungefährdet und wohl gepflegt bis in die Heimath gebracht.“

Moderne Krankenpflegeausbildung

Bereits im Sommer 1870 hatte Virchow in dem Artikel „Die freiwillige Hülfe im Kriege“ über die Versorgung „der gesunden und kranken Krieger“ geschrieben [24]. Die Tätigkeit privater Vereine sollte als materielle oder als personelle Hilfe die staatlichen Maßnahmen ergänzen. Die „Beschaffung grosser Geldmittel“ war erforderlich, um Lazarette zur Versorgung Verwundeter und Kranker einzurichten, die notwendige medizinische Ausrüstung zu beschaffen und nicht zuletzt Versorgungsgüter wie Getränke, Nahrungsmittel, Verbandsmaterial und Prothesen zu finanzieren. Für die freiwillige Krankenpflege kamen vorrangig die Mitglieder privater Vereine in Betracht. Dazu sollten die am besten vorbereiteten, vor allem auch praktisch geschulten Privatpersonen eingesetzt werden. Zu diesem Zweck forderte Virchow vorsorglich:

„Eine derartige Schulung, namentlich für den Krankendienst, sollte in allen städtischen und Staats-Krankenhäusern alsbald systematisch begonnen werden.“

In dem Artikel über die freiwillige Hilfe im Krieg wie auch in dem Bericht über den Berliner Sanitätszug werden die enormen Defizite der medizinischen und sonstigen Versorgung verwundeter Soldaten deutlich. Zugleich wird ersichtlich, dass derartige Mängel noch im dritten der Vereinigungskriege fortbestanden.

Infektionskrankheiten

Zur Feier des Stiftungstages der Pépinière hielt Virchow am 2. August 1874 − wie schon einmal 1845 − eine Festrede. Er sprach über „Die Fortschritte der Kriegsheilkunde, besonders im Gebiete der Infectionskrankheiten“ [24]. Darin behandelte er ausführlich das Zustandekommen und die Organveränderungen der seinerzeit bedeutsamen Erkrankungen, von denen eine „Ansteckung“ als Ursache bekannt war oder zumindest vermutet wurde. Nach der Erörterung bereits bekannter Infektionskrankheiten, wie Milzbrand und Rückfallfieber, sprach er über ein Spektrum vermutlich ansteckender Krankheiten, das von Pocken und Cholera über Typhus und Ruhr bis zu Diphtherie und Wundinfektionen reichte. Der Nachweis von „kleinen Bakterien und Mikrokocken [sic!] in grosser Zahl“ führte Virchow zu der Frage, ob die Mikroorganismen „der eigentliche Grund oder das Wesen dieser Krankheiten“ seien. Die technischen Schwierigkeiten bei der Beantwortung dieser ätiologisch entscheidenden Frage lagen vor allem in der Winzigkeit der Untersuchungsobjekte begründet. Zudem bereitete die Differenzierung der Keime große Probleme, da Reinkulturen immer wieder misslangen. Folglich musste gleichfalls offen bleiben, inwieweit es sich nur um ein Bakterium oder um mehrere verschiedene Arten handelte. Virchow beschäftigte auch die Frage, ob die Mikroorganismen direkt oder durch Toxinbildung wirken. Zu dieser Überlegung kam er aufgrund der Ähnlichkeit bestimmter Infektionen und Intoxikationen, beispielsweise einer Cholera und einer Arsenikvergiftung [21]. Die angesprochenen Fragen waren morphologisch nicht zu klären, sondern „ueber die Infection entscheidet allein das Experiment“. Dennoch könne man „nunmehr wohl sagen, dass in den Infectionszuständen des Menschen und der Thiere ein ganz neues, ungeheures Gebiet selbständigen Lebens erschlossen ist“. Diese Ansicht zeigt Virchows Haltung gegenüber der Bakteriologie, die keineswegs reaktionär war. Vielmehr sah er das im Entstehen begriffene Fachgebiet als zukunftsweisend an.

Abb. 4: Titelblatt des Separatabdrucks der Festrede Virchows am 2. August 1874; die Abbildung verdanke ich Flottenarzt Dr. med. Volker Hartmann, Sanitätsakademie der Bundeswehr, München.

Anders als in den 1840er-Jahren hat Virchow in seiner Festrede 1874 die Bedeutung der militärärztlichen Bildungsanstalten als zentrale Lehrstätten für den preußischen Sanitätsdienst betont. Abschließend forderte er von der Militärverwaltung, alles für eine weitere Vervollkommnung der Lehre zu tun, damit die deutsche Militärmedizin einen ebenso hohen Stand wie die deutsche Medizin überhaupt erreicht.

Militärmediziner im Virchow’schen Institut

Virchows internationaler Ruf brachte es mit sich, dass zahlreiche Ärzte aus aller Welt zu ihm kamen, um eine Zeit lang in seinem Institut zu arbeiten [10]. Unter den von Herbst 1856 bis zu Virchows Tod 1902 im Berliner Pathologischen Institut tätigen Gästen waren 86 Angehörige der militärärztlichen Bildungsanstalten.

Abb. 5: Das Pathologische Institut der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur Zeit Virchows (aus Virchows Archiv 1921; 235: 13)

Die zeitweiligen Mitarbeiter kamen sowohl aus dem Medizinisch-Chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Institut als auch aus der Medizinisch-Chirurgischen Akademie für das Militär und später aus der durch Fusion beider Einrichtungen 1895 entstandenen Kaiser-Wilhelms-Akademie. Der Lehrplan jeder dieser Bildungsstätten sah einen praktischen Unterricht in der Charité vor. Dazu wurden einige Studierende auch dem Pathologischen Institut zugewiesen, wo sie bei den Leichenöffnungen mitwirken mussten. Seit 1874 erhielt regelmäßig ein Absolvent nach seiner Ernennung zum Unterarzt eine einjährige Kommandierung zur Pathologie [11]. Als erster Sanitätsoffizier kam 1900 der Oberarzt Max Westenhoeffer (1871−1957) in das Virchow’sche Institut. Für ihn war ein mehrjähriger Einsatz vorgesehen, um danach im Fach Pathologische Anatomie zu verbleiben [26].

Von den 86 im Laufe der Zeit zum Pathologischen Institut kommandierten Militärmedizinern waren 46 im Todesjahr Virchows (1902) noch im aktiven Dienst. Die bis dahin ausgeschiedenen Sanitätsoffiziere hatten mehrheitlich eine Tätigkeit als Praktischer Arzt aufgenommen. Insgesamt sieben der zeitweise im Virchow’schen Institut tätigen Militärmediziner erhielten später eine ordentliche Professur (Tabelle 1). Unter diesen Ordinarien war der aktive Oberstabsarzt Schwiening, der zum ordentlichen Professor für Staatsarzneikunde an der Kaiser-Wilhelms-Akademie ernannt wurde. Ein ausgeschiedener und ein aktiver Sanitätsoffizier erhielten eine ordentliche Honorarprofessur an einer Universität. Darüber hinaus wurden sechs Mediziner mit dem Professorentitel geehrt. Zu ihnen gehörte der langjährige Ärztliche Direktor der Charité Generalarzt Oscar Scheibe (1848−1924).

Von den nach 1902 noch aktiven Sanitätsoffizieren, die einst im Virchow’schen Institut tätig waren, haben es zwei bis an die Spitze eines Sanitätskorps geschafft.

Otto Schjerning (1853−1921), 1909 geadelt, war seit 1905 Generalstabsarzt der Armee und Direktor der ­Kaiser-Wilhelms-Akademie. Neben seinen zahlreichen Funktionen im Medizinalwesen übernahm er 1906 eine ordentliche Honorarprofessur für Militärmedizin an der Universität Berlin. Mit dem Rang als General der Infanterie, der ihm 1915 verliehen wurde, legte er Ende 1918 alle Ämter nieder [6].

Der andere war der Marine-Generalstabsarzt Walther Uthemann (1863−1944). Er trat sein Amt als dritter Chef des eigenständigen Sanitätskorps der Marine im Kriegsjahr 1916 an. Ihm fiel nach dem Ersten Weltkrieg die schwierige Aufgabe der Erhaltung und Neugestaltung des Korps zu. Unter Ernennung zum Marine-Generaloberstabsarzt mit dem Rang als Admiral schied er 1922 aus dem aktiven Dienst aus [2].

Tab. 1: Ordentliche Professoren unter den Militärärzten

Lehrtätigkeit an der militärärztlichen Akademie

Die Rückkehr aus Würzburg nach Berlin im Herbst 1856 brachte Virchow bald wieder in Kontakt zu seiner früheren Bildungsstätte. Bereits am 18. November 1859 wurde er als ordentlicher Professor für Pathologische Anatomie in den Lehrkörper der Medizinisch-Chirurgischen Akademie für das Militär berufen. In den akademischen Jahren 1861/62, 1874/75 und 1887/88 war er auch Dekan der Akademie [12]. Bis zum Lebensende gehörte Virchow dem Lehrkörper an und war seit 1895 der dienstälteste Ordinarius.

Abb. 6: Die alte Kaiser-Wilhelms-Akademie im Zentrum von Berlin (aus [13], nach S. VIII)

An beiden militärärztlichen Bildungsanstalten fanden die Immatrikulationen jährlich im April und im Oktober statt. In der Zeit von Virchows Lehrtätigkeit erhöhte sich die Zahl der Studierenden kontinuierlich. Während es 1875 noch 160 Eleven und 50 Akademiker waren, wurden die Zahlen mit dem Etat für 1888/89 auf 207 Eleven und 57 Akademiker erhöht [12]. Nach dem Zusammenschluss von Akademie und Institut zur Kaiser-Wilhelms-Akademie 1895 kamen im Folgejahr zu den 264 noch einmal 12 Studierende hinzu [13].

Schon lange vor der Vereinigung der beiden militärärztlichen Bildungsanstalten waren 1852 die Lehrinhalte von Institut und Akademie angeglichen worden [14]. Mehrheitlich lehrten Professoren aus der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin. Bis auf die militärmedizinischen Spezialthemen gab es beim Lehrangebot sowohl in den theoretisch-experimentellen als auch in den klinischen Fächern keine Unterschiede zum zivilen Universitätsstudium.

Die Studiendauer wurde im Jahr 1883 von acht auf neun Semester verlängert. Bis dahin las Virchow für die Studierenden, die im April immatrikuliert wurden, im fünften Semester fünf Wochenstunden „spezielle pathologische Anatomie“ und im sechsten Semester wöchentlich vier Stunden „allgemeine pathologische Anatomie“, die in etwa der heutigen Pathologischen Physiologie entspricht. Daran schloss sich im achten Semester ein „pathologisch-anatomischer Kursus“ mit sechs Semesterwochenstunden an. Für den Studiengang mit Beginn im Oktober hielt Virchow die gleichen Vorlesungen. Ebenso sah der Studienplan im achten Semester wiederum sechs Wochenstunden vor, wobei die Lehrveranstaltung als „demonstrativer Kursus“ ausgewiesen war [12].

Für den verlängerten, neunsemestrigen Studiengang mit Immatrikulation im April waren im fünften Semester fünf Wochenstunden „spezielle pathologische Anatomie“ und daran anschließend eine Stunde in der Woche für „Krankheiten des Magens“ vorgesehen. Die vier Wochenstunden „allgemeine Pathologie“ im sechsten Semester blieben erhalten, während der Stundenansatz für den erweiterten „demonstrativen Kursus der pathologischen Anatomie und praktischen Kursus der pathologischen Histologie“ auf zwölf Stunden erhöht wurde. Bei Studienbeginn im Oktober waren dieselben Vorlesungen und ein „demonstrativer und mikroskopischer Kursus der pathologischen Anatomie und Histologie, und Kursus der pathologischen Histologie“ mit zwölf Wochenstunden im Studienplan enthalten [12].

Virchow hatte mit Beginn des verlängerten Studiengangs trotz seiner unzähligen anderen Verpflichtungen zusätzliche Lehrstunden übernommen. Die Verdopplung des Stundenansatzes speziell für den Demonstrationskursus entsprach seinen Vorstellungen von der Notwendigkeit, die Lehre möglichst anschaulich und praxisbezogen zu gestalten [18].

Schlussbetrachtung

Die Leistungen Virchows für das Militärmedizinalwesen sind eingebettet in sein überdimensionales Gesamtschaffen. Im Vergleich zu den Verdiensten auf anderen Gebieten von Wissenschaft und Politik haben seine Beiträge zur Medizinalreformbewegung von 1848/49 und zur „Kriegsheilkunde“ zwar nur einen geringen Umfang, dürfen aber in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden. Durch seine jahrzehntelange Lehrtätigkeit als ordentlicher Professor an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie für das Militär hat er Hunderte angehende Militärärzte mit der naturwissenschaftlichen Denkweise in der Medizin vertraut gemacht. Die zum Pathologischen Institut kommandierten Studierenden und Absolventen konnten eine Arbeitsatmosphäre erleben, die von Virchows wissenschaftlichen Überzeugungen geprägt war. Keinesfalls vergessen werden darf seine praktische Tätigkeit für den Sanitätsdienst der Armee im Krieg 1870/71, dessen verallgemeinerte Schlussfolgerungen der Medizin insgesamt zugutekamen. Die große Wertschätzung Virchows im Sanitätskorps wird wohl am besten durch die Tatsache verdeutlicht, dass er einer von nur fünf Absolventen der militärärztlichen Bildungsanstalten war, die durch Aufstellung ihrer Marmorbüste in der Kaiser-Wilhelms-Akademie geehrt wurden [25].

Kernsätze

Literatur

  1. Ackerknecht EH: Rudolf Virchow. Arzt – Politiker – Anthropologe. Stuttgart: Enke 1957; 1−133.
  2. Bauer W: Lebensbilder der Generalärzte, Generalstabsärzte und Sanitätschefs der Marine. Marine-Rdsch 1959; 56: 140−149.
  3. David H: Rudolf Virchow und die Medizin des 20. Jahrhunderts. München: Quintessenz-Verlag 1993; 13−93.
  4. Dhom G: Geschichte der Histopathologie. Berlin-Heidelberg: Springer 2001; 101−147.
  5. Hoffmann E: Hundertjährige Wiederkehr des Eintritts von H. v. Helmholtz und R. Virchow in die militärärztliche Akademie. Münch Med Wschr 1939; 86: 1560−1562.
  6. Joppich R: Otto von Schjerning (4.10.1853−28.06.1921). Wissenschaftler, Generalstabsarzt der preußischen Armee und Chef des deutschen Feldsanitätswesens im Ersten Weltkrieg. Heidelberg: Diss. med. 1997; 3−22.
  7. Kirsten C, Zeisler K (Hrsg.): Dokumente der Wissenschaftsgeschichte: Die medicinische Reform. Berlin: Akademie-Verlag 1983.
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  12. Schickert O: Die Militärärztlichen Bildungsanstalten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens des medizinisch-chirurgischen Friedrich Wilhelms-Instituts. Berlin: Mittler 1895; 127−303.
  13. Schmidt H: Die Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen. Von 1895 bis 1910. Festschrift zur Einweihung des Neubaues der Akademie. Berlin: Mittler 1910; 10−20.
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  16. Virchow R: Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie. Berlin: Reimer 1848.
  17. Virchow R: Die militärärztlichen Bildungsanstalten. Med Reform Nr. 9 (1848); 57.
  18. Virchow R: Das Militär-Medicinalwesen. Med Reform Nr. 10 (1848); 61−63.
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  20. Virchow R: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin: Hirschwald 1858.
  21. Virchow R: Choleraähnlicher Befund bei Arsenikvergiftung. Virchows Arch 47 (1869); 524−526.
  22. Virchow R: Feldpostbriefe über die „Gesundheitsregeln“. Virchows Arch 51 (1870); 436−438.
  23. Virchow R: Ueber Lazarette und Barracken. In: Virchow R: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre. Berlin: Hirschwald 1879; 56−83.
  24. Virchow R: Kriegsheilkunde. In: Virchow R: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre. Berlin: Hirschwald 1879; 129−200.
  25. Wätzold P: Stammliste der Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen. Berlin: Hirschwald 1910; 16−20.
  26. Wirth I: Zur Sektionstätigkeit im Pathologischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin von 1856 bis 1902. Ein Beitrag zur Virchow-Forschung. Berlin: Logos Verlag 2005; 134−135.

 

Manuskriptdaten

Eingereicht: 3. Juli 2021

Angenommen: 23. August 2021

Zitierweise

Wirth I: Virchow und das Militärmedizinalwesen. WMM 2021; 65(11): 394-403.

Verfasser

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ingo Wirth

Stedingerweg 24, 10407 Berlin

E-Mail: ingo.wirth@hpolbb.de

Manuscript data

Submitted: July 3, 2021

Accepted: August 23, 2021

Citation

Wirth I: Virchow’s work in the military healthcare system. WMM 2021; 65(11): 394-403.

Author

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ingo Wirth

Stedingerweg 24, 10407 Berlin

E-Mail: ingo.wirth@hpolbb.de