Wehrmedizinische Monatsschrift

ZUR Geschichte der WEHRMEDIZIN IM ZWEITEN WELTKRIEG

Neuro-Enhancement in der Wehrmacht am Beispiel von Pervitin – Sachstand und Quellenlage 1

Volker Hartmanna

a Sanitätsakademie der Bundeswehr, München

 

Hintergrund

Das Thema Neuroenhancement oder auch Leistungsoptimierung durch chemische Substanzen führt uns nicht nur tief in die Geschichte militärischer Sanitätsdienste, sondern hat genauso aktuelle Bezüge in unsere heutige Gesellschaft und in kontrovers diskutierte Forschungsfelder. Als Stichworte seien nur die massenhafte missbräuchliche Einnahme von Mode- und Designerdrogen in Vergnügungsstätten, die Einnahme psychotroper Substanzen bei Leistungsdruck in der Arbeitswelt, aber auch der Einsatz von Psychostimulantien in modernen Armeen im Rahmen von Methoden des Human Performance Enhancement genannt. Hinzu kommt in letzter Zeit ein gewisses, zum Teil ins voyeuristisch-sensationelle gesteigertes Interesse an bestimmten Entwicklungen im NS-Unrechtsregime bzw. an der Person des Diktators Adolf Hitlers in den Medien. Ebenso erreichen den Autor immer wieder Anfragen nach der Quellenlage aus dem Kreise von Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden. Deshalb sollen aktueller Sachstand und Quellenlage zu dieser Thematik vorgestellt werden.

Sachstand und Quellenlage

Die wesentlichen Fakten zum Thema sind seit Anfang der neunziger Jahre bekannt, die weiteren Zusammenhänge sind seit langem wissenschaftlich untersucht. Im Beitrag soll – ohne spekulatorische Aspekte – der aktuelle Forschungsstand des Gebrauchs von Amphetamin und weitergehenden Drogenkombinationen in der Wehrmacht aufgeführt werden.

Insbesondere wird Stellung genommen zu der anfangs in der Gesellschaft NS-Deutschlands weit verbreiteten missbräuchlichen Anwendung von Pervitin und zu seiner Begrenzung durch Anwendung des Opiumgesetzes.

Selbstverständlich war die Substanz auch für militärische Belange von hoher Relevanz. Der Physiologe Prof. Dr. Otto Ranke, Leiter des Wehrphysiologischen Instituts der Berliner Militärärztlichen Akademie, unterzog sie Untersuchungen. Den Sanitätsoffizieren der Wehrmacht wurden Wirkungen und Nebenwirkungen des Pervitins dabei schnell klar. Man versuchte, seinen Einsatz durch Vorschriften zu regeln. Diskutiert wird insbesondere die Rolle, die Pervitin bei den anfänglichen Erfolgen der Wehrmacht, vor allem im „Blitzkrieg“ gegen Frankreich im Frühsommer 1940, spielte. Verschiedene Autoren messen der Substanz, die von Angehörigen der schnellen Panzertruppen eingenommen wurde, hier eine kriegsentscheidende Wirkung zu.

Abb. 1: Pervitin-Röhrchen (Foto mit freundlicher Genehmigung des ­ ZInstSanBw München)

Kombinationsdrogen

Im weiteren Verlauf des Krieges verlor Pervitin – auch bedingt durch Rohstoffmangel – seine Bedeutung. Allerdings kam es schließlich im Zuge der negativen Entwicklung des weiteren Kriegsgeschehens für das NS-Regime zur Entwicklung und zum Einsatz noch viel weitergehender leistungssteigernder Drogen in der Kriegsmarine. Insbesondere die Kleinkampfverbände, Kampfschwimmer, Einzelkämpfer und Besatzungen von Klein-U-Booten benötigten für tagelange „Himmelfahrts-Unternehmungen“ Substanzen zur Aufrechterhaltung der Vigilanz und Urteilsfähigkeit. Unter Verletzung aller Vorschriften wurden diese Drogen, z. B. das berüchtigte D IX, von Angehörigen des Sanitätsdienstes der Kriegsmarine entwickelt, getestet und den Soldaten appliziert. Es kam dabei zu zahlreichen Todesfällen in Ausbildung und Einsatz. Trauriger Höhe- und Schlusspunkt dieser Entwicklung waren die Versuche von hochdosierten Kombinations-Stimulantien (Cocain, Pervitin, Codein) bei Häftlingen des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Die weiteren Umstände dieser in ungewöhnlicher Weise von der Kriegsmarine in einem Lager der SS gesteuerten Versuche lassen sich bis heute nicht aufklären. Der verantwortliche Marinesanitätsoffizier folgerte danach, dass das Ziel, Menschen vier Tage und Nächte ohne oder nur mit geringer Schlafmöglichkeit wach und leistungsfähig zu halten, bei Anwendung der Mittel im Bereich des Möglichen liege.

Dieser letzte Einsatz von zweifelhaften Drogen in der Kriegsmarine mit allen seinen Zusammenhängen bildet den Schluss- und Höhepunkt einer seit 1938 anhaltenden unheilvollen Entwicklung. Die Gefahren der Gabe von Metamphetamin waren allen Beteiligten früh bekannt und in jedermann zugänglichen Vorschriften formuliert. Trotzdem kamen solche zentralen Stimulantien zum Einsatz und wurden in immer höheren Dosierungen und diversen Zusammensetzungen bis hin zu verbrecherischen Menschenversuchen in Konzentrationslagern getestet.

Schlussbemerkung

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass leistungssteigernde Medikamente (Benzedrine) auch in anderen Marinen, z. B. der Royal Navy, verwendet wurden. Es stellt sich aber auch vor dem Hintergrund aktueller militärischer Bestrebungen im Rahmen von pharmakologischem Human Performance Enhancement die ethisch relevante Frage, wie weit Sanitätsdienste heute gehen dürfen, um bei den Soldaten die Leistungsfähigkeit in kritischen Situationen aufrecht zu halten bzw. Schmerz, Müdigkeit und Vigilanzverlust entgegenzutreten.

Der vollständige Beitrag (Langversion) mit Literaturangaben, Quellen und Abbildungen erscheint in der E-Paper-Version dieser Ausgabe der Wehrmedizinischen Monatsschrift (www.wmm-online.de).

Verfasser

Flottenarzt Dr. Volker Hartmann

Sanitätsakademie der Bundeswehr

Neuherbergstr. 11, 80937 München

E-Mail: VolkerHartmann@bundeswehr.org


1 Kurzversion der überarbeiteten Fassung eines Vortrags beim 9. Wehrmedizinhistorischen Symposiums der Gesellschaft für Geschichte der Wehrmedizin e. V. in Zusammenarbeit mit der Sanitätsakademie der Bundeswehr und dem Arbeitskreis Geschichte und Ethik der Wehrmedizin der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. am 17.11.2017. Vgl. auch schriftliche Fassung des Vortrags: HARTMANN (2017): Volker Hartmann, Neuro-Enhancement am Beispiel von Pervitin in der Wehrmacht. In: Militärpsychiatrie im Spiegel der Geschichte, Referatebände – Band 9, Im Auftrag der Gesellschaft für Geschichte der Wehrmedizin e. V. , hrsg. von Ralf Vollmuth, Erhard Grunwald und André Müllerschön, Bonn 2019, S. 97–116.