Wehrmedizinische Monatsschrift

Suizide in der Bundeswehr im Zeitraum 2000–2009
vor dem Hintergrund steigender Einsatzbelastung (Vortrags-Abstract)

Luisa M. Schonharta

a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik II – Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie

 

Einleitung

Suizide und ihre Ursachen sind nicht nur in der zivilen Bevölkerung ein wichtiges Thema, um eine zielgerichtete Prävention betreiben zu können. Soldatinnen und Soldaten sind eine spezielle Patientengruppe, die besonderen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Ziel der nachfolgenden Arbeit war die ­retrospektive Untersuchung der Suizide in der Bundeswehr im Zeitraum 2000–2009 hinsichtlich des Einflusses der Auslandseinsätze, die an Intensität zugenommen hatten.

Methoden

Im Rahmen einer retrospektiven Studie wurden alle Suizide im Zeitraum 2000–2009 (n=305) anhand archivierter Akten des Instituts für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen der Bundeswehr in Andernach betrachtet. Dieses Institut bestand als eigenständige Einrichtung bis 2017; es wurde dann als Abteilung in das neu aufgestellte Institut für Präventivmedizin der Bundeswehr integriert. Insgesamt wurden 72 Items zu für Suizid bekannten Risikofaktoren untersucht. Der Schwerpunkt lag hier auf der Untersuchung der Anzahl und Dauer der Auslandseinsätze sowie der Identifikation von besonders belastenden Ereignissen und Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Ziel war es, eine Aussage treffen zu können, ob die Soldatinnen und Soldaten, die sich suizidierten, öfter und länger oder in psychisch besonders belastenden Einsätzen gewesen waren als andere. Vor dem Hintergrund der Zunahme von Frequenz und Dauer von Auslandseinsätzen der Bundeswehr im gleichen Zeitraum wurde der Datensatz zur besseren Vergleichbarkeit und zur Feststellung möglicher Veränderungen im Verlauf in der zeitlichen Mitte geteilt. Gruppe 1 umfasste alle Fälle von 2000 bis 2004 (n = 194) und Gruppe 2 alle Fälle von 2005 bis 2009 (n = 111). Im Zeitraum der Gruppe 2 wurden die potenziell belastenden Einsätze für deutsche Soldatinnen und Soldaten häufiger, jedoch gleichzeitig sank die Zahl der Grundwehrdienstleistenden, bis die Wehrpflicht 2010 vollständig abgeschafft wurde.

Ergebnisse

Grundlage war der Datensatz, der 305 Fälle von Suiziden von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Zeitraum 2000 bis 2009 umfasste. Davon waren 302 Männer (99%) und drei Frauen (1%). Über den gesamten Datensatz ist der Anteil an Soldaten der Dienstgradgruppen Mannschaften 42,3% (129 Fälle) sowie Unteroffiziere 34,4% (105 Fälle) am häufigsten vertreten. Das durchschnittliche Alter lag bei 28Jahren, der Median bei 25Jahren. Die meisten Selbsttötungen wurden innerhalb der ersten sechs Dienstjahre durchgeführt (62%).

Die häufigste gewählte Suizidmethode war bei 34,4% (105 aus 305) das Erhängen. Das Erschießen wurde in 27,2% (83 aus 305) der Fälle zur Selbsttötung gewählt und der Sturz aus großer Höhe in 11,1% (34 aus 305) der Fälle war die dritthäufigste Methode. In 5,6% (17 aus 305) der Fälle war es zu einem vorangegangen Suizidversuch gekommen. Die Mehrheit suizidierte sich ohne vorangegangen Suizidversuch.

Abb. 1: Vergleich der Suizidziffern bei militärischem Personal mit und ohne Auslandseinsatz in den Gruppen 1 (2000–2004) und 2 (2005–2009)

Obwohl die Auslandsbelastung in Dauer und Frequenz, sowie belastende Ereignisse wie Verwundung und Tod von Kameraden im Zeitraum kontinuierlich zunahmen, sank die Suizidrate unter den Soldaten. In Gruppe 1 wurden anteilmäßig 63,6% der Suizide verübt, in Gruppe 2 36,4%. Auch die Suizidziffern, definiert als Suizide pro 100000 Teile einer Vergleichsgruppe – hier alle Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr – belegen dies. In der ersten Hälfte des Jahrzehntes belief sie sich auf 13,32, um in der zweiten Hälfte trotz steigender Anzahl an Auslandseinsätzen auf 8,88 zu sinken. Zur Berechnung der Suizidziffer wurden die vom Bundesamt für Statistik zur Verfügung gestellten Personalstärken der Bundeswehr in den jeweiligen Jahren herangezogen [2].

Insgesamt befanden sich 25,2% (77) im Auslandseinsatz. Der größte Teil mit 74,8% (228) war nie im Ausland eingesetzt. Im Vergleich der beiden Gruppen ist festzustellen, dass Angehörige der Gruppe 1 in 41 aus 194 Fällen (21,1%) im Auslandseinsatz verwendet worden waren. In Gruppe 2 waren 36 aus 111 (32,4%) Soldaten im Einsatz gewesen. Obwohl in die Gruppe 1 in absoluten Zahlen sowie auf die entsprechend aktuelle Stärke der Bundeswehr bezogen mehr Suizide fielen als in die Gruppe 2, befanden sich diese Soldaten signifikant (p=0.021) häufiger im Auslandseinsatz.

Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen Anzahl der Missionen (p=0,052) und Einsatztagen (p=0,064). 16,4% (50 aus 305) aus dem gesamten Datensatz waren in nur einer Mission und 8,5% (26 aus 305) waren in mehr als einem Auslandseinsatz eingesetzt. Die Anzahl der geleisteten Einsatztage lag im Mittel in Gruppe 1 bei 164 Tagen und in Gruppe 2 bei 183 Tagen. Das Intervall vom letzten Tag des Einsatzes bis zum Suizid unterschied sich zwischen Gruppe 1 (Mittelwert: 67 Tage, Median: 150 Tage) und Gruppe 2 (Mittelwert: 827 Tage, Median: 533 Tage). Die Suizidierten der Gruppe 2 hatten im Mittel einen signifikant längeren Zeitraum zwischen dem letzten Einsatz und dem Suizid als die der Gruppe 1 (p=0.029).

Weitere erfasste mögliche Konfliktthemen waren:

Eine PTBS lag gesichert in 4 Fällen vor (1,3%).

Vor dem Suizid hatten 17,4% (53 aus 305) Kontakt zu einem Facharzt der Psychiatrie. Knapp die Hälfte aller Soldaten hatte innerhalb der zwei Monate vor dem Suizid Kontakt zu ihrem Truppenarzt. Führend waren hier somatische Symptome. Nur 31 Soldaten aus 305 (10,2%) stellten sich überhaupt mit psychiatrischen Symptomen vor, davon die meisten mit 83,9% (26 Fälle von 31) innerhalb von zwei Monaten vor dem Suizid.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass trotz der steigenden Einsatzbelastung die Suizidziffer in dem Datensatz der ersten Hälfte des Erhebungszeitraumes höher lag als in der zweiten. Das Suizidprofil der Fälle umfasste zum größten Teil junge, männliche und alleinstehende Soldaten, die weniger als sechs Jahre Dienst geleistet hatten und nicht im Auslandseinsatz gewesen waren. Sie standen unter dem Einfluss von persönlichen Stressfaktoren, wie Konflikten im privaten oder dienstlichen Umfeld, psychiatrischen Grunderkrankungen oder kürzlicher Trennung von einem/r Partner/in.

Eine deutliche wehrmedizinische Implikation bringt der Fakt mit sich, dass truppenärztliche Kontakte im engen zeitlichen Zusammenhang häufig waren, allerdings dabei selten psychiatrische Symptome im Vordergrund standen.

Diskussion

Die Auswertung der Suizide von Soldatinnen und Soldaten in den Jahren 2000–2009 ergab keinen Anhalt dafür, dass die Auslandseinsätze Ursache oder Auslöser für die Selbsttötung waren. Es ist davon auszugehen, dass andere Risikofaktoren für einen Suizid unter der Gruppe der jungen Männer mindestens eine genauso große Rolle spielen wie unter den zivilen Personen. Vielmehr lag die Suizidziffer für die Altersgruppen und das männliche Geschlecht deutlich unter der Suizidziffer von vergleichbaren Gruppen ziviler Personen [3], wie Abbildung 2 zeigt.

Abb. 2: Vergleich der Suizidziffern im zivilen Bereich gesamt (blaue Säule) und in der männlichen Bevölkerung (Alter 20–69 Jahre, graue Säule) im Vergleich zum militärischem Personal der Bundeswehr (rote Linie)

Aus den ausgewerteten Daten der Suizide innerhalb der Bundeswehr im Zeitraum 2010–2014 ist festzustellen, dass die Anzahl der Suizide leicht steigt. Hier wird eine durchschnittliche Suizidziffer von 10,2 erreicht. Ein Zusammenhang mit der Verwendung im Auslandseinsatz zeigt sich hier ebenfalls nicht, sondern im Fokus stehen die persönlichen Faktoren und vor allem die psychiatrischen Vorerkrankungen [1]. Die Suizidziffer innerhalb der Bundeswehr mag zwar geringer sein als in der zivilen Bevölkerung, dennoch müssen weitere Untersuchungen zeigen, ob diese Entwicklung stabil bleibt. Zur genaueren Betrachtung sollten hier auch die Daten einer Vergleichsgruppe von Bundeswehrangehörigen herangezogen werden, die im gleichen Zeitraum im Auslandseinsatz waren. Bisher fehlen ebenfalls Daten von ehemaligen Soldaten, die nach Austritt aus der Bundeswehr Suizid begingen. Darüber hinaus muss auch in der Bundeswehr an Suizidpräventionssystemen und sozialen Auffangnetzen gearbeitet werden, um Kameradinnen und Kameraden mit psychischen Erkrankungen im akuten Fall der Selbstgefährdung besser schützen zu können.

Literatur

  1. Helms C: Die Assoziation der Suizide und Suizidversuche von Soldaten der Deutschen Bundeswehr 2010-2014 mit psychosozialen Risiko- und Schutzfaktoren. Dissertation an der Charité Berlin 2017, , letzter Aufruf 29. September 2019. mehr lesen
  2. Statistisches Bundesamt: Personalbestand der Bundeswehr. , letzter Aufruf 1. Oktober 2021. mehr lesen
  3. Statistisches Bundesamt. Suizidziffern Deutschland ab 1998. , letzter Aufruf 1. Oktober 2021. mehr lesen

Manuskriptdaten

Zitierweise

Schonhart LM: Suizide in der Bundeswehr im Zeitraum 2000–2009 vor dem Hintergrund steigender Einsatzbelastung (Vortrags-Abstract). WMM 2021; 65(11): S17-S19.

Verfasserin

Stabsarzt Luisa M. Schonhart

Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Klinik II – Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie

Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm

E-Mail: luisaschonhart@bundeswehr.org

Vortrag beim Wettbewerb um den Heinz-Gerngroß-Förderpreis der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. am 15. Oktober 2021 in Koblenz