Wehrmedizinische Monatsschrift

AMBULANTES REHA-MANAGEMENT

Medizinisch-dienstlich orientierte Rehabilitation in Reha-Schwerpunkten – ein neuer Ansatz in den Regionalen Sanitätseinrichtungen der Bundeswehr (Vortrags-Abstract)

Andreas Diericha

a Sanitätsunterstützungszentrum Neubrandenburg

 

Bio-psychosoziales Krankheitsmodell und ­funktionale Gesundheit

Bio-psychosoziales Krankheitsmodell

Das Bio-psychosoziale Krankheitsmodell versteht Krankheit als das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren auf ihre Körperfunktionen und -strukturen, ihre Aktivitäten und ihre Teilhabe an Lebensbereichen. Als Kontextfaktoren werden dabei Umweltfaktoren und Personbezogene Faktoren definiert. Bei dieser Betrachtungsweise können sich neue Perspektiven und Optionen für ergänzende bzw. erweiterte Interventionen bei der Bewältigung von Gesundheitsproblemen ergeben, insbesondere bei deren nachteiligen Auswirkungen auf die uneingeschränkte Teilhabe.

Internationale Klassifikation für funktionale Gesundheit (ICF)

Das Bio-psychosoziale Krankheitsmodell bildet gleichzeitig die Grundlage für die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [6]. Die ICF ist untergliedert in die beiden Teile „Funktionsfähigkeit und Behinderung“ (mit den Komponenten „Körperfunktionen und -strukturen“ und „Aktivitäten und Partizipation“) sowie den Teil „Kontextfaktoren“ (mit den Komponenten „Umweltfaktoren“ und „Personbezogene Faktoren“). Die Komponenten sind im Sinne eines „Baum-Ast-Zweig“-Systems in Kapitel bis hin zu einzelnen Items untergliedert (Ausnahme „Personbezogene Faktoren“). Insgesamt gibt es in der ICF 1 454 Items, die je nach Fragestellung und Anwendungsgebiet in sogenannten „Core-Sets“ mit einer entsprechenden Auswahl im Rehabilitationsprozess zum Einsatz kommen können [1]. Das ICF-Core-Set „Berufliche Rehabilitation“ umfasst 90 Items, ist krankheitsübergreifend und ermöglicht eine systematische Fallstrukturierung mit Fokus auf eine berufsbezogene Funktionsfähigkeit.

Abb. 1: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF (aus [1])

Phasenmodell „Ambulanter ­Rehabilitationsprozess“

In einem systematischen Rehabilitationsprozess ist es zunächst erforderlich festzulegen, wer zu welchem Zeitpunkt welche Maßnahmen veranlassen bzw. durchführen muss. Hieraus lassen sich dann die erforderlichen Fähigkeiten und Ressourcen für eine strukturierte Umsetzung in einem System ableiten (Ressourcenallokation) [2]. In einem idealtypischen Phasenmodell für einen ambulanten Rehabilitationsprozess im Sanitätsdienst werden die Phasen „Bedarfserkennung“, „Bedarfsermittlung“, „Festlegung REHA-Plan mit REHA-Maßnahmen“, „Verordnung/Koordination REHA-Maßnahmen“, „Durchführung REHA-Maßnahmen“, „REHA-Sicherung/Nachsorge“ und „REHA-Abschluss“ beschrieben und verschiedenen Leistungserbringern in der sanitätsdienstlichen Versorgung zugeordnet (Abbildung 2). Im Folgenden werden vor allem die ersten 3 Phasen ausführlicher betrachtet, da diese zu konzeptionellen und fachlich-organisatorisch neuen Verfahren führen.

Abb. 2: Idealtypisches Modell für die ambulante REHA (ohne Anschlussheilbehandlung (AHB)) mit den jeweiligen Leistungserbringern (utV = unentgeltliche truppenärztliche Versorgung; TA = Truppenarzt)

Erkennen eines möglichen REHA-Bedarfs ­(REHA-Bedarfserkennung)

In einem idealtypischen ambulanten Rehabilitationsprozess obliegt es vor allem den Allgemeinmedizinern bzw. Truppenärzten in den Sanitätsversorgungszentren (SanVersZ) bei Patienten zu erkennen, ob möglicherweise ein Bedarf für rehabilitative Maßnahmen vorliegt. Dabei spielen vor allem Faktoren wie Krankheitsdauer, Komplexität der zu Grunde liegenden Erkrankungen und/oder individuelle, zusätzlich auftretende Belastungsfaktoren eine wesentliche Rolle. Hierzu wurde u. a. auf der Grundlage der „REHA-Prozess: Gemeinsame Empfehlung“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR), Nationalen Versorgungsleitlinien, der Dt. Rentenversicherung, der „REHA-Richtlinie“ des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) [5] sowie unter Berücksichtigung bundeswehrspezifischer Aspekte eine Checkliste „REHA-Bedarfserkennung“ für die Anwendung auf der Ebene SanVersZ entwickelt. Letztlich werden dort 4 Haupt- und 8 Unterkriterien angeboten, die es den Allgemeinmedizinern bzw. den Truppenärzten erlauben, einen möglichen Bedarf für Rehabilitation festzustellen, wobei neben einem positiven Checklistenergebnis stets eine ganzheitliche Bewertung erforderlich ist. Die Checkliste steht in der E-Paper-Version des Beitrags zum Download zur Verfügung.

Multiprofessionelles Assessment und interprofessionelle Fallkonferenz im Facharztzentrum

Sofern truppenärztlicherseits ein möglicher REHA-Bedarf erkannt wurde, ist eine Vorstellung in einem Facharztzentrum (FachArztZ) zur Durchführung eines multiprofessionellen Assessments einschließlich einer interprofessionellen Fallkonferenz erforderlich. Durch das Etablieren einer Fachärztlichen Untersuchungsstelle (FUSt) Rehabilitation, einer Teileinheit (TE) „Klinische Psychologie“ sowie dem Aufwuchs in der TE „Physiotherapie“ konnte zusammen mit weiteren Fachgebieten und unter Einbindung des Sozialdienstes im FachArztZ Rostock ein interprofessionelles REHA-Team gebildet werden, wobei aufgrund der sich überschneidenden Zuständigkeitsbereiche der lokale Sozialdienst in Rostock im Sinne eines „Leitsozialdienstes“ eingebunden wird.

Dem multiprofessionellen Assessment liegt im Sinne einer Struktur- und Prozessqualität ein definiertes Prozessmodell zu Grunde, so dass stets der gleiche, systematische und strukturierte Ablauf für jeden Patienten gewährleistet werden kann. Das Assessment selbst gliedert sich in 5 Prozessschritte:

Im „Basisassessment“ werden zunächst anthropometrische Daten (Größe, Gewicht, Taillenumfang), klinische Basisparameter (Labor, Blutdruck, Herzfrequenz) erhoben, sowie relevante Parameter (waist-to-height-ratio (WtHR), BMI) berechnet. Ebenso bearbeitet der Patient mehrere Fragebögen, u. a. Work Rehabilitation Questionnaire (WORQ) [3][4], Ergänzende Anamnesefragen, Short Form 36 (SF-36) gesundheitsbezogene Lebensqualität, ZUF-8 Patientenzufriedenheit. Im Ergebnis kann daraus ein Funktionsfähigkeitsprofil in der Systematik des ICF Core-Set „Berufliche Rehabilitation“ als Selbstauskunft des Patienten abgeleitet werden, welches im Sinne der ICF erste wertwolle Hinweise auf vorliegende Probleme nicht nur bei Körperfunktionen, sondern vor allem im Bereich relevanter Umweltfaktoren sowie der Aktivitäten und Teilhabe gibt. Durch die wiederholte Erstellung von Funktionsfähigkeitsprofilen bei jeder weiteren Vorstellung im FachArztZ kann somit der Verlauf und die Entwicklung von Problemen über die Zeitachse verfolgt werden. Gleichzeitig ermöglicht das Funktionsfähigkeitsprofil eine einheitliche und systematische Fallstrukturierung im Sinne der ICF.

Das „Multiprofessionelle Assessment“ startet zunächst mit der an der ICF orientierten Anamnese durch einen Rehabilitationsmediziner und beinhaltet neben einer allgemeinen Anamnese und körperlichen Untersuchung auch die Reflexion auf das Funktionsfähigkeitsprofil und fokussiert auf die dort signalisierten Probleme. Dieses ermöglicht einerseits ein gezieltes Nachfragen, andererseits ergeben sich möglicherweise Hinweise auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen. Im Weiteren erfolgt standardmäßig ein professionsbezogenes Assessment durch den klinischen Psychologen, den Orthopäden und den Physiotherapeuten in ihren jeweiligen Fachgebieten.

In der sich daran anschließenden „interprofessionellen Fallkonferenz“ – zunächst ohne Patient – werden die gesammelten Ergebnisse zusammengetragen, diskutiert und insbesondere mit Blick auf Wechselbeziehungen, Abhängigkeiten und ggf. auch Widersprüchlichkeiten diskutiert. Dabei entwickelt sich ein erstes ganzheitliches Bild über den jeweiligen Patienten, und es ergeben sich erste Priorisierungen. Auch abweichende Beurteilungen durch das REHA-Team, bezogen auf vom Patienten angegebene Gewichtungen von Problemen, werden diskutiert.

Im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung wird im zweiten Teil der Fallkonferenz der Patient aktiv miteinbezogen. Die Ergebnisse des Assessments werden vorgestellt, ggf. abweichende Einschätzungen und die beabsichtigten priorisierten Maßnahmen werden besprochen. Ziel ist es hierbei, dass der Patient die Ergebnisse, Maßnahmen und Priorisierungen versteht und somit mitträgt, aber auch eigene Sichtweisen und Priorisierungen mit einfließen lassen kann.

Abb. 3: Workflow „Multiprofessionelles Assessment und interprofessionelle Fallkonferenz im Facharztzentrum“

Anschließend werden der REHA-Plan sowie der REHA-Arztbrief nach einer festgelegten Systematik und Struktur durch das REHA-Team erstellt. Dabei wird, wo immer möglich, bei Teilhabestörungen, REHA-Maßnahmen und Diagnosen der Bezug zu den Items der ICF hergestellt. Letztlich erhält der Truppenarzt ein umfassendes Assessmentergebnis des komplexen Fallgeschehens mit einem priorisierten und fachgebietsübergreifenden Maßnahmenplan. Gleichzeitig wird mit dem Abschluss des Assessments ein Wiedervorstellungstermin vereinbart.

Zusammenfassung

Basierend auf der Systematik der ICF wurde ein strukturierter Rehabilitationsprozess für die ambulante medizinische Versorgung in den SanVersZ in Zusammenarbeit mit einem regionalen FachArztZ entwickelt. Wesentliche Elemente sind hierbei die Reha-Bedarfserkennung auf der Ebene der SanVersZ und ein sich anschließendes multiprofessionelles Assessment mit interprofessioneller Fallkonferenz und Erarbeitung eines systematischen Reha-Arztbriefs mit einem Reha-Plan auf der Grundlage eines strukturierten Prozessmodells. Dabei dient das ICF-Core-Set „Berufliche Rehabilitation“, auf dessen Grundlage Funktionsfähigkeitsprofile zur systematischen Fallstrukturierung abgeleitet werden, als gemeinsame Sprache aller am Rehabilitationsprozess beteiligten Professionen.

Literatur

  1. Bickenbach J (Hrsg): Die ICF Core Sets. Manual für die klinische Anwendung, 1. Aufl. Programmbereich Gesundheit. Bern, Huber 2012.
  2. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation: Reha-Prozess. Gemeinsame Empfehlung. BAR 2019, , letzter Aufruf 7. November 2021. mehr lesen
  3. Finger ME, Escorpizo R, Bostan C, de Bie R: Work Rehabilitation Questionnaire (WORQ): Development and Preliminary Psychometric Evidence of an ICF-based Questionnaire for Vocational Rehabilitation. J Occup Rehabil 2014; 24: 498–510. mehr lesen
  4. Finger ME, Escorpizo R, Tennant A: Measuring Work-Related Functioning Using the Work Rehabilitation Questionnaire (WORQ). Int J Environ Res Public Health 2019: 16(15):2795. mehr lesen
  5. Gemeinsamer Bundesausschuss:Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation - Rehabilitations-Richtlinie. G-BA 2019; , letzter Aufruf 7. November 2021. mehr lesen
  6. WHO: International Classification of Functioning Disability and Health (ICF). Geneva, World Health Organization 2001. mehr lesen

 

Verfasser

Flottenarzt Dr. Andreas Dierich

Sanitätsunterstützungszentrum Neubrandenburg

E-Mail: andreasdierich@bundeswehr.org

Vortrag beim 52. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. am 14. Oktober 2021 in Koblenz