Wehrmedizinische Monatsschrift

FROM „SIMPLE“ TO „CHAOTIC“

Eine Krisenbilanz des Jahrhundertereignisses COVID-19
(Vortrags-Abstract)

Katalyn Roßmanna

a Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, Referat VI-2, München

 

Einleitung

Die Bundeswehr ist inmitten der Pandemie mit tausenden Soldaten – davon ein großer Teil aus dem Sanitätsdienst – seit weit mehr als einem Jahr in der Corona-Amtshilfe in zahlreichen Aufgabenbereichen eingesetzt. Als Innovation in der Krise hat hierbei das Referat VI 2 (Medical Intelligence) des Kommandos Sanitätsdienst der Bundeswehr (Kdo SanDstBw VI-2) bereits im Frühjahr 2020 das Training von Laien zur Kontaktnachverfolgung eingeführt, die anschließend in zahlreichen zivilen Gesundheits­ämtern eingesetzt wurden. Von Beginn der Krise an wurden neue Produkte zur Risikokommunikation entwickelt, neue Informationstechnologien angewandt und neue Prozesse, wie z. B. die Evaluation des Ausbruchsmanagements in zivilen Landrats- und Gesundheitsämtern, durch Pandemie-Experten der Bundeswehr aus dem Referat VI-2 entwickelt sowie neue Kooperationen angebahnt. Was ist nun als unsere Lernkurve zu verzeichnen – gesellschaftlich und fachlich im Allgemeinen sowie in der zivilmilitärischen Zusammenarbeit im Besonderen?

Geprägt von über einem Jahr in der Amtshilfe – mit ­Erfahrungen zur Risikokommunikation, zum Change ­Management in bayerischen und thüringischen Landrats- sowie Gesundheitsämtern, zur Umsetzung von seit Jahrzehnten, v. a. in „Entwicklungsländern“, bewährten WHO-Strategien in Deutschland und zur Digitalisierung in der Pandemie bis hin zur Etablierung von Frühwarnsystemen mittels SARS-CoV-2-Abwassermonitoring – werden Erkenntnisse und Modelle erläutert und zum Diskurs gestellt.

COVID-19 – Deutschland zwischen Innovation und Blockade

Im „Ingenieur- und Bürokratenland Deutschland“ stehen wir uns nach Presseberichten oft selbst im Weg: „…überbürokratisiert, unflexibel, penibel, satt, selbstgefällig und rückständig“. Im „Land der verschenkten Möglichkeiten“ leiden wir demnach an den Todsünden „…Engstirnigkeit, Überheblichkeit, Subventionitis, Bildungsmisere und der Angst vor der eigenen Courage“ (DER SPIEGEL Nr. 39/2021 [2]).

Im sogenannten „Grünbuch Spezial – Perspektiven aus der Corona-Krise“ wurde Ende August 2021 durch das Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit ein erster Lessons learned-Bericht veröffentlicht, der im Wesentlichen nachstehende Problemfelder identifiziert:

  1. Digitalisierung
  2. Interdisziplinäre Lageführung
  3. Entbürokratisierung in der Krise
  4. Vertrauensbildung durch Risikokommunikation
  5. Ressourcenbündelung.

Was sind nun unsere Erfahrungen zu diesen Kernelementen?

Fluch und Segen der Bürokratie

Bürokratie ist eines der effektivsten aller Organisationssysteme. Allerdings lässt sie Innovationsvermögen und systemische Lernfähigkeit oder auch ressortübergreifende Zusammenarbeit vermissen (Weber, 1922 [6]). Ist nun die Verwaltung des öffentlichen Gesundheitswesens adäquat ausgerüstet, um pandemische Krisen zu bewältigen? Müssen wir die Strategie ändern?

Um diese Fragen im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Bürokratie als Organisationssystem zu beantworten, ist das Cynefin-Framework (Snowden, 1999 [4][5]; Kurtz and Snowden 2003 [3] – siehe Abbildung 1) durchaus hilfreich. Dieses Wissensmanagement-Modell wird für gewöhnlich verwendet, um Entscheidungsprozesse zu unterstützen und liefert Kategorien, die aktuell auch sehr gut auf die Corona-Krise übertragen werden können. Ist die Situation oder der Kontext „Stabil“ („Simple“) – im Sinne von solide, stetig oder ruhig – so lässt sich der höchste Standard („Best Practice“) erreichen und die Bürokratie funktioniert bestens.

Wird die Lage hingegen kompliziert („Complicated“) – was durch das Vorhandensein von Problemen, die aber lösbar sind, charakterisiert ist – funktioniert Bürokratie noch immer, wenngleich der Standard aber etwas reduziert wird („Good Practice“). Dies erscheint im Großen und Ganzen noch als akzeptabel.

Ändert sich allerdings die Situation zu „Komplex“ („Complex“) – was dadurch charakterisiert ist, dass die Probleme nicht mehr leicht lösbar sind – so ist die Reaktion situativ („Emergent“) anzupassen. Hier kommen bürokratische Strukturen bereits an ihre Grenzen.

Wird die Lage nun gar chaotisch („Chaotic“) – definiert durch die Unkenntnis, wo genau welche Probleme wann und wie auftreten – dann muss völlig neuartig, schnell und zudem auch noch innovativ reagiert werden („Novel“). Dies überfordert erfahrungsgemäß Organisationsstrukturen, die nach bürokratischen Grundsätzen arbeiten.

Abb. 1: Cynefin-Framework nach Kurtz, Snowden (Abbildung in ­Anlehnung an [3])

So sehr die rechte, stabile Seite (in der obigen Abbildung) unseren sicherheits-/politischen sowie gesellschaftlichen und auch gesundheitspolitischen Kontext seit Jahrzehnten im Wesentlichen bestimmt und ausgemacht hat – und unsere etablierte Bürokratie bedarfsgerecht funktionierte – so ist im pandemischen, aus der Routine gebrachten Kontext (auf der linken Seite des Modells in Abbildung 1) die Notwendigkeit der Unterstützung bürokratisch geprägter Verfahren durch Krisen- und Streitkräfte gut erklärbar.

Routine reicht nicht aus

Solange also Probleme mit herkömmlichen Verfahren lösbar sind, ist die in Deutschland etablierte Bürokratie bestens oder zumindest gut geeignet. Verschlechtert sich allerdings die Lage, muss ein alternatives Krisenmanagement ausgelöst werden. Und dieses beschränkt sich mitnichten nur auf Organisationsstrukturen, sondern beinhaltet gleichermaßen Prozessoptimierung, Anpassung des für die Krise notwendigen Wissensmanagements und auch die hierfür erforderliche Technologie. Diese zuletzt genannten Aspekte sind auch vier Dimensionen der Digitalisierung im weiteren Sinne oder digitaler Transformation (Benner, 2021 [1]). Müssen diese Aspekte in der Krise vielleicht neu gedacht und entwickelt werden? Ist die agile Natur von Prozessen in der Digitalisierung vielleicht naturgemäß ein Teil der Lösung unserer Krise?

Lessons learned nach Ebola

Im Rahmen des Lessons learned-Prozesses nach der Ebola-Krise in Westafrika 2014–2016 wurde durch KdoSanDstBw VI-2 federführend ein modularer Ansatz entwickelt, der in der aktuellen Corona-Pandemie zum Tragen kam:

  1. Führung: Command/Control/Communication (C3) (digitales Lagezentrum)
  2. Evaluation, Research and Development (R&D)
  3. Epidemiologie (Investigation, Surveillance, Prädik­tion) unter Einbeziehung von Abwassermonitoring
  4. Patientenbehandlung (ambulant, prä-/klinisch, daheim, Einrichtungen)
  5. Laboranalysen/Testen/Genomsequenzierung
  6. Risiko-/Krisen- und Chancen-Kommunikation
  7. Vollzug
  8. Gesundheitsförderung (v. a. Bewegung, Ernährung, Suchtprävention, Stressbewältigung)
  9. Impfen

Ausgehend von diesen Modulen wurden diverse Informationsangebote und Produkte aus dem Bereich Medical Intelligence & Information (MI2) im Laufe der letzten eineinhalb Jahre weiter- oder zum Teil auch ganz neu entwickelt. Abbildung 2 gibt hierzu einen Überblick.

Abb. 2: „MI2“-Produktentwicklung“ im Rahmen der Corona-Pandemie seit Ende 2019

Maßgeblich für die Bereitstellung dieses Angebots waren dabei immer die konkreten Anforderungen des jeweiligen Bedarfsträgers. So wurde beispielsweise in keinem der durch Kdo SanDstBw VI-2 beratenen Landrats- bzw. Gesundheitsämter eine digitale Lageführung vorgefunden. Je nach Bedarf, Verfügbarkeit von Ressourcen und auch Interesse der jeweiligen zivilen Einrichtungen wurde deshalb die Implementierung von sog. Dashboards („Armaturenbrett“ zur Visualisierung von Daten) anhand der o.g. Module angeboten und auch deren praktische Entwicklung bzw. Umsetzung unterstützt.

Frühwarnsystem Abwassermonitoring

Ein besonderes Beispiel aus der Epidemiologie und Surveillance – das auch von Beginn an digitalisiert wurde – ist das Frühwarnsystem Abwassermonitoring.

Im Landkreis Berchtesgadener Land (BGL) wurde dazu in Zusammenarbeit mit dem Landratsamt und allen Gemeinden des Landkreises seit Herbst 2020 Deutschlands erstes flächendeckendes Abwassermonitoring-System implementiert. Dies beinhaltete bereits den digitalen Datenimport aus Laboren und Kläranlagen und dient inzwischen als Pilotprojekt für eine ressortübergreifende Machbarkeitsanalyse der Bundesministerien für Gesundheit (BMG), Umwelt (BMU) und Bildung und Forschung (BMBF), sowie des Robert Koch-Institutes (RKI) und der Technischen Universität München (TUM) für die von der EU-Kommission empfohlene bundesweite Etablierung. Hierbei wurde u. a. Kdo SanDstBw VI-2 im Rahmen eines Amtshilfeersuchens als beratende Institution angefordert.

Auch innerhalb der Bundeswehr wurden erste Pilotierungen für dieses abwasserbasierte Frühwarnsystem durchgeführt, u. a. in zwei Grundausbildungseinheiten der Gebirgsjägertruppe sowie auch im Einsatz (Camp Castor in GAO/MALI). Wie ein weiterer Roll-Out für das „17. Bundesland“ (d. h. alle Bereiche in der Zuständigkeit der Bundeswehr) aussehen könnte, ist aktuell in Bearbeitung.

Resümee und Ausblick

Was ist nun zusammenfassend des Pudels Kern(problem)? Aus unserer auf Public Health bezogenen Perspektive würden wir den oben beschriebenen Ansatz v. a. für den zivilen Bereich folgendermaßen gliedern und daraus Empfehlungen ableiten:

  1. Taktisches Level: Ein enger funktioneller Dreiklang von Katastrophen-/Krisenmanagement (FüGK), Gesundheitsamt/Public Health (GesAmt/PH) und IT/Digitalisierung ist erforderlich.
  2. Verwaltung: Das Mindset einer etablierten Bürokratie und im Krisen-/Katastrophen-Management ist diametral unterschiedlich. Eine reine “Türschild umändern”-Metamorphose ist NICHT zielführend machbar!
  3. Strategisches Level: Ein harmonischer Dreiklang von Politik, Verwaltung und angewandter Forschung ist erforderlich, um die Kommunikation in die Gesellschaft zu verbessern
  4. Global Health Diplomacy: Standardisieren und Harmonisieren von Prozessen durch Bereitstellen von individuell anpassbaren Modulen allerdings unter gleichzeitiger Förderung dezentraler Experimente.
  5. Soziopolitische Ebene: Das Eintreten in eine Phase des Post-Individualismus, in der Schwarmintelligenz und ein “Wir”-Gefühl sowie das Übernehmen von Verantwortung wieder nötig sind!

    Vielleicht...

    ... schaffen wir all das auch im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit.

    Ganz bestimmt ...

    ... schaffen wir das – aber nur im Miteinander und Füreinander.

    Literatur

    1. Benner M: Die vier Dimensionen der Digitalen Transformation aus Sicht von Leasinggesellschaften. PWC 2021;
    2. Borcholte et al.: Das Land der verschenkten Möglichkeiten. DER SPIEGEL 2021; Nr. 39.
    3. Kurtz CF, Snowden DJ: The new dynamics of strategy: Sense-making in a complex and complicated world. IBM Systems Journal 2003, 42(3): 462–483.
    4. Snowden DJ: Cynefin, A Sense of Time and Place: an Ecological Approach to Sense Making and Learning in Formal and Informal Communities. Conference proceedings of KMAC at the University of Aston, July 2000.
    5. Snowden DJ: Cynefin: A sense of time and space, the social ecology of knowledge management. In Knowledge Horizons: The Present and the Promise of Knowledge Management (ed. C Despres & D Chauvel Butterworth Heinemann, October 2000).
    6. Weber M: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (in: Weber M, Grundriß der Soziologie. 1921/1922 - gemeinfrei).

Für das Team Kdo SanDst Bw VI 2

Oberstveterinär Dr. Katalyn Roßmann

Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr

Referat VI-2 – Medical Intelligence & Information (MI2)

E-Mail: katalynrossmann@bundeswehr.org

„Early Bird“-Vortrag beim 52. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. am 15. Oktober 2021 in Koblenz