Wehrmedizinische Monatsschrift

HILFE AUF DEM LUFTWEG

Innereuropäische Lufttransporte im Rahmen der
COVID-19-Pandemie – Optimierung auf Basis
einer wissenschaftsbasierten interdisziplinären Analyse 1

Stefan Sammito a, b, Janina Post b, c, Matthias T. Kohl c, Sven Marquardt d, Tillmann Molle, Dennis M. Ritterf, Oliver M. Erley a

a Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe, Fachgruppe I 3, Köln

b Bereich Arbeitsmedizin der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg

c Flugbereitschaft Bundesministerium der Verteidigung, Köln

d Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, Verwundetenleitstelle der Bundeswehr/ PECC, Koblenz

e European Air Transport Command, Eindhoven

f Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Klinik X – Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin

 

Einleitung

Im Dezember 2019 kam es erstmalig in Wuhan (Volksrepublik China) zum Auftreten einer neuartigen Lungenerkrankung, die sich als virusinduzierte interstitielle Pneumonie herausstellte. Ätiologisch konnte Anfang Januar durch chinesische Wissenschaftler ein neues Coronavirus identifiziert werden [1][3]. Das Virus wird mittels Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen [4]; die Erkrankung entwickelte sich relativ schnell im Januar 2020 in der Volksrepublik China zu einer Epidemie. Die mittlerweile nach der Definition durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) bezeichnete Erkrankung breitete sich darüber hinaus sehr rasch auch global aus. Am 11. März 2020 wurde die als COVID-19 bezeichnete Viruserkrankung von der WHO zur Pandemie erklärt.

Innerhalb Europas waren initial beginnend mit dem Monat Februar insbesondere Einwohner Italiens, Frankreichs und Spaniens von COVID-19 stark betroffen [2][5]. Hierdurch wurden die Kapazitäten der jeweiligen Gesundheitssysteme vor allem in Bezug auf intensivmedizinische Versorgungsmöglichkeiten besonders für beatmungspflichtige Patienten stark beansprucht und teilweise überlastet. Neben dem Transport von entsprechend schwer erkrankten Patienten auf nationaler Ebene in Krankenhäuser mit noch vorhandenen Beatmungsplätzen wurden Kranke auch über nationale Grenzen hinweg in entsprechende Kliniken verlegt.

Im Rahmen der humanitären Hilfeleistung der Bundesrepublik Deutschland außerhalb formaler NATO- oder EU-Verpflichtungen für die europäischen Partnernationen begann die Bundeswehr ab dem 28. März 2020, Patienten zur Entlastung der überfüllten lokalen Krankenhäuser aus den entsprechenden Gebieten in Krankenhäuser in Deutschland auszufliegen. Diese Hilfeleistung umfasste bis zum 3. April 2020 insgesamt 22 italienische und 2 französische Staatsbürger.

Da die Möglichkeit besteht, dass es im zeitlichen Verlauf zu weiteren entsprechenden Transporten von COVID-19-Erkrankten mittels luftgestütztem Patiententransport (Aeromedical Evacuation (AE)) kommen wird, wurde unter Federführung des Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe (ZentrLuRMedLw) bereits mit ­Beginn der Transporte zeitgleich eine wissenschaftsbasierte Analyse der medizinischen Patientendaten zur Optimierung der taktischen Einsatzplanung, der evidenzbasierten Einschätzung des medizinischen, materiellen und personellen Bedarfs und zur Identifizierung von Faktoren, welche mit der Prognose der Patientinnen bzw. Patienten nach entsprechender AE verbunden sind, umgesetzt. Die Analyse diente ebenfalls zur Identifizierung von erforderlichen Informationsminima vor einem Transport.

Die vorliegende Arbeit beschreibt den Prozess dieser wissenschaftsbasierten Leistungserbringung und zeigt erste vorläufige Ergebnisse auf Basis der bisher durchgeführten Transporte.

Methoden

Die vorliegende Analyse basiert auf der Dokumentation der verantwortlichen Sanitätsstabsoffiziere der Fachrichtung Anästhesie auf den Intensivtransport-Protokollen (entsprechend der Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin [DIVI] 2000, Version 1.1), welche für den Intensivtransport von Übernahme der Patienten vom nationalem Rettungsdienst am Abflugflughafen in Frankreich (Flughafen Straßburg) bzw. Italien (Flughafen Bergamo) bis zur Übergabe an den lokalen nationalen deutschen Rettungsdienst am jeweiligem Zielflughafen in Deutschland (Flughafen Hamburg, Köln/Bonn oder Stuttgart) genutzt wurden. Die Angaben auf den Intensivtransport-Protokollen wurden in eine Datenmaske (Statistiksoftware SPSS 24 für Microsoft Windows, SPSS Inc., IL, USA) übernommen und deskriptiv ausgewertet. Im Rahmen der Eingabe wurden die Angaben auf inhaltliche Plausibilität geprüft und – wo nötig – entsprechend der Angaben in Freitextfeldern bzw. im Rahmen der Dokumentation des Transportverlaufs (Abschnitt 5 des Intensivtransportprotokoll) korrigiert. Fehlende Angaben wurden, soweit möglich, durch direkte Nachfragen beim medizinischen Personal nachträglich erhoben. Zusätzlich zu den Intensivtransportprotokollen wurden die von den abgegebenen Nationen ausgefüllten „Patient Movement Request“ (PMR) für die Anforderung des Lufttransports sowie mitgegebene Verlegungsbriefe der abgegebenen Kliniken hinsichtlich weiterer ergänzender Angaben ausgewertet.

Im Zuge der Auswertung erfolgt jeweils nach Beendigung eines Transportfluges die Übersendung der Intensivtransportprotokolle durch den zuständigen Medical Director (MD) an das ZentrLuRMedLw, die zeitnahe anonymisierte Auswertung innerhalb von 24 h und die Übersendung einer aktualisierten anonymisierten Gesamtauswertung an die zuständigen mit dem Lufttransport beauftragten Stellen in der Bundeswehr sowie an die deutschen Fliegerärzte beim European Air Transport Command (EATC). Des Weiteren wurden durch die eingesetzten Intensivteams die im Rahmen des Lufttransports gemachten Erfahrungen mit dem ZentrLuRMedLw ausgetauscht und entsprechende Fragestellungen in die Auswertung eingebracht. Eine Übersicht über den Prozessablauf zur zeitnahen Erbringung dieser wissenschaftsbasierten, transdisziplinären Analyse im Sinne eines direkten „lessons learned /lessons identified“ zeigt Abbildung 1.

Abb. 1: Prozess der Datenauswertung sowie der zeitnahen Erstellung des entsprechenden Berichts und die Verteilung an die am Patientenlufttransport (AE) beteiligten Stellen

In der folgenden Analyse wurden die bisher durchgeführten Flüge vom 28. März bis 3. April 2020 mit dem Flugmustern Airbus A310 MRTT (22 italienische Staatsbürger) bzw. Airbus A400M (2 französische Staatsbürger) ausgewertet.

Ergänzend wurden die vom EATC dokumentierten Flugzeiten in die Analyse aufgenommen, um die Behandlungszeit und die Flugzeit differenziert zu betrachten. Hierbei definierte sich die Flugzeit (als „Transport-in -Air“-Time bezeichnet) als zeitliche Differenz zwischen Start und Landung. Sollte ein Patient nach einer Zwischenlandung noch einen weiteren Flug absolviert haben, so wurde die Summe der beiden zeitlichen Differenzen zwischen Start und Landung des 1. und 2. Fluges aufaddiert.

Die Behandlungszeit am Patienten (als „Transport“-Time bezeichnet) berechnet sich aus den jeweiligen Kurvenaufzeichnungen der Vitalparameter. Hierbei wurde die zeitliche Differenz zwischen erstem und letztem Eintrag ausgewertet. Eine Plausibilitätsprüfung erfolgte zu den vom EATC übersandten Flugzeiten. Als Parameter für das Verhältnis zwischen „Transport“-Time und der „Transport-in-Air“-Time, in der der Patient ggf. flugspezifischen Belastungen ausgesetzt war, wird der TAT-Index (Transport-in-Air/ Transport-Time-Index) berechnet.

Die vorliegende Analyse erfolgte im Rahmen des sollorganisatorischen Ressortforschungsauftrages des ­ZentrLuRMedLw. Für diese Studie wurden keine zusätzlichen medizinischen diagnostischen und/ oder therapeutischen Maßnahmen durchgeführt, sondern lediglich die medizinische Dokumentation retrospektiv anonymisiert ausgewertet. Der zuständige Datenschutzbeauftragte hat der Nutzung der medizinischen Daten in anonymisierter Form im Rahmen der wissenschaftlichen Auswertung zugestimmt. Ein formales Ethik-Votum ist nach Stellungnahme der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke Universität, Magdeburg in Anbetracht der rein retrospektiven Analyse nicht notwendig.

Ergebnisse

Im Rahmen des bisher durchgeführten AE von COVID-19 Erkrankten wurden insgesamt 18 Männer und 6 Frauen transportiert (Alter Median: 59,1 Jahre, Spannweite: 46,0 - 71,1 Jahre). Hierbei betrug die Transport-in-Air-Time im Median 1:07 h (Spannweite: 0:20 - 2:05 h) und die Behandlungszeit („Transport-Time“) im Median 2:50 h (Spannweite: 1:20 - 7:30 h). Der TAT-Index betrug 0,49 (Spannweite: 0,10 - 0,81). Vierzehn Patienten (58 %) wiesen dokumentierte Vorerkrankungen auf, wobei differenzierte medizinische Dokumentationen (beispielsweise Arztbriefe, Krankenhausverlegungsberichte, o. ä.) lediglich bei 16 der 24 Patienten (67 %) zur Verfügung standen.

Alle Patienten waren künstlich beatmet, wobei in fünf Fällen die Beatmung über Tracheostoma erfolgte (21 %). Bei 17 Patienten war der Beginn der initialen künstlichen Beatmung vom nationalen Rettungsdienst bzw. über das PMR oder im Verlegungsbericht mitübergeben worden, dieser lag im Median 9,5 Tage vor dem Transport (Spannweite: 3-28 Tage). 83 % der Patienten hatten einen zentralen Venenkatheter, 88 % einen arteriellen Zugang zur invasiven Blutdruckmessung.

Aufgrund der künstlichen Beatmung lag der Glasgow-Coma-Scale bei allen 24 Patienten bei 3. Bei 92 % der Patienten (n = 22) war die initiale Kreislaufsituation als stabil und bei 8 % (n = 2) als instabil zu bezeichnen. Acht Patienten waren unabhängig von ihrer Kreislaufsituation bei Übergabe katecholaminpflichtig (33 %). Alle Patienten waren druckkontrolliert beatmet (100 %, n = 24) und benötigten einen positiven endexspiratorischen Druck (PEEP) > 8 cm H2O (92 %, n = 22, im Median 14,0 cm H2O).

Diskussion

Die ausgewerteten AE-Flüge (28. März bis 3. April 2020) zeigen deskriptiv und im Rahmen einer ersten vorläufigen Analyse (medizinische) Daten der geflogenen Patienten . Aufgrund der bisher geringen Anzahl kann die Auswertung zum jetzigen Stand nur als vorläufig eingestuft werden. Im weiteren Verlauf des Forschungsauftrages wird angestrebt, den derzeitigen Datenbestand um weitere Erkenntnisse, z . B. aus der anschließenden stationären Behandlung der Patienten (soweit verfügbar), zu ergänzen.

Personalansatz

Bei den Patienten handelte es sich durchweg um intensivpflichtige, beatmete und schwerstkranke Individuen. Es waren zum Großteil Personen, die bereits länger an COVID-19 erkrankt und entsprechend intensivmedizinisch betreut waren. Dies zeigt sich u. a. daran, dass jeder fünfte Patient mit einem Tracheostoma versorgt war und dass die mediane Beatmungszeit seit Intubation im Durchschnitt bereits 9 Tage vor dem Transport betrug. Dies unterstreicht, dass die Vorgehensweise, jeweils zwei beatmungspflichtige Intensivpatienten von jeweils einem Intensivteam (bestehend aus einem Anästhesisten und einen Fachpfleger) zu betreuen, nicht unterschritten werden sollte.

Entsprechend ist die vorliegende Analyse bei einem stark selektierten Patientenkollektiv und den sehr spezifischen Rahmenbedingungen nicht auf alle anderen denkbaren AE-Einsätze zu übertragen. Sie ist jedoch besonders für die Gruppe der Kranken mit „Acute respiratory distress syndrome“ (ARDS) ein sehr wichtiges und wertvolles Studienkollektiv.

Transportzeit

Bei der Analyse der Transportzeit zeigt sich, dass die Übergabezeiten bei diesen hochkranken Patienten einen nicht unwesentlichen Anteil an der gesamten Behandlungszeit ausmacht. Der TAT-Index beträgt unter 0,50; das bedeutet, dass auf die Flugzeit weniger als 50 % der gesamten Behandlungszeit entfällt. Neben der Komplexität der Krankheitsbilder wird dies auch aufgrund der teilweise erschwerten Bedingungen in Italien und Frankreich durch das zum Zeitpunkt der Übernahme teilweise überlastete jeweilige nationale Gesundheitssystem verursacht. Ferner benötigt der Airbus A310-304 MRTT einen sog. „High-Loader“ (Hubbühne, normalerweise für Frachtumschlag genutzt) zum Be- und Entladen über die Main -Deck-Cargo-Door, was ein limitierender Faktor ist, da jeweils nur ein Patient zeitgleich be- bzw. entladen werden kann. Dies hat unmittelbaren Einfluss auf die Planung der AE-Einsätze, da neben der Berücksichtigung von eventuellen Ruhezeiten für die fliegerische und medizinische Crew (insbesondere bei längeren Einsätzen), dies auch direkten Einfluss auf die materielle Ausstattung mit Medikamenten und Sauerstoff nach sich zieht. Dies gilt es auch bei zukünftigen Einsatzplanungen zu beachten .

Dokumentationsqualität

Bei der Analyse der vorliegenden Intensivtransportprotokolle zeigte sich, dass die Dokumentationsqualität insbesondere hinsichtlich der Vollständigkeit der Angaben bzw. der Lesbarkeit dieser in Teilen verbesserungsbedürftig ist, was aber auch den Rahmenbedingungen der entsprechenden Übergaben geschuldet war. Für eine zielführende und aussagekräftige Analyse ist dies jedoch von erheblicher Bedeutung. Hier sollte zukunftsfähig die Ausstattung der entsprechenden AE-Flugzeugmuster mit digitalen IT-gestützten Dokumentationssystemen (z. B. auf Tablet-Basis) erfolgen, welche u. a. die von den Patientenmonitoren erfassten Vitalwerte digital und automatisch übernehmen und die genauere Dokumentation im Vergleich zu den aktuell genutzten Protokollen erlauben. Dies würde zugleich eine Reduzierung von administrativen Aufgaben für das Intensivteam bedeuten.

Fazit und Ausblick

Auch wenn in die jeweils erstellten und versandten Berichte als „ lebende Dokumente“ nicht immer vollständige Datensätze aller Patienten einfließen konnten und zum Teil noch Daten nicht vorlagen (z. B. weiterer Verlauf der Patienten im stationären Verlauf), bietet der beschriebene Prozess der zeitnahen Zurverfügungstellung der ­Analyse in Anlehnung an den OODA- Loop (observe – orient – decide – act) an alle mit dem Patientenlufttransport beteiligten medizinischen Stellen in der Bundeswehr bereits im „laufenden Gefecht“ Möglichkeiten zur Verbesserung der operativen Planung zwecks Personal- und Materialeinsatz und stellt für die noch kommenden Flüge kontinuierlich und zeitnah eine wissenschaftsbasierte Beratungsleistung zur Verfügung.

Literatur

  1. Coronaviridae Study Group of the International Committee on Taxonomy of Viruses: The species Severe acute respiratory syndrome-related coronavirus: classifying 2019-nCoV and naming it SARS-CoV-2. Nature microbiology 2020; 5: 536–544. mehr lesen
  2. Livingston E, Bucher K: Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) in Italy. JAMA 2020; 323(14): 1335 mehr lesen
  3. Phelan AL, Katz R, Gostin LO: The Novel Coronavirus Originating in Wuhan, China: Challenges for Global Health Governance. JAMA 2020; 323(8): 709-710. mehr lesen
  4. Wu Z, McGoogan JM: Characteristics of and Important Lessons From the Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) Outbreak in China: Summary of a Report of 72314 Cases From the Chinese Center for Disease Control and Prevention. JAMA 2020; 323(13): 1239-1242. mehr lesen
  5. Yuan J, Li M, Lv G, Lu ZK: Monitoring Transmissibility and Mortality of COVID-19 in Europe. International journal of infectious diseases : IJID : official publication of the International Society for Infectious Diseases 2020; 28. März 2020 (Epub ahead of print). mehr lesen

Manuskriptdaten

Zitierweise

Sammito S, Post J, Kohl M, Marquardt S, Moll T, Ritter D, Erley OM: Innereuropäische Lufttransporte im Rahmen der COVID-19-Pandemie – Optimierung auf Basis einer wissenschaftsbasierten interdisziplinären Analyse. WMM 2020; 64(S1): e13.

Für die Verfasser

Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Stefan Sammito

Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe

Flughafenstraße 1, 51147 Köln

E-Mail: stefansammito@bundeswehr.org

1 Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag nur die maskuline Form „Patient“ benutzt; gemeint sind aber immer alle Geschlechter.